Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
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„Sie sind reizend," wiederholte er,„imd doch haben wir hier den Abschaum der Gesellschaft. Es giebt unter ihnen Mörder und Brandstifter, die sanft und gefügig wie Lämmer geworden sind. Das ist das Resultat unserer physischen und moralischen Dis- ziplin! Aus diesen entarteten Geschöpfen machen wir nützliche Arbeiter, wie man aus schlechten Ab-' fällen gutes, feines Tuch fabrizirt. Hier liegt die die Lösung der sozialen Frage, meine Herren!... Und vielleicht auch die Lösung der wirthschaftlichen Frage. Meine Burschen kosten dem Staat fünfzig Centimes pro Kopf und Tag und sie wühlen die Erde auf wie Tagelöhner, für die wir drei Francs be- zahlen müssen. Verminderung der Kosten bei der Handarbeit und sittliche Läuterung der Rasse, das ist der wahre menschliche Fortschritt!" Der Waldinspektor hatte bereits den Mund ge- öffnet, um über Nr. 24 einige Auskunft zu erbitten, aber trotz seiner menschenfreundlichen Theorien flößte ihm der Direktor mit der zerfleischten Lippe und den harten Augen nur ein mäßiges Vertrauen ein. Da er fürchtete, die Aufmerksamkeit des schrecklichen Fort- schrittsapostels auf seinen geheimnißvollen Lands- mann zu lenken, beschloß er lieber zu warten. Am nächsten Tage führte die Wirthin in Dvert's Zimmer einen Burschen von etwa fünfzehn Jahren und ließ sie dann allein. Das war Nr. 24. Blaß und ausgeschwemmt stand er da, eng in seine Ar- beitskleidung eingeschnürt. Die Mütze hielt er in der Hand. Sein Kopf mit den blonden, kurz geschnittenen Haaren machte den Eindruck einer Kugel. Die ver- schmitzten blauen Augen senkten und hoben sich ab- wechselnd, als wenn ihr Besitzer sein Gegenüber studiren und ausforschen wollte, ehe er sich ihm auslieferte. „Sie erkennen mich nicht, Herr?" fragte er endlich mit zittriger Stimme;„ich habe in der Zeit, da Sie in Villolle waren, doch mehr als einen Gang für Sie besorgt!" Bei diesen Worten erwachten die Erinnerungen des Waldinspektors plötzlich. „Herzkirsche!" rief er. Jetzt siel ihm der acht- jährige Junge mit wirren, strohblonden Haaren ein, der mit einem schlechten Hemde und einer zerlumpten Hose bekleidet in den Straßen herumbummelte und seine Lumpen mit so amüsanter Drolligkeit und Sorg- losigkeit drapirte. Wegen seiner drallen, rosigen Wangen, seiner kirschrothen Lippen hatten ihm die Leute den Namen„Herzkirsche" beigelegt. Sein Vater war unbekannt, ein armes Weib hatte ihn ausgesetzt. So wurde er im Waisenhause erzogen und übte hundert Berufe aus; der ehrenhafteste be- stand darin, die Liebesbriefe auszutragen, die die jungen Leute der Stadt den Grisetten schickten/ Im Sommer, in der Badezeit, gab er ans die Kleidungs- stücke der Badenden Acht, saß im Schatten am Ufer des Flusses, rauchte Zigarretten und lachte laut auf, wenn ein Anfänger im Schwimmen seine Angel losließ und unfteiwillig untertauchte. Im Winter flüchtete er sich in die Bude des Kastanienhändlers, er spaltete Holz, unterhielt das Feuer im Ofen und ergatterte hier und da einige gesprungene Kastanien, die ihm erst die Finger wärinten und dann die ge- bieterischen Forderungen des leeren Magens be- friedigten. Alles das kam Avert mit großer Klarheit wieder in den Sinn. Er betrachtete das aufgeschwemmte Ge- ficht: die rosigen Farben waren daraus verschwunden, und der Aufenthalt im Gefängnisse hatte in der Gegend der Augen und in den Mundwinkeln die Zeichen eines frühzeitigen Verfalls zurückgelassen. Er fühlte sich für dieses verlorene Leben mitverantwort- lich, und von Mitleid ergriffen betrachtete er fast liebevoll den jungen Menschen, der sich verlegen hin und her wand und seine Mütze zwischen den Fingern drehte. „Wie, Du bist's, Herzkirsche?" „Ja, ich bin's," versetzte der Sträfling. Ein Lächeln flog über sein Gesicht, und seine Augen blickten freier. „Mein armer Junge, Du hast Dich also in's Gefängniß bringen lassen?" „Ach ja, ich bin's!" entgegnete Herzkirsche, jetzt ohne die geringste Verlegenheit;„ich habe kein Glück
