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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

t. Die Bretonin. he

n einem Sommerabend, dem Vorabend von St. Katherine, drehte sich das Gitter der Strafanstalt von Sainte Auberive in seinen Angeln und ließ eine Frau von etwa dreißig Jahren hindurch, die ein abgeschabtes Wollenkleid trug, wäh­rend sich auf ihrem blassen und von dem Gefängniß­leben stark aufgedunsenen Gesicht eine Kattumhaube schaukelte. Es war ein weiblicher Sträfling, den man eben freigelassen hatte. Ihre Gefährtinnen im Zuchthause nannten sie die" Bretonin". Sie war wegen Kindesmordes vor gerade sechs Jahren eingeliefert worden, und jeßt sah sie sich, nachdem sie ihre paar Lumpen und ihr verdientes Geld von der Gefängnißkanzlei abgehoben, wieder in der Freiheit, mit ihrem Reisepasse, der nach Langres   visirt war.

Der Postomnibus, der nach Langres   fuhr, war bereits fort. Schüchtern und unbeholfen schleppte sich die Bretonin mühselig nach der besten Gast wirthschaft der Gegend und bat mit unsicherem Tone um ein Nachtlager. Die Herberge war voll, und der Wirth, dem wenig daran gelegen war, solche Galgenvögel zu beherbergen, gab ihr den Rath, weiter bis zur Schenke zu gehen, die am anderen Ende des Dorfes gelegen war.

Die Bretonin ging, noch scheuer und verschüch­terter als vorher, ihres Weges und klopfte an die Thür dieser Schenke, die eigentlich nur eine Kantine war. Die Wirthin betrachtete sie mit mißtrauischem Blicke, sie vermuthete in ihr jedenfalls ein Weib aus dem Zuchthause und schickte sie schließlich fort, indem sie behauptete, sie hätte kein Nachtlager. Die Bretonin wagte nicht, auf ihrer Bitte zu bestehen, sondern entfernte sich mit gesenktem Haupte, während sich in ihrem Herzen ein dumpfer Haß gegen die Menschheit erhob. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als Langres zu Fuß zu erreichen.

Im November bricht die Nacht schnell herein. Die Wanderin sah sich bald in dichten Nebel ein­gehillt, als sie auf der grauen Landstraße dahin­schritt, die sich zwischen den beiden Baumreihen hinzog.

Nach sechs Jahren eines einsamen Lebens fonnte sie nicht mehr ordentlich marschiren; die Kniee waren ihr wie verknotet; und ihre an die Holzschuhe ge= wöhnten Füße fühlten sich in den neuen Stiefeln gehindert. Nachdem sie eine Meile gewandert, wurden ihr die Füße dick, und sie fühlte fich matt. Sie setzte sich auf einen Prellstein und fragte sich zitternd, ob sie in dieser schwarzen Nacht, bei diesem eisigen Winde, der sie bis auf die Haut durchschauerte, vor Kälte und Hunger umkommen sollte.

Plößlich war es ihr, als höre sie auf der öden Landstraße, trotz des Windgeheuls, die schleppenden Töne einer singenden Stimme. Sie lauschte und hörte eines jener zarten, eintönigen Liedchen, mit denen man die Kinder in den Schlaf singt. Nun erhob sie sich und wanderte nach der Richtung dieser Stimme, bis sie an einer Wegfriimmung ein Licht bemerkte, das durch die Stämme fiel.

Fünf Minuten später erreichte sie eine Lehm­hiitte, deren Dach mit Erdschollen bedeckt war und durch deren einziges Fenster man einen schwachen Lichtschein entdeckte. Mit bebendem Herzen entschloß sie sich anzuklopfen. Der Gesang verstummte und eine Tagelöhnerin öffnete ihr; eine Frau in dem selben Alter wie die Bretonin, doch von der Arbeit bereits gebeugt und welt. Ihre an mehreren Stellen zerrissene Jacke zeigte die erdfahle und verbrannte Haut; ihre röthlichen Haare drängten sich unordent­lich unter einer kleinen Leinenhaube hervor, während ihre grauen Augen erstaunt die Fremde anstarrten, deren Gesicht ihr unheimlich vorkam.

