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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
merksam gemacht; der Nachbar zur Rechten erzählte sogar irgend eine Geschichte, die jedenfalls sehr fesselnd und lehrreich war, von der ich jedoch keine Silbe verstand, weil alle die neuen unerwarteten Eindrücke zu sinnverwirrend auf mich einwirften. Drei oder Bier zugleich erkundigten sich nach meinem Meister, und sie lachten dabei schalthaft und machten Bemerkungen, so daß ich das Empfinden hatte, als seien sie ihm ungünstig gesonnen. Die herzliche Freundlichkeit, mit der ich in dem fremden Streise. aufgenommen wurde, versezte mich in wahres Entzücken; ich dankte dem guten Geschick, daß es mich auf einmal eine Menge lieber Menschen, gute Kameraden und Freunde finden ließ, und ich fühlte mich nicht mehr einsam und verlassen. Aber in den Dank und Segen mischte sich der furchtbare Fluch, denn ich gedachte meines Anzuges und sagte mir, daß ich nicht würdig sei, in einer so feinen, vortrefflichen Gesellschaft zu verweilen; ich fluchte meinem Schicksal und mir selber, daß ich nicht bald, nachdem ich das Gelb gezahlt hatte, davon gerannt war, und ich kam mir vor wie ein Lügner, der sich durch eine schwere Lüge eingeschlichen und die vertrauensseligen Leute durch Wasser und Schuhwichse betrogen hatte. Infolge der herrschenden Düsterfeit und des starken Tabakrauches hatten sie den Betrug noch nicht entdecken können; doch der Anzug mußte un bald trocken sein, und dann ich mochte garnicht an die Schande denken! So weit als möglich rückte ich meinen Stuhl vom Tische ab, damit die Tischnachbarn nicht meine dem Fensterlicht ubarmherzig preisgegebene Rückenpartie betrachten konnten. Die Furcht vor der Entdeckung, die Angst vor einer schlimmen Demüthigung war gräßlich; allein die heitere Güte der nenen Bekannten war so herzbezwingend und wohlthuend, daß ich mich bei all meiner Angst beklemmung diesem Zauber hingab. So ging es in meinem Inneren funterbunt zu wie in einem Jrren hause, wo die Einen vor Vergnügen laut lachen, Andere aber durch schreckliche Wahnvorstellungen ge= peinigt werden.
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( Fortsetzung folgt.)
Der Kolportageroman.
Eine literar- historische Studie. Von Pretorius. ( Schluß.)
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nter den deutschen Romanschriftstellern dieses Jahrhunderts hat Hermann Gödsche den größten Einfluß auf den Kolportageroman ausgeübt. Unter dem Pseudonym Sir John Ret cliffe " veröffentlichte dieser beispiellos fruchtbare Autor von der Mitte der fünfziger Jahre ab eine Reihe von dickleibigen Romanen, deren Stoff ausnahmslos der politischen Geschichte der Gegenwart entnommen war. Retcliffe ist der Schöpfer des zeitgeschichtlichen Romans; er selbst gebraucht die etwas inverständliche Bezeichnung sozial- politisch" dafür. Set liffe hat fast alle wichtigeren politischen Ereignisse aus dem dritten Viertel unseres Jahrhunderts zu Romanen ausgeschlachtet, die er zumeist nur wenige Monate nach der verarbeiteten" Begebenheit erscheinen licß. Sein Roman Sebastopol", der den durch die Einnahme dieser Festung beendeten Krimkrieg behandelt, erschien bereits im Jahre 1856, sein Nena Sahib", der den furchtbaren Sipoyaufstand in Vorderindien zum Vorwurf hat, in den Jahren 1858-59. Allen diesen Romanen ist weder gli hende Phantasie noch glänzende Darstellung absprechen; im Uebrigen sind sie künstlerisch werthlos und wären Hintertreppentromane der ärgsten Art zu nennen, wenn sie nicht ein Element enthielten, das ihrer Verbreitung gerade in den Kreisen hindernd cutgegentritt, in denen der Hintertreppenroman sein Publikum sucht: eine oft überraschend raffinirte Spekulation auf die Sinnlichkeit der Leser. Retcliffes Phantasie gefällt sich mit Vorliebe in der ins kleinste Detail gehenden Ausmalung von Situationen, in denen Wollust oder Grausamkeit am liebsten beide ihre Orgien feiern. Im Nena Sahib" malt er die Schandthaten der fanatisirten Indier an Frauen und Jungfrauen so breit und mit so grellen Farben,
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daß selbst abgehärtete Naturen ein Gefühl des Schauders und Entseßens überkommen mag: es ist überaus charakteristisch, daß der Autor vor dem be= treffenden Kapitel seine freundlichen Leserinnen bittet, es zu überschlagen. Freilich ließen die von Retcliffe behandelten zeitgeschichtlichen Stoffe der Schilderung derartiger Greuelthaten breiten Spielraum, und so wetteifern denn verschiedene Szenen aus„ Sebastopol" und den„ Franzosen in Merifo" an wollüstigem Schauder mit der eben erwähnten. Dagegen weisen Ret liffes Romane eine Reihe von anderen Eigenschaften auf, die sie zu echten Kolportageromanen stempeln: die sprunghafte, fast in jedem Kapitel Ort und Personen wechselnde Darstellung, die maßlose Häufung von erregenden Abenteuern aller Art, die gelegentliche Herauziehung von allen berühmten Namen der jeweiligen Zeitepoche zum Zweck der Spekulation auf die Sensationssucht der Leser, die Opferung jeder, auch der plattesten histo= rischen Wahrheit durch das Streben, ein fritifloses Publikum immerfort durch die frassesten Effekte zu überraschen und in athemloser Spannung zu erhalten.
