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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

den Titel: O mein Frankreich  !" trägt. Da es vorzüglich die Meinung der meisten seiner Genossen über die Mission Frankreichs   im modernen Eman­zipationskampf der Arbeit widerspiegelt, seien aus ihm zwei Verse reproduzirt.

Zunächst besingt der Dichter die fruchtbaren weiten Felder, die goldenen Reben die schweigenden, dunklen Fichtenwälder. Alte, verfallene Gemäuer, die ihm von vergangenen geschichtlichen Ereignissen - von der Jugend seiner heimathlichen Gegend be= richten, stimmen seine Leier andächtig und wehmuths­voll. Aber er nähert sich der Gegenwart, er steht Paris  ; er sieht die Helden der Revolution und die gefnechtete, doch wenig zur Revolte neigende arbeitende Menge. Da reißt es ihn fort zu markiger, schwung­voller und begeisterter Hymne auf die Vertreter und Kämpfer der großen Sache der menschlichen Wieder­geburt:

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,, Wie liebe ich sie, die kühn für Wahrheit stritten Die Denker dein die Künstler und Poeten! Wie liebe ich deine Legion Proleten, Im Schooß der Berge und im Staub der Hütten! Wie lieb ich Jene, die der ew'gen Frohn Dreimal getrotzt im Wechsel der Geschichte Dreimal getrotzt im Sturm der Revolution! mein Frankreich  !"

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Aber, wie schon hervorgehoben, führt diese man darf wohl sagen revolutionär- vaterländische Be­geisterung ebensowenig zu chauvinistischem Fremden­haß, als wie sie ein Produkt derselben ist:

Doch glaubet, daß meine reiche Liebe Nur in der Heimath säh' ihr Arbeitsfeld! Ter gleiche Himmel überspannt die Welt; Der gleiche Pulsschlag zuckt im Weltgetriebe. Ja, blieb ich falt und stumm ob fremder Pein, Du selber würdest mich verleugnen

Weil ich nicht würdig wär', dein Kind zu sein. mein Frankreich  !"

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Der gleiche Dichter beschäftigt sich auch mit dem Loos des proletarischen Weibes. Ist nicht auch die Last von Sorge und Noth, die speziell auf den Schultern der schwächeren Hälfte des Menschen­geschlechts lastet, ein monströser Auswuchs der fapitalistischen Organisation unserer Gesellschaft? Ist nicht die Frauenfrage ein Stück der großen sozialen Frage?

In einem neuerdings sehr populär gewordenen Po m: ,, Ne me fais plus d'enfants" zeichnet uns Clément den Typus einer braven, ehrlichen, mit Kindern allzu reichlich gesegneten Frau, die nicht mehr weiß, wie sie mit dem geringen Verdienst ihres Mannes alle hungrigen Leiber füllen soll. Und immer wieder kommt der Klapperstorch und bringt neuen Zuwachs. Da faßt sie einen Entschluß: Gewisser­maßen als Wortführerin aller ihrer tausenden und hunderttausenden von Leidensgenossinnen verlangt sie von ihrem Ehemanne praktischen Malthusianismus:

" In der Woche wird es kommen! Schon spür ich Schmerzen überall. Wie zwingt uns Noth und Elend nieder...! Es bringt uns Beide noch zu Fall! Sechs Mäuler sind wir jetzt am Tische; Und ach, vier Fränklein sind Dein Lohn! Drum nicht so heißen Kuß, mein Alter: Es sind genug der Göhren   schon!"

Ob aber diese Mäßigkeit des Geschlechtsverkehrs allein die häusliche Noth beseitigen kann? Wenn sie weiter denkt und grübelt, will es ihr selbst un­wahrscheinlich vorkommen. In ihre Erwägungen hinein spielen Empfindungen, seltsame, leidenschaft­liche Empfindungen, die ihre Geschlechtsgenossinnen anderer Klassen nicht begreifen können. Ja, sie ist eben nicht nur Weib, sondern sie ist ein hart­gedrücktes Wesen- ein Proletarierweib:

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Wir können lang uns müh'n und plagen; Das Unglück folgt uns auf dem Fuß. Wer wüßte nicht, mit welchen Opfern Man sich sein Recht erkämpfen muß! An jenem Tag folg ich den Braven Und führ all uns're Kinder her-! O, nicht so heißen Kuß, mein Alter! Wir wollen keine Sklaven mehr!

