Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

alle menschlichen Institutionen stehen und wie alle fonstruirten Rechtsbegriffe stets an Raum und Zeit gebunden sind. Sobald diese Momente überwunden sind, fallen sie in ein inhaltløses Nichts zusammen. An Bord eines modernen Auswandererschiffes läßt man vorgefaßte, auf traditionellen Vorstellungen be­ruhende Meinungen oft erstaunlich schnell fallen. Hierin giebt sich der Einfluß fund, den die moderne Völkerwanderung, die in der Bildung eines neuen Menschengeschlechts jenseits des großen Wassers ihren Abschluß findet, auf Jeden ausübt, ohne daß ihm die Veränderung recht zum Bewußtsein gelangt.

Der erste Tag verging ohne weitere Aufregungen, wenn ich von der Abendmahlzeit, die unter striktester Beobachtung derselben lieblichen Formen vor sich ging, absehe. Das Meer war ruhig und der Gesundheits­zustand der Passagiere daher fast durchweg ein guter, nur hin und wieder sah man Jemand mit gesenktem Kopf und trübseliger Miene einherwandern, ein un­trügliches Zeichen, daß bei ihm die Seekrankheit im Anzuge war. Die anbrechende Dämmerung ver= anlaßte mich, die Lagerverhältnisse einer eingehenden Revision zu unterziehen. Ich stieg die enge, schlecht beleuchtete Treppe hinunter, ein furchtbarer Brodem wehte mir entgegen, ein undefinirbarer Geruch, die menschlichen Ausdünstungen waren mit jenem an Heringslate erinnernden charakteristischen Schiffs­geruch eine Verbindung eingegangen, dazu gesellte sich jenes penetrante Odeur, das allen Knoblauch verzehrenden Völkern anhaftet. Wer jemals im Zwischendeck den Ozean durchkreuzt hat, wird dieses grausige Gemisch der intensivsten Gerüche aller Art nie ganz aus seiner Vorstellung verlieren, ferner Stehende können sich aber die Wirkung dieser ver­pesteten Atmosphäre auf unser Geruchsorgan nicht veranschaulichen, da der Sprache die bildliche Dar stellungskraft nach dieser Nichtung hin vollständig fehlt. Es kann der Dichter die äußere Erscheinungs­welt, die Gluth der Farbe, die Größe und Kraft der Elemente, den Donner, die Detonation des Meeres vor dem Leser schildern und mittelst seiner mehr oder weniger gestaltungsreichen Sprache ähn­liche Empfindungen in ihm hervorrufen, aber ebenso wie der Efel niemals das Objekt einer dichterischen Bearbeitung gewesen ist, versagt auch die schöpferische Gestaltungskraft, wenn es sich um die Schilderung jener penetranten Ausdünstungen handelt. Ob ich mich gerade diesen oder ähnlichen Reflerionen hin­gegeben habe, als ich die Treppen zum Zwischendeck himunterstieg, kann ich nicht mehr feststellen, mur weiß ich, daß mich damals das Gefühl der gänz­lichen Isolirtheit ergriff, ich fühlte mich als ein Verstoßener in dieser Höhle menschlichen Elends und physischer Verkommenheit. Ich mußte auf dem halben Wege umkehren, hinaus in die frische Abendluft. So verlief mein erster Afflimatisirungsversuch in meiner neuen Umgebung. Ich überlegte, was num zu thun wäre, ohne aber zu einem Entschluß zu gelangen; raftlos wanderte ich an Deck auf und nieder, bald war ich hier der letzte Gast, aber was kümmerte es mich! nur nicht zurück in die Pesthöhle! Aber der Mensch denkt und eine höhere Macht lenkt, in diesem Falle war der Lenker meines Geschicks der Schiffscerberus, der Obersteward, er offenbarte mir in seiner gerade nicht höflichen, aber durchaus ver­ständlichen Sprachweise, daß ich mich zu Bett zu scheeren hätte, um elf Uhr müßte er das Deck säu­bern", für Nachtpromenaden sei dies überhaupt nicht der rechte Ort. Was blieb mir weiter übrig, als den gefürchteten Weg wieder anzutreten, dabei wurde ich von dem Höchstkommandirenden des Zwischendecks scharf aufs Korn genommen, der sich überzeugen wollte, ob seine Befehle auch respektirt würden. Mit dem Muthe der Verzweiflung stiirzte ich mich auf mein Lager, unausgekleidet, denn Decken gab es im Zwischen deck nicht; diese schienen von der Schiffsverwaltung als ein gar überflüssiger Lurus betrachtet zu werden.

