272

Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Der Alte ging in eine Ecke, fraßte dort die Erde auf, und dann 30g er ein fleines Kästchen hervor, dem er einige Schriftstücke entnahm. Das eine stammte noch aus den Fünfziger Jahren: es war das Pro­tokoll, das in Hannover   aufgenommen worden war, und in dem drci Offiziere und noch zwei Herren sich verpflichteten, ganz so zu handeln, als ob in der Spielsache gegen den englischen Baron nicht der Oberlieutenant und Gutsbefizer Ernst N..., sondern sein Bruder, der Rottenführer Lieutenant Philipp N... der Betheiligte sei.

Das zweite Schriftstück war die Erklärung des Bruders Ernst R..., daß er der Brandstifter ge­wesen und sein unschuldiger Bruder hochherzig für ihn eingetreten wäre. Er bezeuge das vor seinem Tode bei voller Klarheit des Verstandes vor Gott  und den Menschen, schloß das von einem Geistlichen gegengezeichnete Dokument, das zum Ueberfluß noch die Bescheinigung eines Arztes trug, daß der also sich Erklärende im vollen Besitz seiner geistigen und Verstandeskräfte" sei.

Und mit den Worten:" Und nun das, he?..." reichte mir der Alte grinsend das dritte Papier dar. Es stammte aus viel späterer Zeit und erkannte an, daß sein Inhaber, der Verwalter Philipp..., an das Rittergut Grünhagen aus nicht erfüllter Ent­schädigung stammend, Anspruch auf sechstausend Thaler habe, welche sechstausend Thaler bis zur Tilgung mit vier Prozent zu verzinsen wären.

Ich prüfte das Papier genau; an demselben war nichts zu deuteln. Wie es abgefaßt war, konnte der Alte noch jeden Tag mit seinen Ansprüchen vor­treten. Und wenn es wahr war, daß er gar keine oder nur wenige Zinsen empfangen hatte, dann hatte er beinahe das Doppelte zu fordern, Grund genug, daß der Nachkomme des Schuldners das Dokument fürchtete.

Denn obwohl ich nichts von der Landwirthschaft verstand und in die Vermögensverhältnisse des der­zeitigen Besizers nicht den mindesten Einblick hatte, soviel merkte ich doch, daß das Gut sehr stark ver­schuldet sei und sein Eigenthümer Mühe haben mußte, sich über Wasser zu halten. Trat dieser Anspruch an ihn heran, dann brach das Gebäude zusammen. Zwei Be­fizer hatten nicht umsonst die großen Hülfsquellen des großen und sonst nicht armen Anwesens erschöpft.

Der Alte grinste, als ich ihm das Dokument zurückreichte.

Da ist nicht an zu denteln, he?" lachte er.... Wenn ich nun einmal fordern wollte?... Mit dem vortrete?... Vielleicht glaubt der da, es ist nicht

"

C

mehr da, ist verloren;... aber er soll sich nur nicht...

"

Wild richtete sich der Alte auf; dann sank er aber wieder zurück und lachte spöttisch.

" Was soll der alte Philipp mit Gold? Soll er's versaufen, he?...' n Schnaps und Brot, das Laß sie weiterleben... Aber ist genug... kriegen sollen sie's noch nicht... sollen noch Angst haben."

Mit zitternden Händen packte er Alles wieder zusammen, schob den Kasten in die Höhlung, stampfte die Erde fest, und dann begaben wir uns schweigend nach dem Gute zurück.

Mich dauerte der Alte, aber ich mußte sagen: Er hat Recht; was soll er jetzt noch mit dem Gelde! Ihm konnte es nichts mehr nüßen, und Jene fristeten ihr Leben davon.

Und ich mußte grimmig lachen über die Launen des Schicksals. Die eigentlichen Almofenentpfänger, die alle Tage von der Gnade des Alten lebten, sie saßen im Herrenhause und spielten sich gegenüber Denen, die da kamen, als die Wohlthäter des Mannes auf, der sie von Haus und Hof jagen founte! Welch ungeheure Lüge, aber sie hatten sich schon gewöhnt ans Lügen!

Und beinahe hätte ich angefangen, den Mann zu bewundern, der still so viel Zurücksetzung trug, sich auch noch mißhandeln ließ und doch von seinem Rechte nicht einmal auf Grund seiner Rechtsansprüche eine bessere Behandlung forderte.

Aber wenn ich ihn dann wieder stehen sah, wie er Ankommenden vor dem Hause die Pferde hielt und dabei die gebogene Hand ausstreckte, dann wußte ich, daß ihn der Trunk soweit heruntergebracht hatte, daß er nicht einmal eine Ahnung mehr von dem Werthe seiner Ansprüche hatte, daß er unfähig war, zu glauben, er könnte noch ein anderes Leben führen wie das, das er zu führen gewohnt war: das Leben eires Hundes.

