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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Die alte heilige Allianz der Druastien findet in ehemaligen begeisterten Freiheitssängern nachmalige Stüßen und Vertheidiger.

Aber so sind die Alten. Und nicht alle sind sie so! Die Jungen aber vor Allen sind nicht ange­stedt vom Bazillus der Korruption, der in der so­genannten geistigen und künstlerischen Glite der Ge­sellschaft so manche Opfer fo: dert. Sie gehen die Pfade weiter, die jene verlassen. Nicht die Alten in ihrem Alter, sondern die Alten in ihrer Jugend sind ihnen Vorbilder nicht der Prudhomme von heute, sondern Derjenige dient ihnen als Muster und Wegweiser, der vor zwanzig Jahren in seiner ,, Justice"( Gerechtigkeit) schrieb:

In deiner Geschichte, Frankreich , zähl ich mit Grausen, Was dir an Opfer gekostet und Unglück dein Ruhm! Doch im Busen dein weiß ich die Zukunft sich regen: Wie aus steinigen Landen feimten die Saaten hervor, Wie aus dem Kampf der Arten stieg siegend der Mensch empor,

So in deinem Blut formt sich der vollendete Staat!"

Der vollendete Staat, das ist die sozialistische Gesellschaft, die allen ihren Gliedern ein höheres Maß von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlsein ver­bürgen wird, als ihnen unsere heutige gesellschaft­liche Organisation zu bieten vermag. So wahr es jcin mag, daß jegliches Menschenherz von seinen ersten Regungen an prädisponirt bleiben wird für Kummer und Leid, ebenso wahr ist es, daß der Kampf der Individuen mit dem Geschick in erster Linie ein Kampf gegen die deprimirenden und ver derblichen Einflüsse des kapitalistischen Wiliens iſt. 2 on allem luglück, das seit Jahrtausenden unser Geschlecht heimgesucht, ist immer noch die Armuth das größte; und daß diese in unserer Zeit der wunder­baren Produktivität der Arbeit nicht längst der Ge­schichte angehört, daran ist eben der Kapitalis: mus mit seiner Klassenscheidung schuld. Das ist der Stand: unft aller überzeugten Sozialisten und die französischen L. rifer des Sozialismus machen darin Teine Ausnahme.

,, Sag mir, Natur im Frühlingskleid, Warum, wenn Alles lacht und liebt, Warum's so herbes Menschenleid, So viel verborgne Schmerzen giebt. Ja, sprich, unsterbliche Natur, Warum bei deines Busens Fülle Die Armuth schleicht in Bettlerhülle, Wo goldre Ernten trägt die Flur!" Olivier Sou tre, ein unlängst gestorbener und in seinem eigenen Heimathlaude ziemlich unbekannt gebliebener Dichter ist es, der in einem Lenz" betitelten Liede uns so das Problem der Massen­armuth inmitten des natürlichen Reichthumis unserer Ilmgebung vor Augen führt. In derber und schonungs­loser Weise kritisirt er unsere soziale Weltordnung, in der die arbeitenden Massen darben und die große Mehrheit aller thätigen Judividuen einer Hand voll von Drohnen tributpflichtig sind. Auf, zum Kampf gegen ein derartiges System! Das ist seine und seiner dichtenden Landsgenossen in manchem schwung­vollen und markigem Pom verkündete Losung.

Kein großes politisches oder wirthschaftliches Ereigniß, feine Katastrophe auf dem Schlachtfelde der Arbeit, fein die Oeffentlichkeit beschäftigendes Bei­spiel der moralischen und geistigen Degeneration der herrschenden Klassen, das nicht den modernen Freiheits­fängern Afforde des Mitleids, der Empörung, des Hohns entlockte. Unbarmherzig geht man ins Ge­richt mit dem nach Volfsgunst haschenden und doch das Volk verachtenden Renegatenthum; mit dem profitgierigen Unternehmerthum; mit der Giertanz­und Vogelstraußpolitif der bürgerlich liberalen Par­teien; mit den Panamahelden und Börsenspekulanten. Der Kampf des Proletariats um seine Befreiung ist ein vielseitiger: Muß nicht auch der Dichter jeder Manifestation desselben und jeder Bewegung im Lager des Gegners seine Aufmerksamkeit zuwenden?

Doch über die Gegenwart vergißt man nicht die Vergangenheit. Große geschichtliche, für die Eman­zipationsbewegung des Proletariats bedeutungsvolle Ereignisse und Momente bilden noch heute sehr oft den Gegenstand sozialistischer Dichtungen. Welcher nenere, dem Sozialismus huldigende Poet hätte nicht die große Revolution besungen? Wer nicht die Kommune?

