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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
bemerkten, ging draußen eine Thür auf, und über Frau Grabow's Antlig flog eine Wolke.„ Ah, es ist Liddy, meine Tochter Liddy. Sie kommt vom Tennisplay, lassen wir uns nicht stören. Also Herr Seefeld ..."
Allein ehe sie aussprechen konnte, erschien auf der Schwelle ein junges Mädchen; sehr groß, sehr entwickelt und in sehr elegant kokettem Sportkostüm. Frau Grabow machte eine vorstellende Handbewegung:
Heiliger Hain. In Arnold Böcklin sehen wir einen der größten Landschaftsmaler unseres Jahrhunderts. Aber seine Art steht zu der Entwickelung, welche die moderne Malerei im Allgemeinen genommen, in einem gewissen Gegensatz. Diese ist beherrscht von einem Streben nach strenger Naturwahrheit. Mit stetig gesteigerter Auffaffungs- und Gestaltungskraft setzt sich das naturalistische Prinzip im Laufe des Jahrhunderts durch. Im Mittelpunkt steht dabei das Problem, die Wirksamkeit der Luft für den Eindruck, den die freie Natur auf uns macht, zu beobachten und darzustellen. Durch die Luft werden die schroffen Gegenfäße in den Farben ausgeglichen, hinund herüberfallende Reflere rufen eine Reihe von Zwischentönen hervor, die für den Gesammteindruck wesentlich sind. Gerade dadurch, daß sie alle diese Brechungen der Farben getreu darstellen, erzielen die modernen Landschaftsmaler ihre überraschend lebenswahren Bilder.
Böcklin war ein Mann von fast fünfzig Jahren, als diese Malweise in Frankreich zu ihrem Ziel gelangte. Die Richtung seiner Kunst war festgelegt, wenngleich seine reifsten Werke erst in den Anfang der achtziger Jahre fallen. An anderer Stelle wurde kürzlich schon erwähnt, daß die alten Niederländer mit ihren vollen leuchtenden Farben auf die Entwickelung Böcklin's bestimmend gewirkt haben. Seiner fraftvoll- phantastischen Natur entsprachen diese glänzenden ungebrochenen Farben. Früher wurde einmal erzählt, wie er das, was in seinen Träumen lebte, unter der Sonne Italiens fand, wie er schon als Jüngling den Süden aufsuchte und immer wieder dahin zurückkehrte. Sein Alterssiz liegt in der Nähe von Florenz .
Die Landschaften Böcklin's entstehen nicht wie die der modernen Naturalisten aus eindringenden Studien unmittelbar vor der Natur.„ Tagelang streift er im Albanergebirge umher," wird von ihm erzählt,„ blos beobachtend, im Kopfe das Gesehene verarbeitend; stundenlang fann er dabei den Organismus einer Pflanze und ihre Erscheinungsform in allen Phasen der Beleuchtung studiren. Nun formt er aus dem unermeßlichen Vorrath seines Gedächtnisses, sezt sich eines Tages hin, um ein Bild der Gegend auf die Leinwand zu werfen, das überall und nirgends zu finden ist." In seinen Landschaften, in den tiefen Farben, in den starken Kontrastwirkungen ist etwas, das sie über die Stimmung der einzelnen Stunde und Gegend hinaushebt. Ein Ausdruck von Größe liegt in ihnen, von Erhabenheit, von feierlichem Pathos, der den intimeren Wirkungen der modernen Landschaft abgeht. Ein Element fällt in den meisten dem Beobachter gemeinhin zunächst auf: die phantastischen Fabelwesen, welche die Natur bevölkern. Mit Vorliebe sind sie der griechischen Sagenwelt entnommen. Schon lange vor Böcklin hatten diese in der neuzeitlichen Kunst ihr Wesen getrieben, und gerade in den Tagen, da Böcklin Schüler war, ging wieder eine Richtung der Malerei zu Ende, die " heroische" Landschaften kultivirte und diese nicht für vollwerthig