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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

er war schon früher von anderer Seite ausgegangen, und zwar von feiner epischen Dichtung, sondern von einem Drama, dem Götz von Berlichingen des jungen Goethe. Doch war es Schriftstellern der Romantik vorbehalten, das von Goethe nur einmal und gelegentlich betretene Gebiet weiter zu kultiviren und auf seinem Boden ein selbstständiges Roman­geure zu schaffen. Ihre Abstammung von dem Goethe­schen und einer Reihe anderer Ritterdramen, wie von denen des Grafen Törring und Franz Maria Babos, haben die populären Ritterromane nie ver­leugnen fönnen: die dialogisirte Fassung bieler Szenen weist deutlich auf dramatische Vorbilder hin. In ihrer Sprache herrscht ein hohles Pathos und die bombastische Phrase vor. Die Gestalten, von denen manche, wie die engelreine, von ihrem rohen Gatten mißhandelte Schloßfrau und der biedere Wald­bruder, unverfennbar gleichfalls aus der Nitter­dramatik stammen, sind durchweg typisch. Allen diesen Ritterromanen wohnt eine platte, hanebackene Moral inne: hatte sich der Bösewicht in neunund­zwanzig Kapiteln in allen erdenklichen Lastern und Greuelthaten ausgetobt, so verfiel er im dreißigsten der fürchterlichen Strafe der rächenden Gottheit, und die gekränkte Unschuld wurde in feierlichem Aufzuge aus dem untersten Burgverließ ans Tageslicht ge­führt, um sich an der Leiche des Nuchlosen vor dem versammelten Romanpersonal und dem Leser in längerer, wohlmemorirter Rede zu verabschieden, die gemeiniglich eine Variante der schönen Schlußworte aus Don Juan war:

,, Lasterglück flieht schnell wie Rauch, Wie man lebt, so stirbt man auch!"

Die ersten Ritterromane suchten lediglich durch die grobstofflichen Reize der Handlung, durch eine Fülle erregender Begebenheiten und Abenteuer das Interesse des Lesers wach zu erhalten; wenn sie einer Tendenz Ausdruck verliehen, so war es nur das Streben, das Walten eines gerechten und aus­gleichenden Gottes darzuthun. In den späteren Romanen tritt dagegen mehr und mehr eine demo­fratisch- revolutionäre Tendenz unverkennbar hervor. Sie sind aus dem dumpfen, mühsam verhaltenen Groll des Volkes über die freche Günstlings- und Maitressenwirthschaft der Zeit, über die schamlose Ausbeutung und Aussaugung aller Volfskräfte her aus geschaffen, wie er in Schuberts Fürstengruft" und Schillers Kabale und Liebe" in flammenden Worten zu uns spricht. Manche von diesen Romanen sind trotz ihrer mittelalterlichen Einkleidung trene Spiegelbilder der sozialen Zustände in den deutschen Fürstenthümern aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. In ihnen suchte und fand das Volf, was es nicht offen auszusprechen wagen durfte seinen schneidenden Ingrimm über das unwürdige despotische Regiment, sein inständiges Sehnen und Hoffen auf bessere Zeiten, auf Freiheit und all­gemeine Menschenrechte.

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Noch unverkennbarer und krasser tritt eine revo­Intionäre Tendenz in einer größeren Anzahl der Räuberromane zu Tage, die von den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts an mit den Ritterromanen in ernstliche Konkurrenz um die Gunst des Publikums traten. Während freilich die letzteren in einer fernen Vergangenheit spielten, waren Ort und Zeit der Räuberromane zumeist der Gegenwart entnommen und dadurch der Kontrast zwischen dem lebermuth und der Frivolität der Fürsten und Adligen und den Leiden der unteren Klasse um so wirksamer herausgearbeitet. Wie für den Ritter­roman, so bildet auch für den Räuberroman den Ausgangspunkt ein Jugenddrama eines unserer Klassischen Autoren, nämlich Schillers Räuber, doch waren es wieder romantische Schriftsteller, die aus einer gelegentlichen Anregung heraus ein neues Spezialgenre des deutschen Nomans schufen. Mit den Schillerschen Räubern hat eine Reihe von Räuber­romanen in der Erfindung das gemein, daß ein edler und hochstrebender Geist durch harte Schicksals­schläge und Jutriguen aller Art aus seiner Laufbahn herausgerissen und in eine gewaltsame Kampfes stellung zur bürgerlichen Welt gedrängt wird. Bald. genug überwog freilich das Interesse an der bloßen Darstellung unglaublicher Abenteuer, ungeheuerlicher