Ja, seine Natur hatte allmälig etwas von der Natur des Hundes angenommen. Auf dem Hofe umherlaufen, mit Schlägen bedroht werden, das gehörte ihm schon zum Leben, und wenn er einmal von seinen Ansprüchen Erwähnung that, drohte, mit ihnen hervortreten zu wollen, auch dann war er weiter nichts wie der Hund, der seinen Herrn aubellt, wenn er ihn einmal zu viel schlägt. Aber er beißt nicht, er weiß doch, daß es der Herr ist.

Eines Tages bellte der Alte wieder. Er war mit dem Herrn in Streit gerathen, und als der ihn Lump und Säufer schimpfte, ihm vorwarf, daß

der Aus dem Papierkorb der

Kindliche Liebe.( Zu unserem Bilde.) Wahrlich, die haben es gut bei der kleinen Laura, die große, schöne Miezekaze, die sich behaglich ihr zur Seite lehnt, und das fleine, weißwollige Lämmchen, das gar einen Kuß von ihr bekommen soll.

Da kann man neidisch werden; so lieb wird man von kleinen, zarten Patschhändchen im Leben nicht so leicht gestreichelt.

Ob sie mir vielleicht auch einen geben wird?" mag Bruder Schaf wohl bei sich denken, indem er durch die offene Thür ganz verduzt hinein in den kleinen, fühlen Raum blickt. Und auch Frau Henne hält ihre Zeit für gekommen.

Freilich, um Liebkosungen ist es ihr nicht zu thun; aber die schönen Speisereste dort in dem Napf am Boden locken sie; jetzt wird sie wohl endlich einmal dazu kommen, einen leckeren Bissen in Ruhe ganz für sich zu genießen. Oder ob ihn ihr doch die böse Kaze abspenstig machen wird?

Aber da ist ja dann immer noch die kleine Laura da; und wo die mit ihren geliebten Zwei- und Vier­süßlern zusammen ist, wird sie schon dafür sorgen, daß der Friede nicht muthwillig durch eine der neidischen Großmächte gestört wird.

Jules Verne  . Neben Zolas Romanen hat in den legten dreißig Jahren nichts aus der modernen franzö­ sischen   Literatur so allseitige Beliebtheit in Deutschland  erlangt, wie Vernes phantastische Erzählungen. Freilich läßt Vernes   Schriftstellerei nicht entfernt den Vergleich mit den Kunstwerken des gewaltigen Realisten zu: was er bietet, ist ledig ich Unterhaltungs.eftüre, dazu bestimmt, langwei ige Stunden auf angeneme, den Geist nicht an­strengende Weise hinzubringen. Der Charafter der meisten

Verneschen Erzählungen ist bekannt: sie bezwecken, dem Leser im Rahmen einer spannenden, abenteuerlichen Er­zählung die vermuthlichen oder möglichen Fortschritte der technischen Wissenschaften in der Zukunft vorzuführen. Einige verwegene Pioniere der Wissenschaft lassen sich in einer Riesenbombe aus einer ungeheuren Kanone zum Monde emporschießen, kehren zurück und berichten von den Ergebnissen des" Forschungsschusses". Ein von un­versöhnlichem Hasse gegen die Menschheit erfüllter Kapitän durchquert die Meerestiesen mit einem, einem gewaltigen Fisch gleichen, unterirdischen Boote. Anderen Wagehäisen gelingt es, die Sonnenwelt zu bereisen oder bis in den Mittelpunkt der Erde zu dringen.

Der künstlerische Werth aller dieser Erzählungen ist nur gering: es sind die rasch hingeworfenen Produkte einer freilich beispiellos üppigen und glühenden Phantasie, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite zu fessen und in athemloser Spannung zu erhalten weiß. Dennoch müssen wir die weite Verbreitung der Verneschen Romane und die Anregung, die sie ertheilen, mit Freuden begrüßen: sie sind im Stande, ein heilsames Gegengewicht gegen den selbstgenügsamten Stolz und die satte lleber­Lebung zu bilden, wie sie sich vielfach in Gelehrten- und Laienkreisen auf Grund der in den letzten fünfzig Jahren gewonnenen Bereicherung unserer naturwissenschaftlichen Stenntnisse breit machen. Man begegnet nicht allzu selten der im Tone aufrichtiger Ueberzeugung ausgesprochenen Meinung, mit dem neunzehnten Jahrhundert sei die wissenschaft iche Forschung in ihren Grundzügen ab­geschlossen: übrig bleibe nur noch die Vertiefung und Ergänzung des Gewonnenen. Wunderliche Verb.endung! Mit der wissenschaftlichen Forschungsarbeit schreitet auch die in ihrem Dienst stehende Technik stetig vorwärts, befruchten sich beide gegenseitig, nimmt auch Arbeitslust und Forschungsdrang zu. Die nächsten Jahrhunderte

Berantwortlicher Redakteur: Gustav Macasy in Leipzig  .