Communardenblut ist Sozialistensaat!" heißt es schon im diefrain eines älteren Proletariergejanges und das trifft auch zu, soweit die Entwidelung und das geistige Schaffen unserer neuen französischen Dichtergeneration in Frage kommt. Fast alle Ver­treter dieser Letzteren haben den herrschenden Kampf der Pariser Blousenmänner gegen die Versailler Ueber­macht zu veranschaulichen, zu rechtfertigen und zu verherrlichen gesucht. Der Bedeutendste unter ihnen verherrlichen gesucht. Der Bedeutendste unter ihnen war unstreitig Eug ne Pottier.

Nicht mit diesen, jene Pariser Erhebung be= handelnden Gesängen wollen wir uns hier befassen. Sie sind zum Theil Gemeingut des internationalen Proletariats geworden und daher in ihren wichtigsten Erscheinungen auch der deutschen Arbeiterschaft zu­gänglich gemacht worden. Aber eine andere Frage zu behandeln ist hier der geeignete Ort: Wie steht es mit dem Gedanken der proletarischen Internatio­nalität in den Kreisen des neueren Literatenthums und speziell der Lyrifer?

Ist es wahr, was unsere bürgerliche Presse dem deutschen Arbeiter zum Ueberflusse oft wiederholt: Daß die vom deutschen Proletariate gehegte Idee der internationalen Interessensolidarität bei den Ver­tretern der Arbeitersache jenseits der Vogesen keine Gegenliebe fände?

Nein und dreimal nein! In Bezug auf das internationale Denken und Empfinden ist gerade in den Kreisen der dichterisch hervortretenden Verfechter einer freieren Weltanschauung eine gewaltige Wen­dung zum Besseren zu verzeichnen.

Vor zwanzig und fünfundzwanzig Jahren glaubte jeder Literat dem engherzigsten Patriotismus seine Huldigung darbringen zu müssen. Wer nicht mit aller Kraft seiner Lungen in das große Revanche­horn des Déroul de und Genossen hineinblies, hatte offenbar seine Bestimmung verfehlt. Wie wir an einer großen Reihe von Beispielen zeigen könnten, hat jener Chauvinismus einer vernünftigeren und humaneren Auffassung Plaz gemacht. Der Hurrah­patriotismus wird nur noch von Denjenigen gepflegt, von Denen er bei uns gepflegt wird: Von den Be­rufspatrioten.

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Weshalb dem Nachbarvolk in diesem Fall dem deutschen Volk grollen? Was sie bei uns gemacht, wir habens bei Anderen gethan!" So ruft Gabriel de la Salle Denjenigen zu, die eines verlorenen Jezen Landes wegen und um die angeb= lich verlegte Nationalehre wieder herzustellen, einen neuen Krieg entfesseln möchten.

Der Krieg ist eine Rückkehr zur Barbarei; er nüßt nur den Despoten und ist das Grab der Frei­nüzt nur den Despoten und ist das Grab der Frei= heit. Nieder daher mit dem Krieg und dem Haß, der ihn gebiert:

O Völker, wollt ihr denn immer Die blöde Heerde sein?

Wollt ihr euch nie vom Hasse, Vom blinden Haß befrei'n?"

Zu lange und zu oft hat das Volk einer Baga­telle, eines Phantoms wegen seine Haut zu Markte getragen. Und die bisherigen, zum Theil in seinem getragen. Und die bisherigen, zum Theil in seinem eigenen Interesse der Bourgeoisie versuchten Aufstände und Revolutionen haben ihm nicht die ersehnte Frei­heit gebracht. Der Nimbus, der diese Revolutionen ungiebt, verschleiert zum Theil das endgültige wahre Ziel der proletarischen Bewegung: Die Beseitigung der Lohuknechtschaft, und wiegt die Gemüther in eine gewisse verderbliche Lethargie ein.

,, An diese Kämpfe ,. Volk, gewöhnst du dich; Wohl kannst du stolze Monumente bauen, Mit prächt'gen Löwen an der Sockel Enden... So lang du nicht begreifst, daß deine Rechte Sind gleich den Rechten deiner Unterdrücker, So lange wird der Fortschritt nichts bedeuten, Als Wortgefüge und verworr'nes Läuten!" Als einer der konsequentesten Gegner der kapita­ listischen Wirthschaftsweise, als deren ungeheuerlichsten Auswuchs er eben den Militarisms betrachtet, hat G. de la Salle in manchem dichterischen Erzeugniß den Stüßen derselben seinen Fehdehandschuh hin­geworfen. Von seinem auf fünf Bände berechneten poetischen Lebenswerk, das den Titel: Die Nevol tirten( les Revoltés) tragen wird, ist zwar erst der erste Theil erschienen; aber dieser verräth Kraft, Begabung und Ueberzeugung.