Grausamkeiten und wunderbarer Rettungen jegliche Tendenz. Die späteren Räuberromane bilden nur eine Sette von allen möglichen plump aneinander­gereihten bluttriefenden Begebenheiten, die zumeist mit einem furchtbaren Strafgericht über den Wisse­mit einem furchtbaren Strafgericht über den Misse­thäter enden. Die größte Beliebtheit unter den Räuberrromanen dieser Epoche genoß der in vielen Auflagen verbreitete Vulpiussche Rinaldo Rinal­dini", der auch der heutigen Generation wenigstens noch dem Namen nach bekannt ist. In dem Vul­piusschen wie in den weitaus meisten anderen Räuber­romanen fommit auch die fade, thränenselige Senti­mentalität und Naturschwärmerei der Zeit reichlich zu Worte: neben der Darstellung graufiger Mordthaten stehen sentimentale Landschaftsschilderungen und brei­weiche Freundschafts-, Liebes- und Rührszenen.

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Auch für den Gespensterroman hat man nach einem Ausgangspunkt in der deutschen klassischen Dichtung gesucht und einen solchen mehrfach in den 1789 erschienenen Schillerschen Geisterseher" zu finden vermeint. Doch stammt bereits aus den 70er Jahren eine größere Anzahl von phantastischen Erzählungen, die ihre Vorwürfe dem Reiche des Gespenstischen, Ungeheuerlichen entnehmen; auch bieten die Verfasser von mehreren der früheren Ritter- und Räubergeschichten einen stattlichen Apparat von Geister­und Gespenstererscheinungen auf, zumal wenn es gilt, vor dem letzten Kapitel den Bösewicht durch die fürchterlichsten Hallucinationen und Visionen auf sein kommendes letztes Stündlein gehörig vorzu= bereiten. Die Gespensterromane halten sich nicht wie die beiden anderen genannten Romankategorien im Bereich einer bestimmten Gesellschaftsklasse, sondern entnehmen ihre Vorwürfe dem Leben aller Volfs= klassen und Stände; auch scheinen sie nicht an eine bestimmte Zeit gebunden.

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Während den Räuber- und namentlich den Rittergeschichten nur eine furze Blüthezeit beschieden namentlich erwies sich nach dem beispiel­losen Erfolg der Scottschen Romane in Deutschland die Nachahmung des großen Schotten für die Roman­fabrikanten erfolgreicher als eine weitere Pflege des Ritterromans , hat der Gespensterroman bis in unsere Zeit hinein wenig von seiner Anziehungskraft auf das große Publifum verloren. Noch heute ist in einem großen Theile unseres Volkes, zumal unter der Landbevölkerung, der Glaube an das Hinein­ragen einer Geisterwelt in die unsere" wach und lebendig; jeder Versuch, dem unerschütterlichen Glauben des Volkes an die Möglichkeit eines sinn lichen Verkehrs mit Geistern und Gespenstern nene Nahrung zuzuführen, wird ein großes und dank­bares Publifum finden, besonders wenn er sich in das Gewand einer spannenden Erzählung fleidet. Der alte, aus der heidnischen poetischen Natur­betrachtung hervorgegangene Geister- und Dämonen­glaube war in unserem Volfe nie völlig erloschen. Zwar hatte ihn das Christenthum zurückgedrängt, aber es hatte doch nicht verhindern können, daß so manche Gestalt der alten heidnischen Naturreligion unter leiser Veränderung ihres ursprünglichen Sharafters und unter Anpassung an den christlichen Vorstellungs­freis im Volf weiter lebte. Im sechzehnten Jahr hundert hatte der Teufelsglaube der Reformation, in der Folgezeit der aus ihm hervorgegangene schenß­liche Herenwahn dem Geister- und Wunderglauben Wie sehr des Velkes kräftigen Vorschub geleistet. Wie sehr endlich das achtzehnte Jahrhundert trotz aller Frei­geisterei und Aufklärung, die sich ja nur auf die oberen Stände beschränkte, mit seinem Myftizismus und Occultismus, seinen geheimen Orden und Ge­sellschaften, seinen Rosenkreuzern und Illuminaten auf eine Verstärkung des Wunderglaubens im Volke hinwirken mußte, liegt nahe. So fand denn die Romantik in ihrem Streben, die geheimsten schlum mernden Kräfte der Volksseele in ihren Dienst zu stellen und die Bilder und Gestalten der deutschen Vorzeit zu neuem poetischen Leben zu erwecken, einen wohlvorbereiteten Boden vor. Namentlich mit der 1790-1799 erfolgten Herausgabe der Vcit Weberschen Sagen der Vorzeit", die das Signal da u gab, alle im Volksmund lebenden Märchen, Geister und Wundergeschichten zu sammeln, war das Interesse an der Welt des Uebernatürlichen

und Wunderbaren in die weitesten Kreise gedrungen. Stimmungen und Vorstellungen, die man im dent­schen Volksgemüthe längst erloschen geglaubt hatte, wurden mit der Wiederbelebung der alten deutschen Märchen- und Sagenwelt wieder lebendig. Mit der Auffrischung der alten Sput- und Gespenster­geschichten ging die Entstehung neuer Hand in Hand: um jede verlassene Ruine, jedes einsame Haus, jedes unheimliche und düstere Landschaftsbild woben die mannigfachsten abergläubischen Vorstellungen ihre unsichtbaren Fäden.

