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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

immer auf der Pappel im Garten gesessen und so schön gesungen, daß dem Herrn die Thränen in die Augen ge ommen sind. Und er hat dabei an seine Tochter gedacht, die auch die Vögel so gern hatte." Die Alte hat nämlich ihre Tochter ermordet." Ermordet?" fragte ich erschrocken.

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So gut, wie ermordet.

Es war gerade in dem Jahre, in dem die Herrschaften hierher gezogen find. Sechzehn Jahre war ich alt. Meine Mutter bedient hier."

Ich weiß mich auch noch zu erinnern," sagte die Andere. Erzähls einmal, wie es war!"

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Also redeten und schimpften meine geschwäßigen Tischgenossinnen, und in den nächsten Minuten erfuhr ich von ihnen eine haarsträubende Geschichte. Ich habe sie später, weil sie mich in mannigfacher Hin­ficht gewaltig fesselte, niedergeschrieben, und sie soll das nachfolgende Kapitel bilden. ( Fortsetzung folgt.)

Sozialistische Poche in Frankreich  .

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Von H. Thurow.

m die Abhängigkeit des künstlerischen Schaffens

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namentlich in Bezug auf die Auswahl des Stoffes von den wirthschaftlichen und politischen Interessenkämpfen der Zeitepoche darzuthun, führt ins Georges Renard in seinem letzten Bande französischer Literaturkritik* folgenden Vergleich vor: Es ist bekannt, führt er aus, wie man den Blumen die verschiedensten Farben geben kann. Man spaltet ihren Stengel und steckt sie in durch chemische Färbstoffe kolorirte Lösungen; der blau- gelb oder roth durchtränkte Saft steigt empor und die Krone kann auf diese Weise in allen Farben des Regenbogens erglänzen. So ergeht es auch mit der Pocsie, die man wohl die Blüthe des mensch lichen Genius genannt hat: sie nimmt die Farbe des Vodens an, aus dem sie ihre Säfte saugt. Wir haben sie azurblau gesehen, wie die Wasser eines stillen Sces, grün und rosa wie den Frühling, schwarz wie ein Todtenzimmer. Heute praugt sie Heute prangt sie gerne im saftigen Roth der Klatschrose und des Proletarierbanners, was uns zu der Annahme führt, daß das gesellschaftliche Milien, dem sie entsprossen ist, gewaltig mit sozialistischen Säften durchsetzt sein muß.

So ist es in der That. Wie der Sozialismus in die Oekonomie eingedrungen ist, wie er in steigen dem Maße die Politiker und Gesetzgeber beschäftigt, so nimmt er auch auf dem Gebiete der Kunst immer allgemeineres und tiefergehendes Interesse in An­spruch. Des Künstlers Gedankenwelt, die mit Schön­heitsidealen aller Art gleichsam gepflastert ist, fonnte unmöglich dem sozialistischen   Ideensirom feinen Gin gang gewähren. Und daß es auf dem Gebiete der Kunst vornehmlich die Dichtkunst ist, in deren Schöpfungen man den Einfluß der proletarischen Hoffnungen und Ueberzeugungen wiederfindet, ist nur zu begreiflich muß doch gerade sie ihre Stoffe aus dem vollen Leben schöpfen, und wo fluthet das Leben gewaltiger und intensiver als auf dem Felde des sozialen Existenzkampfes!

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Unsere Aufgabe ist es heute, dem Leser einige Proben sezialistischer Dichtung aus Frankreich   mit­zutheilen. Wohlverstanden, moderner sozialistischer Dichtung. An und für sich ist die französische Dicht kunst dieses Jahrhunderts, gleich der gesammten nationalen Literatur, reicher an sozialistischen   Gefühls­momenten als die Poesie irgend eines anderen Voltes. Sie hatte gewaltige Motive zu verwerthen: Revolu­tionen und Kämpfe, wie keine andere Nation sie sah. Die Kampfbegeisterung der Unterdrückten, der Gedanke der menschlichen Zusammengehörigkeit und Einheit, der trotz des tiefen Abgrundes zwischen Arm und Reich nicht aufhörte, seine Vitalität zu befunden, rang in der Dichtung nach Form und Gestaltung. Und zwar nicht nur während der ver­

* Critique de Combat. Paris  . Société Libre d'Edition des Gens de Lettres.

hältnißmäßig kurzen Epochen der eigentlichen sozialen Kraftproben. Wer gedächte nicht der im Gewande des Sozialismus einherschreitenden rothschimmernden Poesie der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre? Die sogenannten Utopisten proflamirten eine neue Aera des sozialen Friedens, der Gerechtigkeit und harmonischen Weltordnung. Ihre Ueberzeugungen, ihre Philosophie waren sozialistisch; aber weder die geistige Entwickelung des Volkes, noch die materielle Entwickelung der Produktion entsprachen dem nach­gestrebten Ideal, so daß die Masse des Volkes den nenen Propheten kein Gehör schenkte. Aber die geistige Elite der Nation erwachte und proflamirte um so begeisterter dieses hohe Ideal der Menschheits­erlösung, als es nach der Leberzeugung der Besten sich friedlich und ohne Erschütterungen der gesellschaft­lichen Organisation verwirklichen lassen müßte.