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In meiner Nachbarschaft ging es noch recht leb­haft her, in dem einen Revier wurden Wiße" er­zählt, am Tische saßen mehrere Kerls" und spielten Karten, die sie mit der allen Ungebildeten eigenen Wucht unter großem Geschrei hinwarfen; aus dem gegenüberliegenden Massenlager der Schlowaken" vernahm man fast durchweg ein gesundes Schnarchen,

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nur Wenige debattirten noch eifrig, Andere dagegen untersuchten die Futtereimer auf etwaige zurück­gebliebene Speisereste. Etwas abgeschwächt drang auch das Geschrei der Säuglinge aus der unten gelegenen Familienkabine zu uns. Ich versuchte zu schlafen, das Gesicht tief in den Strohsack ge­wühlt, so daß die von penetranten Gerüchen ge­schwängerte Atmosphäre nicht direkt mein Geruchs­organ treffen konnte. Vergebens. Morpheus wollte mich nicht umfangen. Dann stellte sich ein inten­siver, einseitiger Kopfschmerz ein, und dazu gesellte sich ein nagender Hunger, denn ich hatte seit dem Morgen feinen Bissen zu mir genommen, obgleich ich mehrere Würste und einen holländischen Käse mein eigen nannte. Fast entschloß ich mich, meinen Handkoffer zu öffnen, der diese Herrlichkeiten barg, aber sobald ich meine Umgebung ins Auge faßte, aber sobald ich meine Umgebung ins Auge faßte, versagte mir sofort wieder der Appetit. So wälzte ich mich apathisch von einer Seite zur anderen, immer in zusammengefauerter Haltung, da der Koffer noch ein Stück der an sich schon kurzen Bettstelle ein­nahm. Allmälig verstummte das Getöse und eine schwüle Ruhe breitete sich über den Raum aus, die von Zeit zu Zeit wieder durch die unartikulirten Laute des ersten Seekranken unterbrochen wurde... Endlich verfiel ich in einen von wüsten Träumen unterbrochenen Halbschlummer. Mir träumte von der trockenen Guillotine, von der ich irgendwo ein mal gelesen hatte, dann sah ich mich selbst an einem Galgen hängen und konnte nicht sterben. Plötzlich änderte sich die Szenerie, ich befand mich auf einem Schlachtfelde, wo gräßlich verstümmelte Leichen umherlagen, die einen widerwärtigen Geruch aus­dünsteten, dann erhob sich eine und warf nach mir mit dem weichen Schmuß der Landstraße. Mein Nachbar hatte die Seekrankheit, nur einen Augenblick, und ich begriff meine prefäre Lage. In rasender Gile stürzte ich die Treppe hinauf, eine Lichtwelle fluthete mir entgegen Luft, frische Luft, herrliche Gabe der Natur. Am Horizonte tauchte die Sonne in majestätischer Pracht auf, als ginge sie das Getriebe der Menschen nichts an. Das Meer war bewegter als Tags zuvor, es schimmerte in einem tiefen violetten Griin, zahlreiche Segel von Fischerbooten wurden sichtbar, in weiter Ferne konnte man mehrere Dampfer erblicken, wir befanden uns im Kanal, aus dem Morgennebel erhob sich die Stüiste Englands.

( Fortsetzung solgt.)

Ein kaiserlicher Satiriker gegen den Cäsarismus.

Von Spartacus.

s ist eine merkwürdige aber häufige Erscheinung der Literaturgeschichte, daß die schärfsten Satiren gegen die Kirche und ihre Mängel, Gebrechen und Sünden der Feder geistlicher Herren entflossen sind. Die Satiren der Art des Mittelalters haben zum größten Theil Mönche oder Priester zu Ver­fassern. Für die neuere Zeit nennen wir nur zwei fassern. Für die neuere Zeit nennen wir nur zwei Namen von Satiren schreibenden Theologen: Nabelais, den Pfarrer von Meudon  , und Swift, den Dechant von Sankt Patrick   zu Dublin  . Es ist begreiflich, daß diesen Schriftstellern bei ihren kritisch- satirischen Werken ihre genaue Sachkenntniß des Faches und aller einschlagenden Verhältnisse ganz wesentlich zu Statten kam, so daß ihre wohlgezielten Hiebe die wundesten und gefährlichsten Stellen trafen.

Dasselbe gilt auch von einer anderen Gruppe polemisch- satirischer Autoren: ich meine diejenigen, welche die Großen und Mächtigen der Erde, die Herren und Herrscher der Völker hechelten und selbst zu dieser Menschenklasse gehörten. Um auch für diese Gruppe von Schriftstellern einen allgemein bekannten Vertreter anzuführen, nenne ich Friedrich den Großen von Preußen, den Verfasser des Anti­Macchiavells, zu dem freilich bemerkt werden muß, daß bei dem absolutistischen Preußenkönig Theorie und Praxis zwei sehr verschiedene Dinge waren. Noch schärfer wendet sich Friedrichs Satire gegen Noch schärfer wendet sich Friedrichs Satire gegen die seinerzeit regierenden Fürsten   in einer Codicill"

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überschriebenen Arbeit. Darin führt er diese Herr­schaften wie die Thiere einer Menagerie als unfähige, zum Theil ganz elende Menschen der Reihe nach vor, nicht in unbefangenem Spott, sondern mit gallenbitterer Feindseligkeit freilich waren die von ihm Geschilderten zum Theil seine Konkurrenten! Zum Schlusse dieses fürchterlichen Gedichts", wie man es genannt hat, heißt es: So fahrt denn, Ihr Könige, dahin! Zur höchsten Würde steige Wahnsinn auf! Die Dummheit steure Euch auf gut Glück und Euer Schiff zerschelle!"

