Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
italienische Bänkelsänger und Chansonnetten auf. Gin Deutscher sang höchst andächtig und gefühlvoll das Lied:" Zu Mantua in Banden". Die Menge schwieg bewegt, und als der Wackere zum Schluß bei den Worten:„ Ach, wie schießt Ihr schlecht!" zur vollkommeneren Illustration des tragischen Geschicks des tragischen Geschicks Andreas Hofers eine entsprechende Pose annahm, indem er die Hand krampfhaft ans Herz preßte und unter großem Gepolter zusammenbrach, da glänzte in dem Auge meines Cowboys eine Thräne.- Solcher Art sind die geistigen Genüsse, die uns die Bowery bietet. Dann ging es weiter.
Wir betraten einen nach dem Hofe gelegenen, von Gasflammen schwach erleuchteten Saal. Es war der Tummelplatz einer buntscheckigen Gesellschaft. Die eine Hälfte des Naumes war mit Tischen und Stühlen besetzt, an denen aufgeregte Burschen und feile Frauenzimmer schlechtes Bier und Whisky zechten. Auf der anderen Seite drehten sich die Paare in wildem Tanze nach den Klängen einer markerschütternden Musik, die oft von dem allgemeinen Lärm übertönt wurde. Die Luft erschien, von Tabaks qualm und von dem aufgewirbelten Staube durchsetzt, undurchdringlich. Wir ließen uns an einem schwach besetzten Tische nieder, uns gegenüber saßen zwei amerikanische Matrosen, die eifrig dem Whisky zusprachen. Nach Beendigung des Tanzes beehrte uns eine der Hetären mit ihrer Gesellschaft. Trotz ihres vom Alkoholgenuß verunreinigten Teints war sie eine verführerische Schönheit, das Profil war geradezu klassisch, wozu ihr üppiges, zu einem griechischen Knoten gewundenes goldblondes Haar wunderbar harmonirte; ihr leichtes Kostüm ließ die vollen Formen deutlich durchschimmern, vom Tanze erregt, wogte ihr üppiger Busen wollistig auf und nieder. Mit der den Freudenmädchen eigenen Ungenirtheit knüpfte sie ein Gespräch mit uns an; sie war, wie die meisten ihrer Zunft, eine Deutsche. Ihre Vorgeschichte, die sie Jedem, der sie hören wollte, zum Besten gab, will ich dem Leser ersparen: es war das alte, wahre oder erdichtete Lied. Nun frequentirte sie dieses verrufene Lokal schon seit zwei Jahren. Nach ihrer Schilderung sollte es eins der harmlosesten dieser Art sein. Gelegentlich einer allgemeinen Prügelei hatte sie wohl mit einem Stuhlbein einen Schlag über den Kopf erhalten, der sie betäubte, und ein anderes Mal hatte ihr ein trunfener Matrose, dessen Liebkosungen sie sich entziehen wollte, einen Messerstich in den Rücken versezt, aber das war auch Alles in dieser ganzen Zeit. Sonst wäre es immer manierlich hier zugegangen. Weitere Aufklärungen über die Naturgeschichte dieses Ortes der fäuflichen Liebe gab sie mir nicht, da die Musik wieder einsette. Wie elektrisirt schnellte sie hoch, ihre Augen funkelten dämonisch, der Tanz war ihr Lebenselement, bis zur Raserei hätte sie tanzen können. Mein Cowboy war ganz hingerissen von dieser graziös dahinschwebenden, von bacchantischer Lust erfüllten Tänzerin. Um jeden Preis misse er sie besigen, raunte er mir zu. Das Freundschaftsgefühl tritt in den Hintergrund, wenn man in Amors Banden sich begeben hat, mein Cowboy hatte mich vergessen, aber in diesem Falle war ich nicht unangenehm von dieser Zurückseßung berührt. Ein Gedankenblitz durchzuckte mich, als er die Freudenmaid zum nächsten Tanz engagirte: entfliehen! Aber sofort kämpfte ich den Gedanken nieder, eine Flucht hatte etwas zu Verächtliches für mich. Ohne Abschied konnte ich mich von meinem Cowboy, der mir im gewissen Sinne ein Freund gewesen war, nicht trennen. Kurz entschlossen reichte ich ihm die Hand:„ Ich will nicht stören, vielleicht sehen wir uns wieder!" Er schien den Sinn meiner Worte nicht mehr zu verstehen, so tief stand er im Bann der Bacchantin, mechanisch schlug er in die dargebotene Rechte. In dem Augenblick setzte die Musik ein und das Paar schwebte dahin in sinnlicher Lust. Ich war allein.
