98
-
Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
stürmiten, gehörten schon, ohne daß es ihnen recht zum Bewußtsein gelangte, mit allen Fasern der Neuen Welt an, nichts verband sie mehr mit der Heimath, nichts mehr mit den eigenen Landsleuten, mit denen sie die Ueberfahrt gemeinsam angetreten hatten. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß, sobald die Pforten des Zwischendecks sich öffnen, alle Beziehungen der Menschen zueinander gelöst sind. Die Reisebekanntschaften sind meistens nur von furzer Dauer, sie entwickeln sich schnell, aber sie enden auch mit dem Betreten des Festlandes. Dann und wann ein furzes" Adieu", mitunter auch ein gleichgültiger Händedruck: Laß Dirs gut gehen!" ,, Danke, gleichfalls," und man stürmt davon. In diesem Chaos hoffte ich auch meines treuen Begleiters ledig zu werden, aber seine Freundschaftsgefühle für mich wurzelten tiefer. Während ich noch vergeblich nach meinem Freunde ausschaute, faßte der Cowboy mich vertraulich unter den Arm, als wenn er meine schwarzen Gedanken errathen hätte. Was blieb mir nun weiter übrig, als mich seiner Führung anzubertrauen! Nach einer kurzen Zollrevision gaben wir unser geringes Handgepäck bei der nächsten Erpedition auf. Dann ging es hinüber nach New- York , das die ganze Fläche der Insel Manhattan Island mit seinem gewaltigen Häusermeer überzogen hat. Der majestätische Eindruck, den die Metropole der Neuen Welt auf jeden Einwanderer macht, schwächt sich gewaltig ab, sobald man die Straßen der unteren Stadt betritt. Hier tritt der amerikanische Krämergeist auf das Aufdringlichste in die Erscheinung. Längs der Uferstraße ziehen sich die großen Waarenspeicher und Verkaufsstände aller Art entlang, Gemüse und Früchte, Spezereien und Fleischwaaren werden hier aufgestapelt, um dann den Weg in die Läden der Kleinkrämer zu nehmen. Der Aufenthalt ist, namentlich an warmen Tagen, in diesem Stadttheil, der Vorrathskammer von New York , gerade kein sehr anziehender, die Straßen starren von Schmuß, die Luft ist stets von den Verwesungsgerüchen der Fleisch- und Gemüseabfälle geschwängert, dazu muß man einen betäubenden Lärm über sich ergehen lassen, über das holperige Pflaster rasseln hochbepackte Frachtwagen, vom Hafen her vernimmt man das Getöse der Maschinen, hierein mischen sich die gellenden Schreie der Ausrufer und die unartikulirten Flüche der Fuhrleute. Man ist froh, wenn man sich durch diese Gegend hindurch gearbeitet hat. Endlich gelangten wir zum Battay Part, der die südliche Spize von Manhattan Island einnimmt. Von hier aus genießt man einen wunderbaren Fernblick über die Hafenbay. Gegenüber auf einer kleinen Insel, uns das Gesicht zuwendend, steht die Freiheitsstatue, im Hintergrunde schließt Staten Jsland, die stolz aufstrebende Insel, das wunderbare Panorama ab; drüben, jenseits des Gastrivers, begrenzt die Kirchenstadt Brooklyn , von einem Gürtel von Schiffen eingerahmt, die Hafenbucht, und aus der Wasserfläche, die von großen und kleinen Fahrzeugen belebt wird, erheben sich mehrere, theilweise befestigte Inseln, die wie schwimmende Kastells erscheinen. Lange konnte ich mich nicht dieser abwechselungsreichen Szenerie erfreuen, denn mein Cowboy drängte weiter, da er mir noch die interessantesten Straßen und Punkte von New- York zeigen wollte. Wir steuerten in nördlicher Richtung auf den Broadway, die große Verkehrs- und Handelsstraße, los. Der erste Eindruck, den man hier empfängt, ist feineswegs zufriedenstellend, es scheint, als wären diese massigen Gebäude einem plötzlichen Gebot der Noth= wendigkeit entsprossen; trotz ihrer kolossalen Ausdehnung ist ihr Charakter ein provisorischer, die ästhetischen Gesichtspunkte sind von den rein praftischen vollständig in den Hintergrund gedrängt worden, den Häuserriesen, die in einer Höhe bis zu zwanzig Stockwerken und darüber in die Lüfte ragen, fehlt jede architektonische Anordnung, nirgends findet das Auge einen Ruhepunkt, auf dem es mit Vergnügen weilen könnte. Die wenigen öffentlichen Gebäude und Kirchen werden von der Wucht des Kaufhauses vollständig erdrückt, ängstlich schmiegt sich ein Kirchthurm an einen der Häuserriesen, als flehe er um Schutz. Einst beschattete die Kirche die gesammte profane Welt, in Amerika ist ihr nur ein bescheidener
