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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

weilen Alles gilt! ist doch, wie der Dichter sagt, nur Schall und Rauch; auf das Wesen, auf die wirkliche Sache kommt es an!

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Schon um neun? Da geht meine Taschenuhr falsch, ich muß sie richtig stellen! Oho, sie ist stehen geblieben, sie ist abgelaufen!"

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So sagt der Gegenwartsmensch und thut die nöthigen Handgriffe, um wieder zu wissen, in welcher Zeit er lebt". In Wahrheit aber lebt er seinen sprachlichen Ausdrücken nach durchaus nicht als ein heutiger oder moderner. Mit seinen Worten ver­setzt er uns in die Zeit, wo die Spindel- und Anfer­uhren noch nicht erfunden, jedenfalls noch nicht all­gemein waren, in die Zeit der Sand- und Wasser­uhren. Nur eine solche kann ablaufen, stehen bleiben und gestellt werden. Man vergegenwärtige sich die Einrichtung einer solchen Uhr: wie an einem Doppel­becher sind zwei paufenförmige Doppelgläser an­einander gefügt und eine feine Röhre läßt, wenn die Uhr gestellt, richtig gestellt ist, so gestellt ist, daß Wasser oder Sand in dem oben befindlichen Glas ist, der Inhalt in das untere rinnen kann. Ist von oben Alles abgelaufen, so weiß man, daß so viel Zeit verflossen ist, als dieser Vorgang beansprucht. Aber von nun ab zeigt die Uhr nichts mehr, wenn man sie nicht umdreht, so daß das Rinnen von Wasser oder Sand von. Neuem beginnen kann; sie ist eben stehen geblieben, wie sie stand, und muß wieder gestellt werden, wenn sie ihren Dienst wieder verrichten soll.

Urväterhausrath umgiebt uns, wo wir gehen und stehen in der Sprache, die wir hente noch brauchen. Längst vergangene Zeiten und Kultur­zustände, längst abgestreifte Lebensformen können wir mit dem Zauberstab der sprachdeutenden Forschung vor unsere geistigen Augen zaubern und wieder lebendig werden lassen, wie die Geisterbeschwörer es vorgeben! Ja, in ganz hochmodernen Einrichtungen summen und flingen uns die Zustände uralter Zeiten vernehmlich in die Ohren, wenn wir die blaue Blume haben, wenn wir die Sprache der Sprache verstehen!

Da gehen wir auf den Bahnhof, wo uns das schnaubende Dampfroß erwartet. Um in seine Nähe zu gelangen, treten wir aus der Halle oder dem Wartesaal hinaus auf den Perron, von dem aus wir in einen bestimmten Wagen( auf deutsch Waggon!) aufsteigen. Dieser Perron, französisch so genannt, italienisch perrone, heißt auf gut deutsch : großer Stein. Es ist dies der Stein, der sich fast vor jedem Hause befand und von welchem aus der Hof­besizer oder Burgherr oder sonst wer, der ausreiten wollte, bequem sein Roß besteigen konnte.

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Hat uns das Dampfroß von Leipzig nach Berlin getragen, so gehen wir vom Anhalter Bahnhof nach irgend einem gastlichen Hause und sagen dann, ich bin bei meinem Freund Liebknecht oder im Kaiser­hof" ober in Stadt Coburg " abgestiegen, gerade als wenn wir heute noch das Pferd oder das Saum­thier als Transportmittel gebraucht hätten und als wenn es noch keine Eisenbahnen gäbe!

Unter allen Erfindungsgebieten weist die Kunst der Erzeugung von Mordgeräthen die glänzendsten" Fortschritte der Neuzeit. Die Geschosse, welche sie entsenden, sind heutzutage meist eichelförmig- rundspit; von den größten Ungeheuern dieser Art werden Ge­schosse in der Form riesiger Zuckerhüte von über Mannesgröße entsandt, um Tod und Verderben zu säen. Im Schlachtbericht aber heißt es trotzdem noch heute: die feindlichen Kugeln( die eigentlich feine Kugeln sind und meinetwegen Eicheln oder Zuckerhüte heißen möchten) richteten großen Schaden an;' s ist dieselbe Geschichte wie mit den viereckigen Fensterscheiben. Ebenso unrichtig ist es eigentlich, wenn wir sagen, unsere modernen Geschüße werden geladen, ein Ausdruck, der bei einer alten Wurf­maschine wohl angebracht war, aber bei einer Hand­pistole kaum logischerweise und sachentsprechend gesagt werden könnte, denn geladen wird nur eine Last.

Ein Widersinn ists eigentlich, wenn wir sagen, die Eisenbahn oder die Pferdebahn geht ab, sie tommt an. Die Bahn, die Geleise gehen ja gar­nicht, die bleiben liegen, nur die Wagen kommen und gehen. Begreiflich wird dieser bildlich über­

tragene Sprachgebrauch, wenn wir uns in die Zeiten tragene Sprachgebrauch, wenn wir uns in die Zeiten der gelben Postkutschen versezen: da wars richtig zu sagen: die Post, d. i. die Postkutsche, kommt an, geht ab.