Es war nach Mitternacht , als ich das Lokal verließ. Die frische Nachtluft that meinen erregten Nerven wohl. Meine nächste Sorge war ein Nacht logis. Ich erinnerte mich an ein Hotel am oberen Ende der Bowery, das mir am Nachmittag durch seinen reinlichen Charakter aufgefallen war. Dorthin begab ich mich. Mir wurde ein Logis erster Klasse
für 25 Cents und eins zweiter für 15 Cents angepriesen. Ich war verschwenderisch genug, mich fiir ersteres zu entscheiden. Dasselbe befand sich in der ersten Etage, die, einen einzigen Raum bildend, durch Bretterverschläge in eine Unmenge fleiner, offener Zellen getheilt war. Jede derselben enthielt eine schmale Matraße, eine Holzbank, sowie einige zum Aufhängen der Kleider bestimmte Haken. Eine dünne Flanelldecke und ein schmieriges Laken vervollständigten die Einrichtung dieses erstklassigen Logis. Wie mag es nun erst in dem Logis zweiter Klasse ausgesehen haben! Lange Zeit wälzte ich mich schlaflos auf dem primitiven Lager umher, meine Nerven waren zu stark erregt, es mag wohl gegen Morgen gewesen sein, als sich der Schlaf einstellte.
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Am Spätvormittag erwachte ich bedeutend gefräftigt. Bald hatte ich dieser gastfreundlichen Stätte den Rücken gekehrt. Planlos wanderte ich die Bowery hinunter der Hängebrücke zu, ich stand noch zu sehr unter dem Eindrucke des vorigen Tages, um zu einem bestimmten Entschluß gelangen zu können; mich beschäftigten noch immer die Episoden, die ich unter der Führung meines Cowboy erlebt hatte. Es war doch eine anders geartete Welt, in der ich mich nunmehr bewegte, und auch die Menschen waren anderer Art. Interesselos stürmten sie aneinander vorüber, Jeder hatte es rasend eilig; das Geschäft und immer wieder das Geschäft schien ihr ganzes Gefühlsleben zu beherrschen. Auf der Straße, wie auf der Promenade, im Wirthshaus und Theater, zu Hause und auf der Neise, überall bildete bei Alt und Jung das Geschäft das Gesprächsthema. Die reinsten Empfindungen will man in klingende Münze umwerthen, aus jedem Gedanken Kapital schlagen. In dem Sprachgebrauch äußert sich zur Evidenz die Anschauungswelt der Amerikaner. Wie viel ist er werth?" fragt man, wenn man den Besitz eines Menschen erfahren will. Der Reiche ist so und so Der Reiche ist so und so viel Tausende oder Millionen„ werth", nichts „ werth" ist der Arme. Nach seinem Besitz und seiner Ertragsfähigkeit tarirt man den Menschen. Schade, daß die gütige Natur ihn nicht mit Esels- oder Schafsfell ausgerüstet hat, dann könnte man auch noch nach seinem Tode Werthe aus ihm herausschlagen, wenn man es nicht vorzieht, ihm schon bei Lebzeiten das Fell über die Ohren zn ziehen! An einer Kirche steht ein Bettler. Jeden Passanten mißt er von Kopf bis zu Fuß, sein durch die Erfahrung geschärfter Blick sagt ihm genau, wie viel ein Jeder„ werth" ist. Hast Du nichts, Wanderer, dann kommst Du unbelästigt vorüber, nur dem Besizenden streckt er demüthig seinen abgetragenen Hut entgegen. entgegen. Ueber dem Portal der Kirche standen die Worte:" Preise Gott , denn aller Segen kommt von ihm!" War das nicht eine niederträchtige Lüge, und der raffinirte Bettler eine bittere Satire auf diese Heuchelei?
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Unter diesen Betrachtungen erreichte ich die Hängebrücke. Es trieb mich hinauf. Ein wahnsinniger Verkehr fluthete an mir vorüber, auf beiden Seiten rollte die Kabelbahn, dicht gedrängt voll Menschen, dahin, von drüben vernimmt man das Getöse der Weltstadt, wie das dumpfe Grollen eines gefesselten Löwen und tief unten braust das Meer. An dem östlichen Pfeiler ruhte ich aus und wieder begegnet mein Blick der Freiheitsstatue. Mich beschlich eine wehmüthige Stimmung. Was war es? Hatte auch sie sich seit gestern verändert? Doch nein, noch steht sie auf ihrem einsamen Postament, umzingelt von den Schiffen aller Nationen; an ihrem Fuß fährt ein Auswandererdampfer vorüber, der wieder neue Schaaren von europamüden Wanderern dem freien Gestade der Neuen Welt zuführt. Ja, war denn überhaupt Amerifa das Land der Freiheit? Waren seine Bewohner von ihrem Geist erfüllt? Nein, es war eine freche Anmaßung dieser Krämerseelen, die nur mit ihrem Namen prunken aus Geschäftsinteresse. Aber dies große, schöne Land hatte ihr eine dauernde Zufluchtsstätte gewährt, von wo aus sie die Welt erleuchten wird, wenn erst die Menschen sie schäzen gelernt haben.
