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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Goethe und Heine stellen. Hören wir eine Probe, die ich, zum Theil freilich, um die Neime zu wahren, nicht ganz neuhochdeutsch umsetzen kann.

Der Sänger fragt die Gelicbte:

Wie ist Tir gewesen?

Sie antwortet:

Das fann Niemand voll lesen

Noch ausschreiben,

Und wäre das Meer Tinte

Und der Himmel Perminte( Pergament)

Und alle Sterne daran,

Beide, Sonne und der Man( Mond), Gras, Gries( Sand) und Laub,

Dazu der kleine Sonnenstaub,

Wären die ein Schreiber- und Pfaffenheer*

Ihnen Allen wär es zu schwer, Daß sie ausschreiben und auslesen Könnten, wie sanfte mir gewesen, Die Zeit däuchte mir nicht lang, Vor meinen Ohren war ein Gesang, Wie wenn Vöglein sängen

Und tausend Harfen klängen; Wundersames mir geschah:

Vor den Augen wars, als säh ich da Rothen Rosen in dem Thaue In einer grünen Aue.

Zu derselben Stunde

War mir in meinem Munde

Honig und Zuckermehl,

Das floß süß durch meine Kehl .

So lang ich in der Freude lebte

Wars, wie wenn ich in Lüften schwebte. Ich hatte nirgend ein Glied so kleine, Nimm die Märe gläubig auf!

Wo nicht, laß ein Fiedler drauf,

* Die Pfaffen hier als die schreibkundigen Gelehrten zu fassen.

Und siedelten Alle den Albleich,* Daß mir mein Sinne gar entweicht( daß ich fast von Sinnen fam),

Daß ich nicht hörte mehr, noch sah So wunderlich mir da geschah!

Das könnte ein heutiger Naturforscher oder ein Professor der Physiologie geschrieben haben. Die Sonnenstäubchen können gut für eine Ueberseßung der Atome gelten, und die kleinsten, in wonnige Schwingungen versezten Glieder, fann man recht gut mit Nerven übersezen. Man sieht, daß das angeblich finstere, barbarische Mittelalter schon recht feine Beobachter der Natur besaß.

Wie entstehen Kosenamen und Schmeichelnamen? Dem Lallen und Stammeln der Kinder bilden die Eltern Kosenamen nach; wie die Kinder sich selbst, oder wie die Nesthäfchen die älteren Geschwister oder andere Personen nennen, so nennen im trauten Familienverkehr die Eltern und Erwachsenen jene Personen selbst wieder. So nannte sich und nannten wir alle im Hause eine Zeit lang ein kleines Mädchen, das Hilde heißt, weil sich das besser sprechen ließ: Dinne. Aus ihrem Bruder Wolfgang ward ein höchst unheimlich klingender Wuwah. Eine kleine Eine fleine Hedwig meiner Bekanntschaft hieß kraft ihrer eigenen Umtaufe Pipig.

Liebe und Zärtlichkeit des häuslichen Herdes und anderer traulicher Vereinigung bilden ihr wunder­sames Titelwesen und ihr eigenes Zeremoniell aus. Miez, Mieke, Mäuschen, Stift, Muß, Karlemann, Heinz( von Heinrich), Friz( von Friedrich) sind gebrauchsbequeme Abkürzungen, bequem gemacht vom

* Den Kuhreigen, dessen herzbethörende, heimweh­weckende Kraft später so manchen schweizer Söldner zum ,, Desertiren" nöthigte, wie das alte Volkslied zu Straß­ burg auf der Schanz" so ergreifend berichtet.

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Aus dem Papierkorb der Zeif.

Kinde selbst, das den Namen so fürzt, oder von den Eltern und Erziehern, die ihm vorarbeiten nach dieser Richtung.

Der Familienfremde selbst wird mit einbezogen in die Familientraulichkeit, zunächst insofern, daß er die Kinder mit freundlichen und ehrenden Namen belegt, um deren Eltern angenehme Musik in die Ohren klingen zu lassen. Da sagt er wohl von dem kleinen Knirps: Na, da ist ja der Stamm­halter, der Erbprinz, das kleine Fräulein usw.

Vom Hauch der Familienliebe und Haustraulich­feit werden zum Dank im Plaudern mit dem Kinde auch diese blutfremden Leute geadelt, und die männ lichen Geschlechts zu Onkeln", die weiblichen Ge­schlechts zu Tauten" ernannt. Das ist ein prächtiger

dem von allgemeiner Menschenliebe, den das Kind, den die zarte Jugend ausstrahlt und uns harte, egoistische, berechnende, erwachsene Menschen auf Augenblicke in das Paradies der kindlichen Unschuld zurückzaubert: ein wonniger Segen für Den, der ihn zu fühlen noch Herz genug hat. Und Mancher, von dem mans nicht glaubte, hats wieder empfinden gelernt unter dem erziehenden Einfluß unschuldiger Kinder, den jeder Vater, jede Mutter sicherlich au sich nachzuspüren vermag, wenn sie nur drauf achten mögen. Wenns keine Kinder gäbe, wären die Menschen ganz gewiß noch tausend Mal schlechter, als leider schon so gar viele von ihnen sind.

Gelt, lieber Leser, schöne Leserin, der alte Logau hat Recht: Unsere Sprache hat viele Register und Töne, vom Säuseln des Zephirs bis zum Krachen des Donners, vom Zwitschern des Vogels bis zum Brüllen des Leuen! Wie prächtig läßt sich auf dieser Orgel phantasiren, jubeln und jauchzen, zürnem und klagen.

Allah braucht nicht mehr zu schaffen! Wir erschaffen seine Welt!

Löwenritt.