Wenn ein hoher Herr auf die Jagd geht, so nimmt er seinen Leib- und Hofbüchsenspanner mit sich. Dabei hat der Herr gewiß heutzutage seinen Hinterlader neuester Konstruktion, einen allerneuſt verbesserten Lefaucheur oder sonst was. Der Büchsen­spanner aber ist geradeso ein Widersinn wie ein höl­zernes Eisen; Büchsen kann man doch nicht, spannen", wenn gleich Goethe schreibt:

Im Felde schleich ich still und wild, Gespannt mein Feuerrohr.

Er führt seinen Namen noch von den Zeiten her, da man mit Bolzen und Armbrust aufs Gejaid ging. Das war eine wirkliche, d. h. anstrengende Arbeit, zu der man besondere Geräthe mit Aufbietung von Kraft handhaben mußte: dazu hatten die hohen Herr schaften ihre Stuli nothwendig; aber den Hahn auf­schaften ihre Kuli nothwendig; aber den Hahn auf zuziehen an einem modernen Gewehr, das ist eine Arbeit, die auch ein nicht an Arbeit Gewöhnter eben noch verrichten kann. Der Büchsenspanner aber hat die Aufgabe, bei etwa vorkommender Beschädigung der Gewehre die nöthige Ausbesserungsarbeit zu machen, immer leistungsfähiges Schießzeug in Be­reitschaft zu halten.

Die fortgeschrittene Technik der Neuzeit hat so eine Menge sprachlicher Widersprüche erzeugt. Be­fannt sind die in neuerer Zeit von Porzellan usw. gefertigten Untersetzer für Bierseidel, bekannt ist auch, daß die Filzscheiben ihnen vorangingen, so daß jenes Bäuerlein nach einem Besuche der Stadt daheim zum allgemeinen Staunen erzählen konnte, er habe da in der Stadt Bierfilzel von Neufilber, von Por­zellan usw. gesehen.

Gewöhnlich hat der Schriftseter bei seiner Arbeit eine Handschrift, ein Manuskript vor sich; zuweilen aber trifft sichs auch, daß er schon Gedrucktes noch aber trifft sichs auch, daß er schon Gedrucktes noch einmal für den Druck zu setzen hat. Dann spricht man von gedrucktem Manuskript, also eigentlich von einer Handschrift, die keine ist.

Auf einer Mühle wird gemahlen, feste Körper werden zu klarem, feinem, staubartigem Pulver, zu Mehl verarbeitet. Wie aber kann man eine Ein­richtung, auf der Baumstämme zu Brettern zersägt werden, eine Sägemühle nennen: also eine Mühle, auf der nicht gemahlen wird.

In unseren heutigen Heeren haben wir auch Grenadiere, aber es sind eigentlich keine, denn sie werfen keine Handgranaten mehr, von denen ihre Vorfahren den Namen sachentsprechend bekamen.

Da lachen die Kegelschieber auf einer Kegelbahn von Marmor, Schiefer, Cement oder Asphalt einen unglücklichen Mitspieler aus, weil er einen Sand­hasen geschoben hat, von der Mittellauflinie ab­hasen geschoben hat, von der Mittellauflinie ab­gewichen ist: aber Sand giebt es auf einer solchen modernen Kegelbahn ja garnicht! Die Bezeichnung lebt aber noch aus der Zeit, zu der man allgemein nur ein Laufbrett für den Anfang des Ganges der Kugeln hatte, zu dessen beiden Seiten Sand war.

Im Zeitalter des Verkehrs sprechen wir zwar noch von Kreuzbandsendungen, wer aber nimmt sich, wenn er nicht sehr sorgfältig sein will oder ein ängstlicher Pedant ist, noch die Zeit, eine zusammen­gefaltete Drucksache mit zwei übers Kreuz liegenden Streifbändern zu schließen, so daß die Bezeichnung Kreuzband wirkliche Wahrheit wäre?

Vieles der Art ist bildliche Uebertragung, die Jeder sofort gutwillig nimmt, wie sie gemeint ist, Jeder sofort gutwillig nimmt, wie sie gemeint ist, er hat ebensoviel Phantasie wie der Redende, und das Volk ist eigentlich kein Silbenstecher, wie die gelehrten Theologen, Philologen und namentlich die gelehrten Theologen, Philologen und namentlich die Juristen. Es erfreut sich am poetischen Bild. Wenn Juristen. Es erfreut sich am poetischen Bild. Wenn Einer sagt: Da will ich mir den größten fettſten Brocken aus der Suppe, fischen" wenn der Brocken auch gar kein Fisch, sondern ein Leberknödel ist, versteht ihn Jedermann sofort richtig. Man spricht ohne Skrupel von einem Bernsteinfischer, von Perlen­fischern, Schwammfischern usw., die garnicht auf die Fische achten, welche ihnen etwa in den Wurf tommen.