-
Raum neben dem modernen Kaufhaus angewiesen die äußerliche Erscheinungsform für den Niedergang der Kirche. Wenn man überhaupt in der Straßender Kirche. Wenn man überhaupt in der Straßen architektur das symbolische Ausdrucksmittel des Zeit geistes erblicken will, so gelangt in der amerikanischen Architektur der wilde, ungeziigelte Geist der freien Konkurrenz zum prägnanten Ausdruck. Es scheint, als ob diese gewaltigen Steinmassen sich zu Formationen von ungeahnter Kraft verdichten wollten, aber mitten in ihrem Gestaltungsprozeß aufgehalten wären. Daher haftet ihnen der Charakter der Unfertigkeit unverwischbar an. Auf ein feineres ästhetisches Empfinden wirken diese ziellos übereinander geschich teten, unharmonisch gegliederten Massen verlegend. Man kann nicht frei aufathmen in dieser Umgebung. Mein Führer, der als echter Naturmensch ganz im Banne dieser außergewöhnlichen Erscheinungen stand, konnte nicht begreifen, daß mir diese„ Himmelstraßer" so wenig Respekt einflößen konnten. Bald ge= Bald gelangten wir zum Cityhall Park, dem Mittelpunkt der Geschäftsstadt. Es war um die Mittagsstunde. Der Verkehr hatte seinen Höhepunkt erreicht. Auf der östlichen Seite endet der große Viadukt der Hängebrücke, an den sich eine Hochbahnstation anreiht. Ein nimmer enden wollender Menschenstrom ergoß sich von der Brücke her auf den Platz, dazwischen rasten die Straßenbahnen, unaufhörlich läutete der Kondukteur, dann vernahm man die gellenden Rufe der Zeitungsjungen, und Alles über tönte das Geraffel der Hochbahn. Der Menschenstrom theilt sich nach nördlicher und südlicher Richtung; der eine Zweig fluthet an den schwindelhaft hohen Zeitungspalästen, wo dreimal am Tage die öffentliche Meinung Amerikas fabrizirt wird, vorüber und vertheilt sich in die Straßen der unteren Stadt; der andere Strom bewegt sich durch die Park Now der Bowery, der interessansteten und eigenartigsten Straße New- Yorks , zu. Auf dem Broadway hat die vornehme Handelswelt ihr Hauptquartier aufgeschlagen, auf der Bowery der kleine Schacher; hier werden nur Artikel zweiter Qualität in eben solchen Häusern und Ständen feilgeboten, Alles ist an diesem Orte zweitklassig, selbst die Menschen. Neben smarten Yankees feilschen russische Juden und Deutsche um die Wette, Italiener und Neger haben hier ein weites Operationsfeld gefunden. Die Bowery ist der Tummelplaz der New- Yorfer Straßentramps und des lichtplaz der New- Yorfer Straßentramps und des lichtscheuen Gesindels aller Rassen, sowie der heimischen und fremdländischen Schiffer und Abenteurer. Der Charakter der Straße ist vollkommen international, man hört englisch und deutsch sprechen, daneben aber auch polnisch und„ jüdisch", französisch und italienisch; hier befindet sich neben dem amerikanischen Restaurant eine deutsche Spießbürgerkneipe, Cafés, Theehäuser und„ Salons", daran schließen sich an die Massen abfütterungsanstalten zweiten Ranges und darunter - erstklassige sind ausgeschlossen, da diese den vulgären Attituden der Bowery nicht gerecht werden würden. Dann finden wir hier eine große Anzahl zweifelhafter Theater- und Vergnügungslokale und Hotels, vom dritten Range abwärts, Schaubuden und Wachsfigurenkabinette, Trinkhallen und Zeitungsstände, Schnellphotographen und fliegende Budiker vervollständigen das reich bewegte Straßenbild der Bowery. Der riesige Verkehr, sowie der daraus resultirende Lärm wirken lähmend auf die Nerven, man fann nur mit größter Mühe das Wort seines Nachbars verstehen. Unaufhörlich rasselt an uns die Straßenkabelbahn vorüber, über uns aber donnert die Hochbahn auf eisernen Pfeilern längs des Bürgersteiges dahin. Der Straßendamm der unteren Bowery ist sogar vollständig von der Hochbahn überbrückt, so daß hier ewige Dämmerung herrscht.
Das Volk, das auf der Bowery sein Wesen treibt, geht ganz in seine Umgebung auf, sein Horizont reicht kaum über die Querstraßen hinaus. Horizont reicht kaum über die Querstraßen hinaus. Für den New- Yorker Tramp ist die Bowery Heimath und Vaterhaus, stets fehrt er von seinen Streifzügen hierher zurück; für wenige Gents erhält er ein Nachtquartier, Nahrungssorgen fennt er nicht, er fechtet sich schlecht und recht durch, wenn ihm nicht eine fleine Arbeitsgelegenheit geboten wird.
