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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

bissen über das, was es in fünfzig Jahren an den einstigen Kampfgenossen und Helfern in grimmer Noth gefrevelt hat, herantreten an die Bahre des erschlagenen Siegfried, ohne daß die Wunden beim Nahen der Mordmeiler", d. i. der mit Mordblut Befleckten, von Neuem zu bluten beginnen?

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Es wiederholte sich vor Kurzem in Berlin   das lustige Schauspiel, das weiland mit dem Heine­Denkmal aufgeführt wurde, dem keine Stadt Deutsch­ lands   gastliche Aufnahme gewähren wollte, so daß der Heine- Lorelei- Brunnen des deutschen   Künstlers über das große Wasser zu den ,, Gleichheits- Flegeln" des nordamerikanischen Freistaates verschlagen wurde. Wie viel schlaflose Nächte und was für schweres Kopfzerbrechen mag den Stadtvätern von Berlin  die Frage" eines Denkmals für die Märzgefallenen von 1848 ge­fostet haben! Ja, wenn es eine steinerne Allee von Hohenzollern­fürsten gewesen wäre, um die es sich handelte! So aber handelte es sich um Leute, vor deren Leichen ein Hohenzoller genöthigt worden, den allerdurchlauchtigsten Hut ab­zuziehen: das ist bei Weitem heifler und brenzlicher!

Sie möchten gern und wagens nicht, Das heißt dann Recht und Pflicht! Die denken können, fagens nicht, Die Meisten denken nicht!

Das verfluchte Denken! Die entsegliche Erinnerung! Wie Lava siedend brennt sie ihnen im Hirn; das Waidsprüchlein von den " Jugendeseleien" will nicht vor­halten, nicht lindern die Pein des Bewußtseins, einstens einmal noch nicht nationalliberaler oder obrig= feitlich approbirter Freisinniger" gewesen zu sein, sondern Bundes­genosse des ehrlichen, ach, aber so gar gemeinen", so wenig hoffähigen Proletariers

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mit

der schwielengeschmückten Hand! Müßte man da vielleicht doch am Ende dem+++ Sozialdemokraten die Hand reichen und ihn entsetzlich zu sagen! Bruderherz drücken?

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an das

Brandes sagt mit Recht:

Das Jahr 1848 hat eine ent­

scheidende geistige Bedeutung. Es

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Ein Grenzjahr ward es auch, bezeichnend einen Markstein, an welchem Bürgerthum und Proletariat welches lettere zum ersten Male als selbstbewußte aber noch nicht selbstständig handelnde Klasse auf der Weltbühne auftrat allgemach voneinander sich sonderten und immer mehr und mehr getrennte Wege verfolgten.

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Reuelos und mit reinem Herzen und reinen Händen können die Nachkommen der Proletarier von 1848 heute auf jenen Malstein zurückblicken. Höchstens wäre die Gutgläubigkeit, das treuherzige Höchstens wäre die Gutgläubigkeit, das treuherzige Vertrauen auf die ehemaligen Kampfgenossen Anlaß Vertrauen auf die ehemaligen Kampfgenossen Anlaß zu leiſem Selbstvorwurf. Die Neue überlassen wir Denen, die da gesündigt haben. Und das sind nicht wir!

... GOTH  .

wird in Europa anders gefühlt, gedacht und geschrieben als vorher. Dieses Jahr ist die rothe Tren nungslinie, welche unser Jahr­hundert literarisch theilt und Epoche macht. Es war ein Jubeljahr, wie das, welches die alte hebräische Gesetzgebung für jedes fünfzigste Jahr stiftete, das, in welchem über das ganze Land mit Posaunen geblasen, welches heilig gehalten und in welchem" Freiheit für Alle, die darin wohnen", ausgerufen werden sollte.( III. Moses 25, 8 ff.) Es war dieses Jahr mit seinem schnellen Pulsschlag, mit seiner Alles beherrschenden Jugendlichkeit wie jenes biblische Jubeljahr, ein Jahr der Zurückerwerbung, der Einlösung, wo ,, die, welche verkauft waren, losgekauft wurden." Noch heutzutage ist Jugend aus Märztagen, Erfahrung aus seinen Novembertagen zu schöpfen.

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Es ist das Jubeljahr, das Trauerjahr, das Grenzjahr."

Ja, fürwahr, Brandes hat auch Recht, wenn er bemerkt: Es gab ein paar Monate, in welchen etwas vom Schönsten in der Menschheit hervortrat und mit überraschendem Glanze strahlte."

Das gilt nicht nur von der Literatur und Dichtkunst!