Die Zahl der Poeten und Literaten, die sich seit dem Beginn der St. Simonschen Propaganda bis zur Revolution von 1848 und darüber hinaus mit dem Problem des Sozialismus befaßt haben, ist Legion. Wir erinnern nur an cinige der Be­deutenderen unter ihnen, wenn wir folgende Namen nennen: Barbier, Chateaubriand, Viktor Hugo  , George Sand  , Eng ne Sue, Biranger, Pierre Dupont  , Lachambaudie usw. Die ganze französische  Literatur, schreibt B. Malon   in seinem Socialisme Integral", war wie mit Sozialismus durchtränkt. Und Heinrich Heine   war es bekanntlich, der, angesichts des gewaltigen Stroms ven Sympathien, dessen sich das sozialisische Ideal erfreute, verwundert ausrief: Das ist ein unschäzbarer Vortheil für den Sozia­lismus, daß er alle großen Geister auf seiner Seite hat, und daß seine Gegner, soweit es deren giebt, sich nur aus platter Nothwendigkeit, ohne Vertrauen zu ihrer Sache und selbst ohne tiefe Achtung vor sich selbst, vertheidigen."

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Die späteren großen Kämpfe, die die Arbeiter behufs Förderung ihrer gerechten Sache zu bestehen hatten, räumten mit dem jener Reformatorengene­ration eigenen Optimismus gründlich auf. Die durch die fortgefeßte wirthschaftliche Revolutionirung der gesellschaftlichen Grundlagen bedingte Verschärfung der Klassengegensäge lockerte auch die geistigen Bande der Dichter untereinander. der Dichter untereinander. Aeußerlich vollzog sich diese Wandlung durch die Leberwindung der Romantik, die, indem sie weniger der Realität des Lebens Rech­ung trug, sich vorzüglich zur Interpretation und Idealisirung aller rosaschillernden, weitausschauenden, doch jeden Appell an die Interesseninstinkte ver­schmähenden Reorganisationsideen eignete. Eine neue Form der Dichtung erschien seit Anfang der fünf­ziger Jahre auf dem Plan, die in stetem Kampf mit der damals in ihrer Macht noch unbeeinträch mit der damals in ihrer Macht noch unbeeinträch­tigten Romantik heute zur unbestrittenen Herrscherin geworden ist: der Naturalismus.

Dieser hat, namentlich auf dem Gebiete des Romans, außerordentlich viel zur Erfenntniß der sozial- wirthschaftlichen Zustände beigetragen. Natur­gemäß entlehnte er seine Stoffe in erster Linie dem wirklichen Volksleben. Da er sich aber zur Aufgabe stellte, die sich ihm in Fülle aufdrängenden psycho­logischen Probleme gründlicher, naturwahrer und objektiver zu behandeln, als wie das bislang ge­schehen, und da er im Uebrigen, troß der Zurück dämmung der persönlichen Ueberzeugungen der ein­zelnen Autoren im Großen und Ganzen im Bunde marschirte mit Wissenschaft und sittlichem Fortschritt, marschirte mit Wissenschaft und sittlichem Fortschritt, so wirfte er troß seines objektiv- sachlichen Charafters in hohem Maße agitatorisch. Eine greifbare, von den Naturalisten gewollte Tendenz lag ihren Werken nicht zu Grunde. Die Romane wirkten propagan­distisch durch die genaue Milieu- und Menschen­schilderung, und nur durch diese wahrheitsgetreue, die kritische Betrachtung fördernde Darstellung fonnten sie der sozialistischen   Sache dienen.

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Zur Erhebung der Herzen, zur Erweckung flam­mender Begeisterung reichte ihr Ideengehalt in den meisten Fällen nicht aus. Von einigen Werken, Germinal" zum Beispiel, abgesehen, in denen uns die Gedanken der handelnden Personen am Schlusse selbst etwas verrathen von dem Fenergeist des Dichters, der die Schranken durchbrechen möchte, die ihm seine eigene Kunsimethode gezogen, sehen wir fast nirgends

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einen Hinweis auf das kommende Bessere Formulirung einer aus der fritischen Analye sich ergebenden positiven Forderung. Ein solcher Posi­tivismus würde, wie angedeutet, über den Rchmen der naturalistischen Dichtung hinausgehen. Die pzia­listische Bewegung aber bedarf der Herolde, der Sänger und Rufer im Streit, und diese zu liefern, war vor Allem der neueren Lyrik vorbehalten, an der, entsprechend ihrem innersten Wesen, die Zeit und die Menschen inhaltlich weniger reformiren konnten, als am Roman und am Drama.