Welcher Art die geistigen Bedürfnisse der mittleren und unteren Klassen unseres Volkes um die Mitte der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts waren, hat Wilhelm Hauff in seiner Sfizze: Die Bücher und die Lesewelt" in höchst ergößlicher und launiger Weise geschildert. Der Verfasser hat sich zu einem in seinem Beruf gran gewordenen Leihbibliothekar begeben, schaut sich das bunte Treiben in der Leih­bibliothek an und läßt sich von dem kundigen Alten Vortrag über die literarische Lieblingsfost des Publi­fums halten. Noch immer sind Ritter, Räuber­und Gespenstergeschichten die vielbegehrtesten Artikel, während die Klassiker, Herder, Jean Paul usw., in steter, ungestörter Ruhe auf ihrem Bücherbrett ver­harren. Daneben wird freilich auch schon Walter Scotts als eines der vielgelesensten Autoren gedacht. Von den Büchern, die die größte Anziehungskraft auf das Publikum ausübten, mögen einige, deren Namen schon ihren Charakter zur Genüge erkennen lassen, an dieser Stelle genannt werden: Der Geist Erichs von Sidingen und seine Erlösung"," Der Die schwarzen Ruinen oder Das Blutschaz", unterirdische Gefängniß"," Das Geisterschloß", Die Das feurige Auferstehung im Todtengewölbe", Nacheschwert" usw. usw. Liebhaber von derartigen Titeln, die mit ihrer Fülle von grotesken Bildern und in endlos ausgesponnenen Zusätzen und Neben­titeln oft genug das ganze Programm des zu= gehörigen Romans entrollen, finden bei der Leftüre von Leihbibliothek- Katalogen aus dem letzten Viertel des vorigen und der ersten Hälfte dieses Jahr­hunderts vollauf ihre Rechnung.

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Noch ein anderes Hauffsches Werk verdient als charakteristisch für eine oben besprochene Strömung in der damaligen populären Unterhaltungsliteratur genannt zu werden: Die Mittheilungen aus den Memoiren des Satans". Der Verfasser schildert darin am Schluß des ersten Theiles auf gleich launige Art wie in der eben aufgeführten Stizze die unheilvollen Wirkungen, die die ausschließliche Lektüre von Ritterromanen auf ein jugendliches Gymnasiastengemüth ausübt. Auch von den dort erwähnten Ritterromanen mögen einige zur äußeren Kennzeichnung dieses Genres geeignete Titel hier folgen: Der alte Ueberall und Nirgends"," Adolph der Kühne, Nauhgraf von Dassel", Die Fahrten Thiodolfs, des Isländers".

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Im Obigen ist die gesammte niedere volksthüm­liche Unterhaltungsliteratur vom letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts an unter dem Kollektivnamen Kolportageliteratur" zusammengefaßt worden, ob= wohl wir von einem Viertel der literarischen Pro­dukte der gedachten Epochen auf dem Wege des Hausirhandels nichts wissen. Trozdem sind wir zur Anwendung dieses Namens berechtigt, da wir mit dem Ausdruck Kolportageroman stets vornehmlich den Begriff eines ausdrücklich auf einen rohen und ungebildeten Geschmack berechneten, plump auf­gebauten, an Qual- und Schauerszenen überreichen literarischen Produkts verbinden. Die Art des Ver­triebs derartiger Erzeuguisse steht erst in zweiter Reihe. Die nahe Verwandtschaft der Kolportage­romane des vorigen Jahrhunderts mit jenen der Gegenwart ist unverkennbar: sie geht schon aus dem oberflächlichen Vergleich der Titel und in noch höherem Grade der Kapitelüberschriften in den früheren mit den heutigen Kolportageromanen hervor.

Wenn oben bemerkt ist, daß der Kolportage­ roman im Anschluß an die romantische Bewegung im leßten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts ent­standen ist, so soll damit keineswegs gesagt sein, daß das Volk in der früheren Zeit eine derartige scharf gewürzte literarische Kost entbehrte. Nur wurde