Hieronymus Holzschuer.

Darum bleibt für uns 1848 ein Jubeljahr, dessen fünfzigste Erinnerungsfeier erhobenen Hauptes und fröhlichen Herzens begangen werden kann. Doch auch freilich ein Trauerjahr. Das Besonnene ist damals nicht zu Ende geführt worden: die Zeit war noch nicht erfüllet," wie die Bibel sagt. Darum sind freilich Sträuße und Kränze von Veilchen des Märzen 1848 bethaut mit Thränen und Blut!

Aber Dank und Ehre allen Denen, die damals litten und stritten, starben und verdarben, allen Denen auch, die da treu blieben aus dem Bürgerthum, wie Wenige ihrer auch seien, die allzeit zu handeln und zu leiden bereit waren und sind, für gemeine Frei­heit und Wohlfahrt Aller.

Ihr aber, Proletarier Europas   und der übrigen Welttheile, vereinigt Euch: Ihr seid die Testament­vollstrecker des tollen", des erhabenen Jahres 1848.

Gerichtsrath Johnmann.

Novelle von G. Macasy.

( Fortsetzung.)

as Leben im Hause des Nathes verlief lange Zeit eintönig und ohne Unterbrechung. Einen dürftigen Ersatz für seine verlorene Thätig­keit fand der Rath in seinen Sammlungen. Er konnte Stunden lang davor sißen und ordnen und zählen. Aber bald hatte auch dies den Neiz der Neuheit für ihn verloren. Nur die Freude am Besiz blieb übrig und die Begierde, ihn zu vermehren. Aber sein Denken füllte es nicht aus.

Da kam der Rath auf eine neue Idee: er träumite von dem, was er sein ganzes Leben gethan hatte. Er träumte von Ver­

brechern, die ihm übergeben worden waren und für deren Schuld er die Beweise sammeln

mußte. Er ersann sich die schwie­

rigsten Fälle, solche, in denen er sich in seiner ganzen Glorie als Seelenpeiniger zeigen konnte. Er plünderte alle Gebiete des Ver­brechens, der Leidenschaft, des Wahnsinns, und stattete seine Opfer mit aller Klugheit und List aus. Er erschwerte sich seinen imaginären Beruf, damit der Sieg desto ruhmvoller erscheine. Die Seelenqualen aber, die er für seine Opfer erdachte, dehnte er in das Unermeßliche aus.

Langsam glitt er heran und wob das Netz. Langsam zog er die Fäden zusammen und ließ nur so viel Raum, daß sich das Opfer noch ein wenig bewegen konnte und das Gefühl der Frei­

heit und Sicherheit hatte. Dann holte er langsam und überlegen zum ersten Schlage aus. Wie das traf! Wie sich das Opfer zuckend wand und die fürchterliche Macht fühlte, in die es gerathen war! Dann aber zog er sich wieder zurück und ließ die Fäden ein wenig locker. Nun wird es hoffen, nun wird es denken! Er malte sich alle die Prozesse aus, die nun in jenem vor sich gingen. Er verstärkte und ver= tiefte diese Prozesse, um den Reiz des Spieles zu erhöhen. Er zog tünstliche Seelenmomente hinzu und dachte sich feine, empfindsame Naturen, in denen die Krisis schrecklicher wird. Und so nahm er aus seinem Opfer ein Stück Leben nach dem anderen heraus, er riß und zerrte daran, streifte es ab wie mit glühenden Zangen oder stumpfen, brennenden Messern, und präparirte die lebende, zuckende Seele so langsam, langsam, daß ihr kein Atom des wahnsinnigsten Schmerzes erspart blieb, daß sie alle Stadien der Qual durchempfinden mußte.

Dann erst, wenn nichts mehr für seine Freude und Grausamkeit übrig blieb, wenn er alle Mittel, das letzte Leben noch und das letzte Bewußtsein zu erhalten, erschöpft hatte, dann versezte er dem aus allen Wunden der Seele Blutenden den kalten, sicheren Todesstoß.

Bei diesen Vorstellungen, in denen ihn oft ein einziger komplizirter Fall für eine Woche in An­spruch nahm, erregte sich sein Gehirn in fieberhafter Weise.

Alle die Qualen, die er für die Opfer seiner Phantasie ersann, mußte er selbst durchmachen; den ganzen Prozeß der Seelenzerfleischung erlitt er an der eigenen Seele. Er stand nun nicht mehr, wie früher, als falter und lauernder Beobachter da, sondern er spielte alle Rollen selbst. Bald war er der unter grausamer Schadenfreude und wilder