Und auch die Liebe selbst, die wahrste und un­eigennützigste Hingebung zweier Wesen aneinander, wie oft wird sie pietätlos entweiht und mit Füßen

getreten von jenen Mächten der Disharmonie, die auf allen Gebieten menschlichen Strebens ihren zer­sezzenden und hemmenden Einfluß geltend machen! Der tabte Besitz gebietet den heiligsten Empfindungen! Sie ist eine triviale Geschichte, die Geschichte von den Liebenden, die sich einander nicht angehören durften und aus Verzweiflung darüber den Tod such en trivial, und doch immer neu; und doch immer gleich schmerzlich und empörend für die un­freiwilligen Zeugen.

Der schon genannte Olivier Souêtre ist es, der in einem außerordentlich stimmungsvollen Gedicht einen neuen Beitrag zu diesem alten Thema liefert.

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Sie waren Beide jung und liebten sich mit der ganzen Gluth ihrer schwärmerisch- eraltirten Herzen. Aber sie war reich und er besaß nichts Grund genug, damit der hartherzige Vater dem sinnlosen Verhältniß" dadurch ein jähes Ende bereitet, daß er seine Tochter in ein frommes Institut steckt. Dort soll sie büßen für die heimlichen Zusammen­fünfte, die sie dem Liebsten gewährt draußen, draußen, in stiller Nacht, am traumumwobenen Ufer der Seine. Er hat sich indessen in seinen Zähmungs­versuchen getäuscht. Die Taube rückt ihm aus:

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Aus dunkler Zelle floh's in später Stunde; Und als die Wächter schliefen in der Runde, Sah Niemand sie beim letzten Stelldichein... ,, Rausch der Liebe, heilger Quell der Thränen! Verzweiflungsqual durchglüht vom letzten Sehnen! Und letzter Gruß erstickt von heißem Munde Ihr Herzensmächte, sagts und gebt mir Kunde: Was wars, das in dem fiebernden Umarmen Des Abschiedskusses trübt den Geist der Armen? ,, Denn wie als ob es unten heimlich riefe Nach Lebensmüden, die die Welt betrogen, So neigten sie sich jählings ob der Tiefe Und stürzten eng umschlungen in die Wogen.

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" Indessen gaukelt in der nächtgen Ferne Ter Wolkenschäfer durch das Himmelsall; Verliebten Auges grüßen alle Sterne; ... Jm blumigen Flieder fang die Nachtigall."

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Das sind einige Proben sozialistischer Poesie aus Frankreich  . So unvollkommen sie sein mögen, so beweisen sie doch, daß auch die L.rik jenseits des Rheins einen Stab geachteter und talentvoller Ver­treter aufweist, die in der rücksichtslosen Bekämpfung der geistigen und materiellen Sklaverei des Volkes ihre Mission erblicken. Ueber den Gesammtwerth

ihrer lyrischen Produktion, im Vergleich zu den neueren literarischen Erzeugnissen der übrigen Kultur­staaten, läßt sich noch kein abschließendes Urtheil fällen. Aber so viel erscheint sicher, daß, gleich wie die sozialistische Partei, der sie angehören oder nahe ſtehen, in den letzten zehn Jahren innerlich und äußerlich gewaltig erstarkte, auch ihr Einfluß enorm gewachsen ist. Und nichts ist begreiflicher: Sind sie doch, während die Leier aller Vertheidiger der gegenwärtigen Weltordnung immer noch um mit Jaur's zu reden auf das alte Lied des menschlichen Elends gestimmt ist sind sie doch die Herolde, die von der Zinne der höheren Er­fenntniß herab das nahe Ende der proletarischen Knechtschaft und den Anbruch besserer Zeiten ver= fünden.

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In der Ferne dämmern sie schon herauf. Ein junger Dichter, Namens Légois, dessen hübsches Sonett 3u neuen Gestaden!" wir hier noch folgen lassen, zeigt uns schon den glühenden Schein am Horizont das Sinnbild der nahenden Ge­rechtigkeit und Menschenliebe:

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Ich fühl der Hoffnung Schwingen wundersam sich regen, Ins Meer versinkt der Heimath öder Strand; Dem fremden, unbekannten, fernen Land Trägt unser Fahrzeug Kind und Greis entgegen. Wie schön, wenn bleichend schon des Himmels Sterne Und träumend ziehn am dunklen Aetherzelt, In hohem Lied zu künden dieser Welt: Das Morgenroth glüht purpurn in der Ferne! Wie winken schon die glücklich- freien Küsten! In raschem Tempo fliehn die nächtgen Stunden; Und in den Lüften quilts wie reicher Segen. Die Ruder hoch, zu marfig- kräftgen Schlägen! Die stolzen Wogen lachen ihrer Wunden Und Hoffnungsfreude wallt in unsern Brüsten!