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Von den sechziger Jahren an ist die in rascher Folge zunehmende Verbreitung der Kolportageromane Hand in Hand mit der skrupellosesten Ausbeutung der jeweiligen literarischen Neigungen des Publikums gegangen. Von dieser Zeit fängt auch der Vertrieb dieser literarischen Produkte auf dem Wege des Hausirhandels, der sich bis dahin noch in bescheidenen Grenzen gehalten hatte, an, die Norm zu werden. Mit dem heftweisen Erscheinen der Hintertreppenromane war auch dem Unbemitteltſten Gelegenheit geboten, sich nach und nach in den Besitz einer kleinen, seinen literarischen Geschmack befriedigenden Bibliothek zu setzen. Der lieferungsweise, auf dem Wege des Kolportagehandels oder durch direkten Bezug vom Sortimenter erfolgende Absatz literarischer Produkte scheint zuerst in England um sich gegriffen zu haben. scheint zuerst in England um sich gegriffen zu haben. So sind die meisten Romane von Charles Dickens , von den„ Pickwiciern" an, in Lieferungen und mit Federzeichnungen geschmückt gerade Dickens hatte das Glück, mehrere zur bildlichen Wiedergabe seiner originellen Gestalten vorzüglich befähigte Zeichner, wie Phiz und Cruishank, zu finden erschienen. Die Art des Absages ist bei faft sämmtlichen deutschen Kolportageromanen die gleiche. Der Kol porteur macht sich mit einer Anzahl von ersten Lieferungsheften der ihm zum Vertrieb übergebenen Romane auf den Weg. Sein Publikum ist mannigfaltig genug: kleine Handwerker, Arbeiter, Lehrlinge, faltig genug: fleine Handwerker, Arbeiter, Lehrlinge, Subalternbeamte, vor Allem aber Dienstboten beider Geschlechter. Eifer und Gewandtheit des Kolporteurs Geschlechter. Eifer und Gewandtheit des Kolporteurs find staunenswerth. Treppauf, treppab eilf er; in der entlegenſten Behausung weiß er etwaige Kunden ausfindig zu machen. Wehe dem Opfer, das sich mit ihm in ein längeres Zwiegespräch einläßt! Nichts zeigt sich seiner Ueberredungsgabe gewachsen, mit den verlockendsten Farben weiß er den neuesten, natürlich verlockendsten Farben weiß er den neuesten, natürlich besten bisher erschienenen Roman anzupreisen, für jeden Geschmack weiß er Vorzüge ausfindig zu machen, die ihn vollauf befriedigen. Dazu die nach Abnahme der dreißigsten oder fünfzigsten Lieferung verheißenen Prämien, denen insbesondere kein weibliches Herz zu widerstehen vermag! Da werden kostbare Del gemälde, Zimmerdekorationen, Schmuckgegenstände gemälde, Zimmerdekorationen, Schmuckgegenstände jeder Art in Aussicht gestellt. Erweisen sich alle leberredungskünste und Versprechen des Kolporteurs als fruchtlos, so greift er zu einem letzten Mittel, das selten versagt: er läßt das erste Heft des Nomans seinem Opfer mit der Bitte, es bis zum nächsten Tage zu lesen, zurück. Dies erste Heft, bei dem es sich ein wenig zu verweilen lohut, ist ausnahmslos ein mit dem größten Raffinement hergestelltes Meisterstück von Spekulation auf den literarischen Geschmack der unteren Volksschichten. Es ist gewöhnlich ein wenig stärker als die nachfolgenden Hefteanderthalb oder zwei Bogen statt eines
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und enthält die beiden ersten und den Anfang des dritten Kapitels. Die beiden ersten Kapitel ent= halten die Exposition; sie machen den Leser mit den leitenden Hauptgruppen der handelnden Personen be fannt. Gewöhnlich werden im ersten Kapitel die Kinder des Lichts, im zweiten die der Finsterniß geschildert. Das dritte Kapitel enthält in breiten