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Das römische Alterthum weist ebenfalls einen gekrönten Satiriker auf, mit dem sich die folgenden Blätter beschäftigen sollen: Julian, den Abtrünnigen, wie ihn die Christen zubenannt haben, der 361-363 1. Chr. regierte. Er zählt in der griechisch ge= schriebenen Literatur zu den unstreitig bedeutenden Erscheinungen. Vorwiegend ist seine schriftstellerische Thätigkeit kampflustig- satirischer Natur, und er wird oft mit dem ihm nahe verwandten Lukianos aus Samoseta zusammengestellt.

Man wird die Eigenart Julians am besten be= merken, wenn ich eine, und zwar seine bedeutendste, Schrift, eben die Cäsarensatire, eingehender schildere. Interessant sind mehr oder minder alle seine Schriften, seine Streitschrift gegen die Christen, seine religions­philosophischen Versuche zur Vertheidigung und Wieder­herstellung des Heidenthums, seine Satire gegen die üppigen Bewohner der Stadt Antiochia   u. a.

Das Werkchen über die Cäsaren führt uns zu­nächst ein Zwiegespräch zwischen Julianus   und einem vertrauten Freunde vor. Man befindet sich in der Zeit des Carnevals der alten Römer, der Saturnalien, die man mit Beschenkung von Verwandten und Freunden und allerlei geselligen Vergnügungen und Luftbarkeiten festlich zu begehen pflegte. Liebhaber der schönen Wissenschaften und Künste thaten dies, indem sie sich gegenseitig geistige Genisse zu bereiten suchten, Schöpfungen alter und neuer Dichter, auch eigene Werke einander vorlasen, über allerlei gelehrte und ästhetische Fragen disputirten und dergleichen mehr. Das thut denn auch Julianus, der, seinem Naturell und seinen Neigungen folgend, sich viel mit Philosophie und Rhetorik befaßt hat sein Leben lang. Er erzählt seinem Freunde eine Fabel, um ihm eine angenehme Unterhaltung zu bereiten.

Er knüpft an den Cäsarenkultus, die göttliche Verehrung der verstorbenen Kaiser, an und berichtet: Einst, als gerade auch die Saturnalien gefeiert wurden, veranstaltete der erste römische König und Gründer der später die Welt beherrschenden Stadt Romulus, der als Gott Quirinus titulirt ward, ein Festmahl, zu dem er alle Götter, auch die aus Herrschern Noms zu Göttern erklärten und als solche verehrten Kaiser einlud, für die in einem fleinen Abstand tiefer unter der Gasttafel der alten Götter das Mahl bereitet ist. Den Eintritt eines jeden Cäsars begleitet Silenos, der Erzieher und stete Begleiter des Bacchus, der sozusagen den lustigen Nath der Götter spielt, mit irgend einer komischen oder satirischen Bemerkung.

Zuerst tritt der Meuchler des römischen Frei­staats, Cajus Julius Cäsar, ein, nach dem sich alle folgenden Herrscher Cäsaren( woraus unser deutsches Wort Kaiser entstanden ist) nannten. Mit stolzer Haltung und kühnem Blick schreitet er einher, und Silenos ruft dem Vater und König der Götter und Menschen, Zeus  , zu:" Da kommt ein recht fecker Bursche, der nicht übel Lust zu haben scheint, Dir die Weltherrschaft abzunehmen. Sieh, wie groß und schön er ist, ungefähr so wie ich, wenigstens gleicht sein Kopf dem meinen." Silenos schont, um Lustigkeit zu erregen, auch sich selbst nicht in dieser Bemerkung, denn seine Bildung bei Dichtern und Künstlern des Alterthums ist nicht eben schön; man stellte ihn vor als einen dickbäuchigen, stumpf­näfigen, glasföpfigen Alten, oft trunken, mit Trau­ben, einem Weinschlauch oder mit seinem Reitthier, einem Esel, dar. Die Glaze aber war auch für Cäsar kennzeichnend; um ihretwillen soll er vom römischen Senat das Vorrecht sich erbeten haben, auch bei anderen Gelegenheiten als bei Triumph­zügen nach siegreichen Kämpfen einen Lorbeerkranz zu tragen, um seinen Mangel an Haaren zu verbergen.