Guten Abend!" sagte sie, die Lampe hoch­haltend, was wünschen Sie?"

Ich kann nicht weiter," murmelte die Bretonin

Von André Theuriet  . Deutsch von Wilhelm Thal.

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mit schmerzerstickter Stimme. Die Stadt ist weit, und wenn Sie mich für diese Nacht beherbergen wollten, würden Sie mir einen großen Dienst er­weisen... Ich habe Geld... und werde Sie für Ihre Mühe bezahlen."

,, Treten Sie ein," sagte die Andere nach kurzem Zögern, dann fuhr sie in mehr neugierigem als miß­trauischem Tone fort: Warum haben Sie denn nicht in Auberive übernachtet?"

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Man wollte mich nicht aufnehmen..." Dabei senkte die Bretonin den Blick und fügte mit leiser Stimme hinzu: Weil ich... aus dem Zucht­hause komme!. Darum trauen mir die Leute nicht!"

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" Ah!... Na, treten Sie nur ein; ich fürchte nichts, denn ich habe stets nur das Elend kennen gelernt... Es wäre Unrecht, einen Menschen bei solcher Kälte vor der Thür zu lassen... Kommen Sie... ich werde Ihnen eine Streu zurecht machen.

Mit diesen Worten holte sie aus der Ecke mehrere Bündel trockenes Stroh und breitete es am Herde aus.

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, Sie wohnen hier allein?" fragte die Bretonin schüchtern.

,, Ja, mit meiner Kleinen, die in's siebente Jahr geht geht... Ich arbeite im Walde und verdiene damit unseren Lebensunterhalt.

" Ihr Mann ist todt?"

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" Ich habe nie einen gehabt," versetzte die Andere heftig; die arme Kleine hat keinen Vater... Na, Jeder hat sein Theil... Da ist Ihr Bett und da sind auch noch einige Kartoffeln, die vom Abend­essen übrig geblieben sind... Das ist Alles, was ich Ihnen anbieten kann

Sie wurden von einer Kindesstimme unterbrochen, die aus einer von der Stube durch eine Bretterwand getrennten dunklen Kammer fam.

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Gute Nacht!" fuhr sie fort; ich gehe wieder zu der Kleinen, die sich sonst fürchtet. Schlafen Sie recht gut!"

Sie nahm die Lampe  , ging in die Nebenkammer und ließ die Bretonin in der Dunkelheit zurück.

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Diese hatte sich auf der Streu ausgestreckt. Nachdem sie gegessen, versuchte sie, die Augen zu schließen, doch der Schlummer wollte nicht kommen. Durch die Scheidewand hörte sie die Fleuriotte so hieß die Frau mit leiser Stimme mit der Kleinen sprechen, die durch das Erscheinen der Fremden aufgeweckt und nicht wieder einschlafen wollte. Die Fleuriotte streichelte das Kind und füßte es unter süßen Worten, deren naiver Ausdruck die Bretonin seltsam erregte.

Dieser Ausbruch der Zärtlichkeit weckte ein un­flares Gefühl der Mutterliebe in dem Herzen dieses Weibes, das einst verurtheilt worden, weil sie ihren Neugeborenen erstickt hatte. Die Bretonin dachte, Die Bretonin dachte, daß ihr Kleiner jezt das Alter dieses kleinen Mäd­chens haben würde, wenn die Dinge sich nicht so böse gewendet hätten". Bei diesem Gedanken und bei dem Ton dieser kindlichen Stimme erbebte sie bis in's innerste Herz; es zerschmolz etwas in ihrem verhärteten und verbitterten Innern, und sie hatte große Lust zu weinen.

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Na, vorwärts Kind!" sagte die Fleuriotte; schlafe schnell wieder ein. Wenn Du artig bist, gehe ich morgen mit Dir auf den St. Katherinen­Jahrmarkt."

" St. Katherin, das ist das Fest der kleinen Mädchen, nicht wahr, Mütterchen?"