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Zügen und unter Aufbietung der trasfesten, einen rohen Geschmack fesselnden und packenden Effekte die erste der fürchterlichen Katastrophen, an denen der Roman so überreich ist. Die erste Lieferung bricht nach weiser Berechnung des Autors und Verlegers gerade im spannendsten und nervenerregendsten Moment ab. Diese Katastrophe ist gewöhnlich Gegenstand des in plumper Holzschnittmanier oder als widrig greller Farbendruck ausgeführten Bildes, das die erste Lieferung ziert. Des Interessanten genug bieten die Umschläge. Auf der Vorderseite prangt zumeist nur der Titel des Romans, gewöhnlich ein Doppeltitel, wenn man das ominöse„ oder" nicht gar zweimal liest; ein Verfassername ist selten genannt. Die Titel geben denen der oben genannten Räuber und Gespenstergeschichten wenig nach: sie häufen mit ihren endlosen Zusäßen und Erläuterungen die kühnsten und grausigsten Bilder. Die zweite Seite des fast ausnahmslos in einer schreiend bunten Farbe prangenden Titels bringt die genau beschriebenen Prämien, die des glücklichen Abonnenten nach Abnahme einer bestimmten Lieferung harren. Die dritte Seite enthält eine kurze Einführung in den Noman, die vierte endlich eine reiche Auswahl von Kapitelüberschriften gewöhnlich in verschiedenartigem Druck; die weniger verheißungsvollen Kapitelüberschriften( die freilich allein jedem mit diesem literarischen Genre wenig vertrauten Leser die Haare zu Verge stehen lassen könnten) sind mit gewöhn= lichen Lettern gedruckt, die pikanteren fett, die ganz pikanten mit Riesenbuchstaben. Die Crême von allen Greuel und Missethaten, von denen es in dem Reman wimmelt, giebt sich in diesen Kapitelüberschriften ein Rendezvous. Die widerstrebendsten Gefühle überschleichen uns bei solcher Lektüre: bald setzt die unwiderstehliche Komik, die in den skurrilen Bildern, den unsinnigsten Vergleichen, der maßlosen Häufung von Superlativen liegt, unsere Lachmus eln in Bewegung, bald will uns tiefes Mitleid mit jenen unzähligen überkommen, die mit pochendem Herzen und glühenden Wangen derartige unverdauliche Kost als einzige geistige Nahrung verschlingen.
Die Ausdehnung dieser Nomane ist geradezu ungeheuerlich. Die Zahl Derer, die mit der hundertsten Lieferung schließen, ist gering. Oft genug wird die Zahl zweihundert erreicht. Zahl zweihundert erreicht. Da die Lieferung im Durchschnitt einen Bogen, also sechzehn Seiten start ist, kommt dies einer Seitenzahl von 3200 gleich. Dazu erscheinen die Kolportageromane mit wenigen Ausnahmen in Großoktav. Die Anzahl der Lieferungen wird dem neugeworbenen Abonnenten natürlich verheimlicht. Da die Annahme des ersten Heftes zur Abnahme des ganzen Romans verpflichtet, wäre auch sein Protest, wenn die Schlußlieferung mit dem Beginn des dritten Jahres noch immer auf sich warten läßt, vergeblich. Freilich sorgt das Geschick und die Routine des Autors, der den Geschmack seines Publikums genau fennt, zumeist dafür, daß das Interesse seiner Leser nicht vor der Zeit erfaltet, sondern durch immer neue Verwickelungen und Zwischenfälle wach erhalten wird.
Ueberblicken wir das Stoffgebiet der in den letzten drei Jahrzehnten erschienenen Kolportageromane, deren Zahl Legion ist, so erstaunen wir über die unendSo gleichliche Fülle der behandelten Materien. förmig und nüchtern die Schablone ist, die immer wieder zur Anwendung kommt, so reich und mannig fach ist das Milien dieser Romane. Wenn wir versuchen, den modernen Kolportageroman mit Rücksicht auf seine Stoffe zu flassifiziren, so finden wir zunächst einen alten Bekannten, den Gespensterroman. Zwar läßt sich die Produktion auf diesem Gebiete nicht entfernt mit jener im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts vergleichen, doch beweisen die zum Theile recht hohen Auflagen der modernen Gespensterromane, daß das Interesse an der Welt des Gespenstischen und Dämonischen im Volke noch immer nicht erloschen ist. Als Kuriosum mag verzeichnet werden, daß vor nicht allzulanger Zeit ein nach Anlage und Ausstattung vollkommen waschechter Kolportageroman unter dem Titel: Die Wolfs= schlucht" erschienen ist, der in bandwurmartiger Ausdehnung, aber sonst in fast stlavisch treuer Nachbildung den Inhalt des Weberschen Freischüß" wiedererzählt.
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