hielt, wenn nicht antike Gestalten in ihnen lebten. Aber es waren gelehrte Erinnerungen, welche die älteren Künstler zu solchen Darstellungen führten. Bei Böcklin vollzieht sich in der Gestaltung dieser Wesen ein tiefinnerer Schaffensprozeß. In ihnen verkörpern sich gleichsam die Empfindungen, die ihn beim Anschauen der Landschaft bewegt haben. Sie sind die Träger der Stimmung; das Leben, das die Natur erfüllt, prägt sich in ihnen klarer, eindringlicher aus. Ein paar Beispiele mögen dies erhellen: Einst wurde der Künstler, als er in den Alpen wanderte, von einem dichten Nebel über= fallen, alle Schrecknisse der Gebirgsnatur stürmten auf ihn ein; in seiner erregten Phantasie setzte sich das Grauen, das ihm diese Natur einflößte, in einen Drachen um, der im Engpaß aus seiner Höhle herausfährt und den Wanderern verderblich wird. Oder er sieht, wie die Wogen des Meeres unter dem frischen Winde in mächtigen Stürzen daherrollen, einander jagen, übereinander follern, und in seiner Anschauung bevölkern sie sich mit plumpen Wassercentauren, die, sich überſtürzend, hinter neckischen Seejungfrauen her find. Böcklin bleibt nicht streng bei der überkommenen Welt der Phantasiegestalten stehen, er modelt sie und bildet sie so, wie sie die beabsichtigte Stimmung am besten auszudrücken scheinen. Bisweilen erfindet er sich auch selbst mit freischaltender Phantasie seltsame Wesen. Der Leser fennt das Schweigen im Walde", in dem die leisen Schauer, die uns vor der tiefen Stille des Waldinneren überlaufen, in einem Einhorn symbolisirt werden, das eine Jungfrau auf dem Rücken tragend aus dem Dunkel hervortritt.
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,, Nun, da ist sie ja doch, meine Tochter Liddy. Komm' nur und begrüße Herrn und Frau Seefeld ."
Die junge Dame trat näher und machte eine Verbeugung, empfahl sich aber sehr bald, da sie noch einen Brief zu schreiben habe. Paul sah ihr erstaunt nach. Ich dachte garnicht, daß Sie schon eine erwachsene Tochter haben, Frau Baumeister ?" Erwachsen? Ich bitte Sie!" Sie lachte etwas gezwungen. Liddy ist ja noch ein Kind, kaum
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Feuilleton.
Nicht anders ist unser heutiges Bild, der Heilige Hain" entstanden.( Das Original, das unserem Holzschnitt als Vorlage gedient, befindet sich im Museum zu Basel ; eine ganz ähnliche Wiederholung enthält die Hamburger Kunsthalle .) Auch hier hat der Natureindruck dem Meister eine Erinnerung wachgerufen, die fich der Stimmung einfügt.
Es ist Frühsommer in einer südlichen Landschaft. Noch sind die Blätter der filberstämmigen Pappeln spärlich und klein, während die Kronen der dichter belaubten Oliven sich schon zusammenschließen. Glühend heiß war der Tag, jezt geht es zum Abend. Ein starker Regen ist niedergegangen, vom Hange ist das Wasser herab= gelaufen und hat sich in einer Mulde vorn gesammelt. Im Vordergrunde eröffnet sich zwischen den Bäumen ein Durchblick auf die helle Ebene. Dort draußen wirkt die Sonne mit ungehinderter Macht, unter ihren Strahlen zittert und flimmert die Luft.
Nach hinten aber verliert sich der Blick in dem undurchdringlichen Dunkel des Olivenhains. Die Stimmung, die von diesem Dunkel ausgeht, giebt dem Bilde seinen Charakter. Der Ernst, die tiefe Ruhe darin tritt durch die lebhaften Kontraste noch stärker hervor. Eine wohlthuende Kühle weht uns entgegen, aber auch ein leises Grauen wie vor Geheimnissen, die sich in dem Dunkel bergen, wandelt uns an.