Es war schon Spätnachmittag, als wir in eine der billigen Speiseanstalten einkehrten. der billigen Speiseanstalten einkehrten. Appetit
erregend sah das Lokal gerade nicht aus; auf den rohen Holztischen hatten die verschiedenen Speiseüberreste eine klebrige Schicht hinterlassen, die die Stelle einer Glanzdecke vertreten konnte. Der Fußboden war mit Sägespähnen bedeckt; um das lebel zu vervollständigen, bedienten einige schmierige Neger. Aber trotzdem ließen wir uns, ausgehungert von dem weiten Marsch, das frugale Mahl gut schmecken, ohne es auf seine Bestandtheile und Zubereitung hin näher zu prüfen. In anderen Zeiten hätte ich gewiß keinen Bissen in einer solchen Behausung zu mir nehmen können, aber noch stand ich unter dem Einfluß des Zwischendecks. Immerhin wäre auch eine weniger einfache Lebensweise unter den gegebenen Umständen nicht zu empfehlen gewesen, da meine ganze Habe aus einem Zwanzigmarkstück, das ich wie meinen Augapfel während der Fahrt gehütet hatte, bestand. Mein Cowboy duldete natürlich nicht, daß ich bei dieser Gelegenheit meinen Schaz anriß, und warf mit der Miene eines Mannes, der es dazu hat, eine Dollarnote auf den Tisch, um unsere ,, Menus" zu bezahlen. Dann nahmen wir unseren Rundgang wieder auf.
Von dem Tummelplaz der Parias der Gesellschaft begaben wir uns in die Fünfte Avenue, den Wohnsiz der Plutokratie. Welche Gegensäge! Dort trat die Verkommenheit und Dürftigkeit gänzlich ungenirt in die Erscheinung, hier eine distinguirte Zurückgezogenheit und Vornehmthuerei. Es war eine andere Menschenart, der man in dieser Straße begegnete, so wohlerzogen, so gesetzt in ihren Bewegungen; man sprach so verständig und lächelte so verbindlich kühl. Und die Nüchternheit und Poesielosigkeit dieser Menschen theilt sich auch unmittelbar ihrer Umgebung mit. Wohl reiht sich Palast an Palast, Kirche an Kirche, alle Stilrichtungen der Welt haben sich in der Fünften Avenue oft in ihren reinsten Formen ein Rendezvous gegeben, aber wir empfinden nicht den Geist und die Zeitströmung, die in dem jeweiligen Stil nach Ausdruck ringen. Es ist die geistlose Kopie einer alten Kulturwelt. Mir schien, als protestire der Stein selbst gegen das fremdländische Gewand, in das man ihn hineingezwängt hat. In jeder Anlage offenbart sich die Gedankenarmuth eines hoch gekommenen Geschlechts, das nur mit seinem Gelde, aber nicht mit geistigen Gütern glänzen kann. Es liegt schon in der Massenhaftigkeit dieser Paläste etwas Gewaltthätiges. Was sind auch die zahlreichen Kirchen und Tempel Anderes als eine progenhafte Schaustellung ad majorem divitiarum gloriam unter der Maske der Religiosität und der Toleranz! Hierin äußert sich die Bethätigung einer Kultur, die, auf einen Wildling gepfropft, wohl in die Breite wachsen, aber nicht in die Tiefe dringen kann.
Mit
Zur Bowery zurück. Trotz aller seiner Schattenseiten zieht mich das bewegte Volfsleben mehr an, als die prosaischen Attituden der Plutokratie. Man mag die Bowery mit einer gewissen Scheu betreten, und doch kann man sich ihres romantischen Zaubers nicht erwehren. Wir gehen in eins der beliebten Dime- Museen, das sind die Raritäten- Kabinette, in denen die seltsamsten Wundermenschen, schauderhafte Wachsfiguren und allerlei Spezialitäten für die geistige Erbauung des Bowerymenschen sorgen. naiver Andacht lauscht man den sonderlichen„ Kunst"= Produktionen. Dort sißt auf hohem Podium ein Damenkorps, das mit fabelhaftem Eifer der friedlichen Beschäftigung des Holzsägens obliegt; daneben befindet sich eine schwarze Tafel, auf der ein Buchmacher den Record verzeichnet. Das Publikum verfolgt die Thätigkeit der Schönen mit gespannter Aufmerksamkeit, mein Cowboy ist ganz durch den Vorgang absorbirt. Dann fiel eine Klobe krachend zu Boden, ein Beifallssturm brach los, der Schönen, welche sie durchsägt hatte, wurden wilde Ovationen dargebracht. Die nächste Attraktion des Abends waren die stärksten Radlerinnen der Welt. Die Braven mußten zum Gaudium der Masse auf feststehenden Zweirädern bis zur Erschlaffung strampeln; die zuletzt vom Plaze wich, wurde als die Heldin des Abends gefeiert. Darauf traten, um auch dem Nationalgefühl der geschäßten Besucher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, amerikanische, deutsche und