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In der Redaktion einer Arbeiterzeitung.

Sfizze von R. Tesselaar.

8 ist zwölf Uhr Mittags. Von der herrlichen Frühlingssonne warmen Strahlen verniögen feine in den Flur des vierstöckigen Haujes zu bringen, in dem sich die Druckerei der Arbeiter­zeitung befindet. Es herrscht hier auch um diese Zeit ein Halbdunkel, und nur mit Mühe ist das an der Vorsaalthüre der ersten Etage angebrachte Schild zu lesen:

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Nedaktion der Arbeiterzeitung.

Sprechstunde von 12-1 Uhr.

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Und sehr zahlreich sind die Personen, welche wie fast alle Tage das Schild lesen, heute ein Weile sinnend stehen bleiben und dann zaghaft auf den Knopf der Klingel drücken.

Frauen und Mädchen in ärmlichen aber sauberen Kleidern und Männer meist in Arbeitskleidern füllen bald den kleinen Vorsaal, der als Wartezimmer dient und von den matten Strahlen einer grünlichen Ampel schwach beleuchtet wird. An den aschgrau getüuchten Wänden hängen einige Bilder, Kunst­beilagen aus dem Wahren Jacob", in einfache, schwarze Leisten gerahmt: Das Maienfest der Arbeiter";" Rouget de Lisle   trägt in Straßburg  das erste Mal die Marseillaise   vor";" Camille Desmoulins   im Garten des Palais Royal  ". Auch ein Bild von Karl Marr lugt aus einfachem Nahmen mit seinem mild lächelnden Gesichte auf die sorgenvoll drein schauenden Gestalten, welche, in Gedanken versunken, auf Stühlen dicht gedrängt beisammen sizzen oder, Zerstreuung suchend, die Bilder an der Wand betrachten. Redakteure eilen haftig an den Wartenden vorbei, Manuskript in die Druckerei bringend; Sezerlehrlinge bringen und holen Korrekturbogen.

Die Wartenden betreten der Reihe nach ein Redaktionszimmer, das höchst einfach ausgestattet ist. Ein Redakteur sitzt vor einem einfachen, lackirten Schreibtische; Zeitungen liegen verstrent auf einem Tangen, viereckigen Tische. Gesetzbücher und Leifa füllen ein hohes Bücherregal, welches die eine Wand gänzlich bedeckt. Ein Bild von Engels bildet neben einer Landkarte den einzigen Schmuck der Wände. Eine Thür führt in ein zweites Zimmer, in welchem zwei Redakteure arbeiten. Von der Straße herauf zwei Redakteure arbeiten. ertönt der Lärm vorüberziehender Schulkinder, das dumpfe Gerassel der Wagen und das lästige Ge­klingel der Straßenbahn. Ein warmer Sonnen­strahl dringt durch das hohe Fenster und zeichnet, ſpielend, kleine Kringel auf den weißen Bogen Papier  , den sich der Redakteur zu Notizen zurecht gelegt hat; in seinem hellen Scheine führen Eintagsfliegen, von der Wärme angezogen, einen munteren Reigen auf. Wie sie sich tummeln, die kleinen Thierchen, um die wenigen Stunden ihres Lebens zu genießen!

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Aber so erzählen Sie doch, bitte!"

Die Frau weint und schluchzt in einem fort. Sie ist etwa dreißig Jahre alt, schlank, mager; ihr blasses Gesicht mit den hohlen Wangen, den tiefliegenden, verweinten Augen und den herab­gezogenen Mundwinkeln hat einen bitteren, weh­müthigen Ausdruck. Um den Kopf hat sie ein altes gehäkeltes Kopftuch gebunden; ihre Kleidung ist äußerst ärmlich, Alles verräth die granenhafte Armuth, das Elend und den Kummer ihres trau­rigen Daseins. Lange vermag sie feine Worte hervorzubringen; die Thränen rollen ihr unaufhörlich über die Wangen.

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Plößlich ringt es sich aus ihrer Brust wie in Verzweiflung: Man hat mir meine Kinder weg­genommen, Herr Redakteur! Ach, helfen sie mir, helfen Sie mir! Ach, meine armen Kinder! Wie herzlos, wie herzlos!"

Und nun weint und schluchzt sie wieder. Nach einer Weile erzählt sie:" Wir wohnen in der M.- straße in der vierten Etage. Mein Mann ist Tagelöhner. Wir haben zwei Kinder, einen Jungen von neun und ein Mädchen von sieben Jahren. Das Mädchen ist immer kränklich, auch