Das ist die Stimmung, welche die Menschen der Frühzeit auf die Kniee zwang. Bilder aus der Geschichte tauchen vor Böcklin's innerem Auge auf. Und diese feierliche Natur belebt sich: Tempelsäulen erheben sich im Hintergrunde, vorn unter den Pappeln ist der Opferstein errichtet. Das Opferfeuer lodert darauf; ferzengerade steigt der Rauch empor, verbreitet sich zwischen den Aesten der Pappeln. Wunderbar, wie er, ein filbergrauer Schleier, in dem Gezweige hängt! Feierlich nahen die Priester. Drei von ihnen sind voran gegangen, sie knieen vor dem Altar, andere kommen gemessenen Schrittes, aufrecht, die Hände über der Brust gefaltet. Seltsam feierlich wirken ihre weißen Gewänder in der dunklen Umgebung, aus der demüthigen Haltung der Knieenden, aus der strengen, aufrechten der Herannahenden spricht die tiefe Empfindung, die in dem heiligen Hain über sie gekommen.
Formkunst. Aehnlich wie auf die Romantiker Platen und seine Nacheiferer folgten, so sind jetzt nach den Realisten und Naturalisten die reinen Formfünstler ge= kommen. Hauptsache ihrer Kunst ist ihnen die äußere Form. Die Sorge um sie leitet ihre Stoffwahl. All' das Ringen und Streben der Gegenwart ist für sie nicht vorhanden; sie wollen es nicht sehen, es könnte den ruhigen, glatten Fluß ihrer Verse stören. Es ist bezeich= nend, daß fast alle Vertreter dieser Richtung von reichen Eltern stammen. Für die Bestrebungen ihrer Klasse haben sie kein Verständniß mehr, das Untere" ist ihnen zu roh und gemein, sie haben keinen Wunsch weiter als„ in Schönheit" zu leben. Einer der meistgenannten dieser Formfünstler ist Hugo von Hofmannsthal , von dem wir weiter oben ein Gedicht bringen. Hofmannsthal hat vor einiger Zeit seine künstlerischen Anschauungen in einem Vortrage:" Poesie und Leben" dargelegt, aus dem wir Folgendes hierherseßen wollen:„ Ich weiß nicht, ob Ihnen unter all dem ermüdenden Geschwäß von Individualität, Stil, Gesinnung, Stimmung und so fort, nicht das Bewußtsein dafür abhanden gekommen ist, daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares, die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen. Die Worte find Alles, die Worte, mit denen man Geschehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervor rufen und nach inspirirten Gesezen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg in's Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie... Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedichte stehen. fann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens... Den Werth der Dichtung entscheidet nicht der Sinn( sonst wäre fie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Aeußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ur
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Nun, kleine Frau, und Sie so schweigsam?" Sie klopfte Marie in herablassend gönnerhafter Weise auf die Schulter. Marie stand auf:" Ja, ich glaube... wir miissen gehen."
,, Haben Sie wieder keine Ruhe? Nun, ich will nicht zureden." Frau Hella erhob sich gleichfalls. Marie hatte das Gefühl, als sei es ihr lieb, das Gespräch abzubrechen, und so verabschiedete man sich denn sehr rasch.
( Fortsetzung folgt.)
sprünglichen, die Meister, sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung, unterschieden haben... Das Rhetorische, wobei das Leben als Materie auftritt, und jene Reflerionen in getragener Sprache haben auf den Namen Gedicht keinen Anspruch. Ueber das allein Ausschlaggebende, die Wahl der Worte und wie sie gesetzt werden müssen( Rhythmus), wird immer zuletzt beim Künstler der Takt, beim Hörer die Empfänglichkeit zu urtheilen haben. Dies, was allein das Wesen der Dichtung ausmacht, wird am meisten berkannt. Ich kenne in feinem Kunststil ein Element, das schmählicher verwahrlost wäre, als das Eigenschaftswort bei den neueren deutschen sogenannten Dichtern; es wird gedankenlos hingesezt oder mit einer absichtlichen Grellmalerei, die Alles lähmt. Die Unzulänglichkeit des rhythmischen Gefühls aber ist ärger. Es scheint beinahe Niemand mehr zu wissen, daß das der Hebel aller Wirkung ist...."