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Lange Zeit hatte ich hier verweilt, dann ging ich erleichtert weiter. Noch einmal dachte ich an das
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Zwischendeck zurück und an meine abenteuerlichen Reisegefährten. Die furchtbare Ozeanfahrt erschien mir nun wie ein räthselhafter Traum, aus dem ich plötzlich zu einem neuen Leben erwacht war. Die Vergangenheit lag hinter mir, aller Fesseln war ich ledig, die Zukunft lag vor mir wie ein unbeschriebenes, unbeschmußtes Buch. Dann erfaßte mich das unbezähmbare Verlangen, dem fernen Westen zuzusteuern, von wo die mangelhafte Kunde von einem neuen Geschlecht dann und wann zu uns dringt.
Deutsche Sprachbeluftigungen. Achte Hampfel.
Von Manfred Wittich.
s ist eine bekannte Thatsache, daß Fürsten in ihren Titeln oft Länder und Städte auf führen, die ihnen garnicht mehr gehören. Solchen Herren, die einen wirklichen Verlust gern ungeschehen sähen und ungeschehen machen möchten, sind auch gewisse Worte der deutschen Sprache zu vergleichen. Sie haben ihren Namen ererbt und führen ihn fort, ohne den Goetheschen Worten gerecht zu werden:
Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.
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Mir liegt da sehr nahe ein Beispiel aus der eigenen Familie. Mein Großvater mütterlicherseits, ein gar stattlicher Herr, aber nicht viel über Mittelmaß lang, trug den Familiennamen Niese , obgleich er in der That keiner war im eigentlichen Wortsinne. Meine Mutter, ein Zwillingskind und all ihr Lebtag ein zierliches, niedliches Frauchen, war trotz alledem und alledem ein Riesenkind, denn ihr Vater hieß so quod erat demonstrandum! Es giebt im Deutschen auch gar viele Fremdwörter, die gute deutsche sind. Als die mit ihnen bezeichneten Dinge ihre sprachliche Benennung_erhielten, sagte dieser Name allemal etwas aus über ihr wirkliches Wesen, benannte sie nach einem ganz bestimmten wahrnehmbaren Merkmal, einer bestimmten Eigenschaft. Allgemach aber ward die Benennung unzutreffend, indem das Wesen, die Sache sich verwandelte, umänderte; aber der einmal überkommene Name blieb bestehen, wie wenn er mit aftenmäßiger Peinlichkeit im Familienarchiv oder in den Standesamtsprotokollen fest für ewige Zeiten" urkundlich eingetragen wäre.
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Ein sehr bekanntes, beim Sprachdenken im deutschen Schulunterricht viel gebrauchtes Beispiel ist das Wort: Fensterscheibe. Dafür hat man die Sache, den wirklichen Gegenstand in jeder Schulstube ja so nahe zur Hand. Nun stellt sich aber Folgendes heraus: Die Fenster sind gemeinlich langgestreckte Rechtecke. die durch das Fensterkreuz getheilten Holzrahmen aber umschließen naturgemäß wieder viereckige Glasscheiben. Geht man aber dem Wort Scheibe zu Leibe, so kommt man durch Vergleiche mit der Schießscheibe, der Drehscheibe auf den Bahnhöfen, der Scheibe des Töpfers usw. zu dem Ergebniß: eine Scheibe ist rund! Die Fensterscheiben der Schulstube aber und die meisten Fensterscheiben überhaupt sind, wo nicht besondere Kunst- und Schmuckzwecke verfolgt werden, heutzutage viereckig. Eine viereckige Scheibe ist demnach ebenso ein Widerspruch, wie ein kleiner Knirps, der mit dem stolzen Namen Riese über die Erde pilgert. Und nun kommt das Interessante! Gerade wie Mosjöh Riese, der eher ein Zwerg heißen dürfte, seinen Namen ganz ehrlich ererbt hat, so geht es auch der Fensterscheibe. Sie hat den ihren ebenfalls von ihrer Großmutter in richtigem, ehrlichem Erbgang überkommen. Ihre Ahufran war die bleigefaßte Rundscheibe, die wir auch als Buzenscheibe kennen. Als die Glasfabrikation und-bearbeitung auch geradlinige Tafeln herzustellen gestattete, behielt man troßdem den alten Familiennamen Scheibe für die, eigentlich aus der Art ge= schlagenen, viereckig gewordenen Nachkömmlinge ur= kundenmäßig bei, unter der Beruhigung: es ist ja nur ein Name; ein Name- der oft viel, ja zu
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