" Ja, mein Herz."

" Ist es wahr, daß die heilige Katherine den Kindern an diesem Tage Spielzeug bringt?" Ja... manchmal!"

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Warum bringt sie denn nie zu uns welches?"

Wir wohnen zu weit... und dann sind wir ja auch zu arm!"

Sie bringt also nur den Neichen was!... Warum denn?.. Ich möchte doch auch Spiel­zeug haben..

Na, ja, nächstens wird sie Dir vielleicht auch etwas schenken... Wenn Du artig bist und hübsch wieder einschläfst."

Na, dann werde ich schlafen, damit sie morgen etwas bringt..."

Dumpfes Schweigen. Dann ein gleichmäßiges, leises Athmen. Das Kind ist eingeschlummert und die Mutter ebenfalls. Nur die Bretonin konnte nicht schlafen. Ein gleichzeitig zartes und quälendes Ge­fühl preßte ihr das Herz, und sie dachte mehr als je an den Kleinen, den sie einst erstickt hatte.

Das dauerte bis zum Tagesanbruch. Beim ersten Schein der Sonne huschte die Bretonin leise aus dem Hause, eilte hastig nach der Richtung von Auberive und blieb bei den ersten Häusern stehen. Hier ging sie langsam die einzige Straße hinauf und betrachtete die Schilder der Läden. Schließlich schien eines derselben ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie flopfte an die Scheiben und ließ sich öffnen. Es war ein Kramladen, in dem es auch Kinder­spielzeug gab, armseliges, veraltetes Spielzeug; fleine Puppen, Menagerien, Baukästen... Zur großen Verwunderung der Verkäuferin kaufte die Bretonin Alles, bezahlte und verließ den Laden.

Sie schlug wieder den Weg nach der Hütte der Fleuriotte ein, als eine Hand sich schwer auf ihre Schulter legte. Sie wandte sich um und zitterte, als sie sich einem Gendarmerie- Brigadier gegenüber sah. Die Unglückliche hatte vergessen, daß es den entlassenen Sträflingen verboten ist, sich in der Nähe der Strafanstalt aufzuhalten!...

,, Anstatt hier herumzubummeln, sollten Sie schon in Langres   sein!" sagte der Brigadier in strengem Tone. Vorwärts, marsch!"

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Sie wollte sich näher erklären. Verlorene Mühe. Im Nu holte man einen Karren, ließ sie unter der Begleitung eines Gendarmen aufsteigen, und vor­wärts, Kutscher!

Der Karren rollte klappernd auf der eisigen Landstraße dahin. Die arme Bretonin preßte mit trauriger Miene ihr Packet mit den Spielwaaren in den erstarrten Händen. An einer Biegung der Land­straße erkannte sie den Fußpfad; ihr Herz klopfte hörbar und sie bat den Brigadier, er möchte an­halten lassen; sie hätte der Fleuriotte, einer Frau, die zwei Schritte entfernt wohne, etwas zu bestellen. Sie bat so dringend, daß der Gendarm sich rühren ließ. Man band das Pferd an einen Baum und ging dann den Fußpfad entlang. Vor der Thiir stand die Fleuriotte und spaltete Holz. Als sie ihren nächt­lichen Besuch in Begleitung eines Gendarmen wieder­sah, blieb sie mit offenem Munde und erstaunter Miene stehen.

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Still!" flüsterte die Bretonin, schläft die Kleine noch?"

Ja, aber..."

,, Legen Sie ihr diese Spielsachen leise auf ihr Bett!... Ich war nach Auberive zurückgegangen, um sie zu holen, doch ich scheine nicht das Recht zu haben, und man bringt mich nach Langres  ..." " Heilige Mut..." schrie die Fleuriotte. Still!"

Sie traten an das Bett. Von dem Gendarmen begleitet, kramte die Bretonin die Puppe, den Bau­kasten und die Menagerie auf der Decke aus, fiiẞte den nackten Arm des schlafenden Kindes und sagte dann, sich zu dem Gendarmen wendend:" So, jetzt fönnen wir weiter fahren!"