Romantik und Realismus. Die Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano haben gemeinschaftlich eine Sammlung volksthümlicher Dichtungen unter dem Titel:„ Des Knaben Wunderhorn " herausgegeben. So dankenswerth diese literarische Gabe war, die ein Goethe mit größtem Beifall begrüßte, so vorsichtig sind die ausdrücklich als Volkslieder sich gebenden Stücke bezüglich ihrer Echtheit zu prüfen, denn die beiden Herausgeber haben einerseits nicht nur Volkslieder gesammelt in ihrem Buche, sondern Werke zeitgenössischer Dichter aufgenommen, auch eigene, ferner aber sich nicht gescheut, echte Volkslieder zu verbessern" und geradezu umzudichten.
Ein interessantes Beispiel möge zeigen, wie sie dabei zu Werke gingen. In mannigfacher Fassung ist der einfache Stoff behandelt, daß ein schweizer Reisläufer oder ein anderer geworbener Soldat desertirt und dafür den Tod erleiden muß.
Das prächtige Lied im Wunderhorn:" Zu Straßburg auf der Schanz", welches nicht selten so, wie es dasteht, für ein echtes Volkslied genommen wird, ist bestrebt, die Desertion recht poetisch zu begründen, und benutzt dazu die bekannte Thatsache, daß oft Schweizer in der Fremde von unbezähmbarem Heimweh ergriffen wurden, wenn sie durch irgend einen Zufall die melancholisch- eigenartige Melodie ihres heimathlichen Kuhreigens zu Gehör befamen.
In dem Tagebuch seiner musikalischen Reisen berichtet der englische Musikhistoriker Charles Burney von fünf schweizer Soldaten, die am Heimweh erkrankten, als sie zufällig in Valladolid , wo sie in spanischen Diensten standen, den Kuhreigen spielen hörten. Es ward so schlimm mit ihnen, daß man sie heinischicken mußte.
Die romantischen Liedersammler benutzten diese Notiz, und so beginnt das Lied:
Da ging mein Trauern an;
Das Alphorn hört' ich drüben wohl
anstimmen,
In's Vaterland mußt' ich hinüber schwimmen, Das ging nicht an, usw.
Im vierten Vers heißt es dann:
Ihr Brüder allzumal,
Heut' seht Ihr mich zum letzten Mal:
Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran, Das Alphorn hat mir solches angethan, Das flag' ich an.
Nun haben sich echt volksthümliche Fassungen der Klage todgeweihter Deserteure in Volksliedern gefunden. Deren eine bietet statt der Lesart des oben angeführten Verses im Wunderhorn die folgende:
Ihr Brüder allzumal,
Heut' seht Ihr mich zum letzten Mal. Unser Korporal, der gestrenge Mann, Ist meines Todes schuld daran, Den klag' ich an!
Ohne Zweifel ist die Fassung des Liedes durch die beiden romantischen Herausgeber des Wunderhorns sehr anmuthig und zartfühliger als das echte Volkslied. Dieses stellt fest als Grund der Fahnenflucht eine ganz gewöhnliche Militärmißhandlung durch einen brutalen Korporal, allerdings ein weit weniger romantisches und poetisches Motiv als Heimweh und berückender Zauber des Kuhreigens!
Nachdruck des Jnhalts verboten!
Verantwortlicher Rictatteur: Oscar Kühl in Charlottenburg. - Verlag: Hamburger Buchdruckeret und Verlagsanstalt Auer& Co. in Hamburg . Druck: Max Bading in Verlin .
W.