( 8u unserem Bilde.)

Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen, Wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen. Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert- er im Rohre; Zitternd über dem Gewalt'gen rauscht das Laub der Sicomore..

Abends, wenn die hellen Feuer glühn im Hottentotten­fraale,

Wenn des jähen Tafelberges bunte, wechselnde Signale Nicht mehr glänzen, wenn der Kaffer einsam schweift durch die Karroo, Wenn im Busch die Antilope schlummert, und am Strom das Gnu:

Sieh', dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,

Daß mit der Lagune trüben Fluthen sie die heiße, schlaffe Zunge fühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken, Knieend schlürft sie langen Halses aus dem schlamm­gefüllten Becken.

Plötzlich regt es sich im Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken

Springt der Löwe; welch ein Reitpferd! sah man reichere Schabracken

In den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen, Als das bunte Fell des Renners, den der Thiere Fürst bestiegen?

In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne; Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe

Mähne. Mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt; Eich', wie Schnelle des Kamceles es mit Pardelhaut vereinigt.

Sieh', die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen!

Starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen; rieselnd fließen

An dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen,

Und das Herz des flücht'gen Thieres hört die stille Wüste klopfen.

Gleich der Wolke, deren Leuchten Israel im Lande Yemen Führte, wie ein Geist der Wüste, wie ein fahler, luft'ger Schemen,

Eine sandgeformte Trombe in der Wüste sand 'gem Meer, Wirbelt eine gelbe Säule Sandes hinter ihnen her. Ihrem Zuge folgt der Geier; frächzend schwirrt er durch die Lüfte;

Ihrer Spur folgt die Hyäne, die Entweiherin der Grüfte; Folgt der Panther, der des Kaplands Hürden räuberisch verheerte; Blut und Schweiß bezeichnen ihres Königs grausenvolle Fährte.

Zagend auf lebend'gem Throne sehn sie den Gebieter sitzen,

Und mit scharfer Klaue seines Sizes bunte Polster rizen. Rastlos, bis die Kraft ihr schwindet, muß ihn die Giraffe tragen;

Gegen einen solchen Reiter hilst fein Bäumen und kein Schlagen.

Taumelnd an der Wüste Saume stürzt sie hin, und röchelt Teiſe.

Todt, bedeckt mit Staub und Schaume, wird das Roß des Reiters Speise. im Osten, sieht man Frühlicht glänzen;-

Ueber Madagaskar , fern So durchsprengt der Thiere

König nächtlich seines Reiches Grenzen. Freiligrath.

Fürstliches Vergnügen. Johann Kasimir, König von Bolen( 1648-1668), der sich mit der Wittwe seines Bruders Hans, Maria Ludovika , einer Französin, ver­mählt hatte und ganz von ihr beherrscht wurde, berief auf ihren Wunsch eine französische Schauspielertruppe an seinen Hof, welche Pantomimen unter freiem Himmel vorführte. Eines Tages stellten diese Lente eine Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen dar, die mit der Ge­

fangennahme des deutschen Kaisers endete, denn zu jener Zeit war dieser Monarch bei den Polen nicht gut au­geschrieben. Die Zuschauer, Edelleute des Hofes und der Umgegend, saßen bewaffnet zu Pferde. Als der Feind besiegt war und der Kaiser mit Ketten belastet dastand, rief ein Zuschauer, der die Sache für Ernst nahm: Tödtet diesen Hundesohn, damit der König von Frank­ reich das Reich erhält und, so Gott will, auch König von Polen wird." Bei diesen Worten nahm er cinen Pfeil aus dem Köcher und scheß ihn auf den vermeintlichen Kaiser ab, die anderen Edelleute folgten seinem Beispiel und eine Wolfe von Pfeilen ergoß sich über die unglück­lichen Schauspieler, welche, zum Theil erheblich verwundet, schleunigst das Weite suchten. Die Königin war über diesen tragischen Ausgang des Spieles höchlichst entrüstet, der König aber lachte aus vollem Halje.

Gedankensplitter.

Durch seiges Dulden und Zulassen ist viel mehr Unrecht und Elend in die Welt gekommen, als durch siegreiche Gewalt. Die Beschränkung der natürlichen Selbsthülfe und das Christenthum haben nach dieser Richtung ganz gewiß viel Unheil angerichtet. Tell.

Die Kunst des Regierens besteht darin, daß man zur rechten Zeit streichelt, zur rechten Zeit eine Ohrfeige giebt. Fürst Orlow.

In der Urzeit war die Arbeit eine Noth, im Alter­thum eine Last, im Mittelalter eine Kunst( ein Privi legium, ein Vorrecht), in der Neuzeit ist sie ein Recht, in Zukunft wird sie eine Pflicht sein; das Ideal ist, daß sie eine Lust werde. Weichold, Geschichte der Arbeit.

Ich arbeite vielleicht, ich will nicht sagen mehr als andere Gelehrte, aber gewiß mehr als die Welschen, aber ich arbeite meine eigenen Einfälle aus, und ich würde nicht halb so viel machen, wenn ich verbunden wäre, es zu thun, der für Andere beschäftigt wäre.

Winkelmann, Brief an einen Freund. Unter hundert Menschen ist Einer, der denken, unter Rustin. tausend, die denken, Einer, der sehen kann.

Nachdruck des Juhalts verboten! Alle für die Redaktion bestimmten Sendungen wolle man an Edgar Steiger , Leipzig , Elisenstr. 90, richten.

Berantwortl. Redakteur: Edgar Steiger , Leipzig.- Verlag: Hamburger Buchdruckerei u. Berlagsanstalt Auer& Co., Hamburg.- Druck: Max Bading, Berlin .