Die Lyrik hat immer starf zum Symbolischen ( Simmbildlichen) geneigt. ( Sinnbildlichen) geneigt. Auch die neueren fran­ zösischen   Lyriker sind zum guten Theil Symbolisten. Sie werden sogar mit diesem Namen bezeichnet und nennen sich selber so, um den Unterschied ihrer Methode von derjenigen der Naturalisten deutlich hervorzuheben. Im Ganzen genommen darf man den neuerlichen Symbolismus, der auch auf der Bühne seinen Einzug gehalten und mit der immer häufigeren Aufführung von Musifdramen hier eine gewisse Bedeutung erlangt hat, einerseits als eine idealistische Reaktion gegenüber gewissen Auswüchsen des reinen Naturalismus, andererseits als einen sehr verständlichen Protest gegen die seit Jahr­hunderten währende, durch einen strengen Rein­und Berskoder geübte unsinnige Reglementirung des Iyrischen Schaffens betrachten. In ihrem Arbeits­und Freiheitsdrange zerschlugen die Dichter die alten Formen, in die man so lange immer wieder die Empfindungen des Gemüths und den Willensdrang einzuzwängen versucht hatte. einzuzwängen versucht hatte. Daß sie dabei( wir sprechen hier von den zum Sozialismus neigenden Dichtern) nicht hin und wieder auch den Einfluß des in neuerer Zeit modisch gewordenen Wystizis­mus erfahren hätten, soll nicht geleugnet werden. Im Allgemeinen hat indessen ihr gesunder Op imis­mus sie vor dieser Klippe des künstlerischen Wirkens bewahrt.

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Es ist begreiflich, daß in einem Laude, wo das seit einem Jahrhundert im Volksbewußtsein wach­gewordene und nicht mehr verblichene Freiheitsidcal so start und grell mit der kapitalistischen   Gegenwart kontrastirt und wo das Temperament der Menge nur zu leicht zu sanguinischer Auffassung der sozialen Situation neigt, einer Auffassung, deren Irrigkeit von allen Revolten und Revolutionen dargethan wurde, daß in einem solchen Lande schließlich ein gewisser düsterer Troß, ein Hang zum Extremen, die Ge­müther erfüllt. Als treffender Ausdruck einer der­artigeu Stimmung nuß ein fleines, an Ada Negris Kampflieder gemahnendes Sonett betrachtet werden.

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Die handelnden Gestalten der sozialistischen   Dich­tung sind, wie in diesem Fall, sehr oft der biblischen Tradition entlehnt, oder ihr eigenes Geschick zeigt zum mindesten mit dem Schicksal sagenhafter Helden der Religionsgeschichte gewisse Aehnlichkeiten. Dort, wo trotz aller Wandlungen im sozialen Organismus des Gemeinwesens auf kirchlichem Gebiet der Katholi­zismus so unbeschränkter Herr und Meister geblieben ist, ist ein solcher man möchte sagen biblisch­revolutionärer- Symbolismus verständlich. Die Kirche, und namentlich die katholische Kirchenorgani­sation, ist das Bollwerk, hinter dem heute das fort= schrittsfeindliche, herzlose und heuchlerische Gesell­schaftsprozenthum seine Interessen vertheidigt. Sie und ihre Vertheidiger zu stürzen, ihren rückständigen Charakter zu enthüllen und so zur Vernichtung der schlimmsten Stützen der konservativen Umsturzmächte beizutragen, ist eine der Hauptaufgaben der jungen freiheitsglühenden Partei. Und dieser Kampf ist, soweit man seinen Schauplatz nicht vom Boden der sozialen Wirklichkeit in die Wolken religiöser Ab­straftion verlegt, fruchtbringend und dankbar. Denn war nicht dereinst, in seinen Anfängen, das Christen­thum ebenso revolutionär, wie es heute konservativ und verknöchert ist? Und wem spränge dieser Unter­schied nicht grell in die Augen! Unsere Dichter knüpfen an gewisse mehr oder minder verbürgte Ereignisse der ersten Entwickelungsphase der christ­lichen Religionsgemeinschaft an und beleuchten dann mit um so größerer Schärfe den schmachvollen