"

er nicht einmal das Futter werth sei, das man ihm schenkte, da richtete sich der Alte auf: Wer schen't hier?" fragte er heiser, wer schenkt?... Soll ich mir nicht mehr schenken lassen, soll ich einmal fordern?" Der Gutsbesizer wurde roth vor Wuth. I, Du Lump infamer," rief er und hob seinen Stock. Ich hatte in der Nähe gestanden, den Streit mit angehört, mu sprang ich hinzu und fiel dem Wüthenden in den Arm.

Der drehte sich nach mir um.

"

Und Sie nehmen für den Lump auch noch Partei, für den Stäufer, den infamen Kerl den... den... den Hund, der verdient, todt= geschlagen zu werden, der Gott   tanfen kann, daß er bei mir noch das Fressen hat!?"

Ich war entrüstet über diese bodenlose Gemein­heit und Undankbarkeit.

Ich dächte, dem Manne hätten Biele zu danken," sagte ich, auf den Alten weisend, Ihr Herr Vater und gewiß Sie auch, Sie nicht weniger."

"

Der Gutsbesitzer wurde erst freideb'eich, der Stock fiel ihm aus der Hand, und dann wurde er dunkelroth, ja, fast blau im Gesicht. Er ließ seinen Stock liegen, machte Kehrt und schoß in das Wohn­haus hinein.

Zwei Tage darauf lag bei mir ein Schreiben auf dem Tische. Es war von den Herrn Besitzer. Er entließe mich sofort, weil ich gegen die Haus­ordnung verstoßen hätte, schrieb er; ich könnte morgen reisen. Meinen restirenden Gehalt ließ er mir am selben Tage durch seine Frau überbringen.

Ich stieg nochmals dem Herrn aufs Tach, der wurde nochmals bleich und dann wieder beängstigend dunkelroth im Gesicht, und dann griff er in seinen Beutel und zahlte mir noch das Honorar für die Kündigungsfrist, die ein Vierteljahr betrug.

Am nächsten Morgen schied ich leichten Herzens von dem Orte meiner bisherigen Thätigkeit. Von dem Alten, der mich noch bis zur Bahu geleitete, habe ich nichts wieder gehört; aber ich glaube, daß er auf dem Gute gestorben ist. Von seinem Gelde wird er bis zu seinem Tode nichts zu sehen be­kommen haben, das ist sicher.

Noch oft aber, so schloß der Doktor seine Er­zählung, denke ich an den Alten und an seine Ge schichte, und wenn ich nun, meine Damen und Herren, einen heruntergekommenen Menschen sehe, dann wende ich mich nicht hochmüthig ab und nenne ihn verächtlich einen Lump, wie das leider so oft geschieht, sondern ich denke: Was hat diesen Aermſten Schiffbruch erleiden lassen?

Beil. des.

1

können in ihrem Schooß die Lösung von unzähligen Problemen bergen, deren Aufstellung unserem Zeitalter unmöglich ist. Hat doch die jüngste Vergangenheit mit der märchenhaften Entdeckung der Röntgenstrahlen ein Problem gelöst, das die Vorwelt kaum im Scherz auf­zuwerfen gewagt hätte!

Die spottende Verachtung, die Vernes Romane oft über sich ergehen lassen müssen, ist nichts weniger als gerechtfertigt. Riesenaufgaben harren noch ihrer Bewäl­tigung durch den menschlichen Scharfsinn: seien wir Jedem dankbar, der uns dann und wann den Ausblick in das gelobte Land menschlicher Geistesarbeit eröffnet.

Gedankensplitter.

L.

Je niederträchtiger der Kriechling sich Macht er­schlichen und erschachert hat, desto drückender übt er sie.

Die Gelehrten haben meistens die abgeschliffenste Gleichgültigkeit gegen Recht und Unrecht, und vermiethen ihr Bischen ärmliche Dialektik für den schmugigsten Ge­winn an den Meistbietenden; aber die Staatsverweser und Religionsvorsteher thun auch alles Mögliche, um aus rechtlichen, vernünftigen Leuten Indifferentisten( abge­stumpfte Gleichgültige) zu machen.

Wir sind verdammt zur Dummheit und Weggeworfen­heit( heute: Verworfenheit) durch das Stocksystem und die Privilegien.

Seume  .

Nachdruck des Inhalts verboten!

Alle für die Redaktion bestimmten Sendungen wolle man an Herrn G. Macasy, Leipzig  , Oststraße 14, richten.

Verlag: Hamburger Buchdruckerei und Verlagsanstalt Auer& Co. in Hamburg  . Druck: Mar Babing in Berlin  .

-