Weniger kraststroßend und selbstbewußt, doch gleichfalls als energischer Bekämpfer des Militaris­mus zeigt sich uns ein anderer Autor: Jean Basliu. Der Band Gedichte, den er veröffentlicht, trägt den Titel: Erste Etappe. In einer Reihe von drei­versigen Liedern, die zusammen einen Abschnitt des Fuches bilden, schildert er uns das Schicksal eines im Joch der Arbeit grau gewordenen Bauern, dessen einziger Sohn irgendwo in fernen Kolonien glor= reich" für das Vaterland gefallen ist.

Vor dem geistigen Auge des alten Mannes zieht die Vergangenheit vorüber mit ihren unerfüllten Hoff­mungen und Projeften. Ja, er hatte dereinst auch gesvärmt für die farbenschillerude Uniform und die Lorbeeren des Kriegers

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" Doch heute denkt er, daß bei allem Ruhm Und allen Hymnen, die er mitgeſungen, Sein Sohn ihm lieber wär, als Krieg und Schlachtenthum..."

Der Krieg ist das ungeheuerlichste Verbrechen, dessen die Menschheit fähig ist. Zu dieser Einsicht fommen mehr und mehr auch diejenigen Sänger der Humanität und des gesellschaftlichen Fortschritts, die. dem wirthschaftlichen Kampf des organisirten Pro­letariats noch ziemlich verständnißlos gegenüberstehen.

Kaum irgend ein neuerer Dichter ist mit schärferen Waffen dem alle Tage breitspuriger und tyrannischer auftretenden Militarismus zu Leibe gerückt als Marcel Reja ein sehr pessimistischer und skeptischer Autor. Seine unter dem Titel: La vie heroique( herri­sches Leben) veröffentlichten Gedichte bilden einen fort­laufenden Protest gegen Alles, was der Domäne des Militarismus angehört. In satirischer und zuweilen ziemlich burschikoser Weise zwingt und lenkt er den Blick der Leser eben so sehr auf das Lächerliche wie auf das Tragische in der Erscheinung militäri­schen Wesens.

Er sieht einen Trupp mit vollständiger Aus­rüstung versehener Soldaten daherkommten. Es ist ein prächtiger Sommermorgen; die Sonne blizt durch das grüne Gezweig der Bäume. Da hält die Ab­theilung.

Der Dichter schildert, wie die Trommel ertönt, und spöttelt über die Wichtigthueret der Menschen bei militärischen Schaustellungen und über das beifall­wüthige Publikum.

Doch der Dichter ist nicht thöricht, dem Ein­zelnen zur Last zu legen, was nur Schuld der Ge sammtheit ist. Es ist warmes, tiefes Mitleid, was aus seinen bald verbitterten, bald höhnischen Versen spricht, die das blutige Gemezel des Krieges schil­dern. Weiß er doch, daß der Einzelne hier keinen freien Willen hat, ja, daß er oft genug durch die glänzende Außenseite des friegerischen Daseins so geblendet wird, daß er jedes Gefühl für die herbe Wirklichkeit der Dinge verliert.

Troz ihrer Gegnerschaft gegen Krieg und Mili­tarismus sind die französischen Sozialisten natürlich noch keine vaterlandslose Rotte", obgleich die Parteien des Charvinismus und der Staatserhal­tung es ihnen gegenüber an derartigen Titulationen nicht fehlen lassen. Der große und erhebende Ge­danke der Internationalität schließt nicht die Ver­längnung, noch die Miẞachtung des Heimathslandes ein, zumal wenn das Volk, mit dem man sich durch Geschichte, Temperament und Sprache verbunden fühlt, etwas in die Wagschale zu werfen hatte für die Sache des menschheitlichen Fortschritts. Wenn die Vergangenheit des französischen Volkes diesem die Bewunderung und die Sympathien aller fremden Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit erobern fonnte, dann haben die Kämpfer im eigenen Lande sicherlich feinen Grund, eine antifranzösische, oder wenn man will antipatriotische Maske zur Schau zu tragen. Das thun sie auch nicht und sie be­finden sich im Einverständniß mit Denkern wie Lassalle und Mar, wenn sie trotz aller kapitalistischen Fäul­niß ihres Heimathlandes dieses als ein wichtiges, ja unentbehrliches Instrument des völkerbefreienden Kampfes in der neueren Geschichtsepoche betrachten.

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Unter anderen Dichtern ist es namentlich der sehr beliebte Volkssänger Clément, der diesem Ge­danken der Identität wahrer Vaterlands- und uni­verseller Menschenliebe Ausdruck verliehen hat. In seinen Chansons" findet sich ein Gedicht, welches