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Der kleine Hans ist ein Feinschmecker, er meint: Die Bierkaltschale ist mir am liebsten, die von

Wein gemacht wird, die von Bier mag ich nicht so gern!

Die Gnädige stickt mit starkem Seidenfaden ein Faullenzerkissen( zu deutsch oreiller!) für den Herrn Gemahl. Das Dienstmädchen vom Lande, das noch nie so starke Seidenfaden gesehen hat, fragt erstaunt: Die Madame stickt wohl mit seidener Wolle?

In der Bremer Gegend macht man ein warmes Getränk aus Buttermilch; ich weiß nicht mit welchen Zuthaten, Bier ist aber sicher nicht dabei, und trotzdem heißt das Zeug: Buttermilchwarmbier.

Das ist Alles noch gutmüthig und harmlos! Sehr nahe aber liegt hier das Gebiet des Lugs und Trugs, das der Waaren- und Lebensmittel­verfälschung. Da heißt etwas Butter und ist Margarine oder Talg, und der gute deutsche Michel, der den Russen so gern nachsagt, sie verzehrten mit größtem Appetit Talglichter, ist selber ein Talg­verzehrer, freilich nicht aus Leckerei, wie angeblich der Russe, sondern aus blanker Noth oder weil er über die Ohren gehauen wird.

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Fälschung ist es auch schon dem Wort nach wenigstens wenn Gulden von Silber geprägt und in Umlauf gegeben werden, denn Gulden kommt von Gold, demnach heißt Silber oder gar Papiergulden nichts Anderes als ein Goldstück aus Silber, aus Papier! Da wurde schließlich nöthig, das Wort Goldgulden zu prägen, das besagt, daß ein Goldstück aus Gold ist, was sich von Rechts und Logik wegen von selber verstehen sollte.

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Im zweiten Theile des Wortes Druckerschwärze ist der Farbenbegriff so abgeſtumpft, daß ich von rother Druckfarbe allen Ernstes gehört habe unter dem Namen: rothe Druckerschwärze.

Mit falsch oder garnicht verstandenen Fremd­wörtern ists noch bunter! Den neunten, zehnten, elften und zwölften Monat des Jahres nennen wir September, Oktober, November, Dezember; das heißt, wir können scheinbar nicht zählen, denn diese Namen bedeuten den siebenten, achten, neunten und zehnten Monat des altrömischen Jahres aus der Zeit, da dieses noch mit dem Monat März begann.

Der Büttnerbauer.

Noman von Wilhelm von Polenz .

( Fortsetzung.)

Deberecht Büttner war der erste Bauer in Hal­to benau, welcher mit der Dreifelderwirthschaft

brach. Er baute eine massive Dingergrube auf seinem Hofe und führte regelmäßige Stallfütterung ein für das Vieh; trotzdem konnte man ihm nicht vorwerfen, daß er neuerungssüchtig sei. Von dem zähkonservativen Bauernsinne hatte er sich den besten Theil bewahrt; wohlüberlegtes Maßhalten. Er überſtürzte nichts, auch nicht das Gute. Seine Bauernschlauheit rieth) ihm, zu beobachten und abzuwarten, Andere die Kastanien aus dem Fener holen zu lassen, nichts bei sich einzuführen, was nicht bereits erprobt war, vorsichtig ein Stick hinter der Neihe der Pioniere zu marschiren. Behutsam und mit Vorbedacht ging dieser Neuerer zu Werke. Er begnügte sich mit dem Sperling in der Hand und überließ es Anderen, nach der Taube auf dem Dache Jagd zu machen.

Dabei war ihm das Glück günstig. Die Jahr­zehnte lang gedrückten Getreidepreise begannen auf einmal zu steigen. Der Absatz erleichterte sich durch die neugefundenen Verkehrsmittel. Von dem an­steigenden Strome wachsender Lebenskraft und ge= steigerten Selbstbewußtseins im ganzen Volfe wurde auch der kleine Mann emporgetragen. Leberecht Büttner war im rechten Augenblicke geboren, das war sein Gliick; daß er den Augenblick zu nützen verstand, war sein Verdienst. Er durfte zu einer Zeit wirken und schaffen, wo der Landmann, wenn er seinen Beruf verstand, Gold im Acker finden konnte.

So arbeitete sich dieser Mann im Laufe der Jahre aus der Verarnung zu einer gewissen Wohl­habenheit empor. Es gelang ihm, einen günstigen Landkauf zu machen, bei welchent er der benachbarten Herrschaft, die ihr Areal nach Möglichkeit durch Auskaufen kleiner Leute zu vermehren trachtete,