gehabt! Sie wissen doch, im Sommer paßte ich immer auf die Sachen der Leute auf, die sich in der Breche badeten? Eines Tages, als ich gerade eine Hose ausschüttelte, fiel ein Fünffrancsstiick'raus. Ich hatte nie so viel Geld gesehen, es brannte mir in den Fingern, der Kopf hat sich mir verdreht, ich Hab' das Stück genommen und bin ausgerückt... Wahrhaftig, ich hatt's kaum in der Tasche, da wollt' ich auch schon wieder umkehren und es in die Tasche stecken. Dummer Weise war ich gesehen worden, man hat mich gepackt, und bautz, in's Loch, dann vor's Gericht, wo die Richter mich verurtheilt haben, bis zu meinem einundzwanzigsten Jahre im Käfig zu bleiben.. Das nennt man doch Pech, was, Herr?" Er sprach das mit rauher Stimnie, in einem Gemisch von Gleichgiiltigkeit und Frechheit. Avert fragte ihn, wie er das vom Direktor so viel ge- rühmte Regiment fände. Da verlängerte sich seine Unterlippe und er schnitt eine bezeichnende Grimasse. „Ach, das ist garnicht angenehm! Man hat uns von A... zu Fuß kommen lassen, mit einer Suppe im Magen, nichts weiter, und seit wir ge- kommen sind, arbeiten wir in der Nähe des Waldes, wo der Kirchhof des Gefängnisses angelegt werden soll. Zehn Stunden in der heißen Sonne die Erde umgraben! Dazu schlecht ernährt, zu allen Mahl- zeiten Erbsen und anstatt des Nachtisches Maul- schellen. Die Wärter prügeln wie die Taubstummen! Ach, Herr, wo ist die Zeit hin, da ich bei uns zu Hause am Fluß entlang bummelte und den Fischen zusah, die im Wasser vorüberschwammen! Aber der Herr Direktor läßt nicht mit sich spaßen, er will nicht, daß es heißen soll, man langweile sich in seinem Kasten. Alle frisch wie die Rosen und lustig wie die Stieglitze! Er läßt uns singen, damit die Leute glauben sollen, wir seien glücklich, wie der Hahn ini Korbe. So dumm! Und dabei habe ich fünf Jahre abzumachen!... Aber, sehen Sie, Herr, ich habe keine Lust, meine Zeit abzubrummen." Sein Auge leuchtete, er blinzelte geheimnißvoll und bat seinen Landsmann zum Schluß noch um einige Sons für Tabak. Ivert gab ihm einen Franc, ließ aber seinem Geschenk eine kleine Moralpredigt folgen.„Herzkirsche" steckte das Geldstück in das Futter seiner Mütze, hörte den Sermon mit ironischem Lächeln an und machte unter dem Vorwande, die Stunde der Rückkehr nach der Arbeitsstelle hätte geschlagen, dem Inspektor seinen Diener. II. Der neue Frauenkirchhof sollte ein ganzes Brach- feld einnehmen, das sich an die Lichtung des Ge- Hölzes von Montgerand anschloß. Von dem Ort aus, wo die jungen Sträflinge die Gräben der Grundmauer aushoben, konnte man in das Thal der Aube hinuntersehen. Man erblickte wie im Grunde einer Höhle die kleine Kirche, die beiden Straßen des Dorfes, die sich an einen Kreis von Wäldern lehnten, die Schieferdächer der alten Abtei, die aus einem Fichtengestrüpp hervorragten, dann die silberglänzende, zwischen blumigen Wiesen dahin- schlängelnde Aube, die in der Sonne glitzerte, bis in der Ferne ein neuer Horizont von Hügeln und Wäldern den Blick aufhielt. Das Licht spielte auf den blühenden Wiesen, auf dem dahinfließenden Wasser, auf dem Einerlei der in der Ferne bläulich schimmernden Blumen. Lerchen jubilirten hoch am Himmel und Hahnengekrähe und Kindergeschrei drang vom Dorfe her. Es war ein lieblicher Anblick, dieses von der Helle des Sommertages überfluthete Thal; aber die jungen Arbeiter des Brachfeldes von Mont- gerand wurden dessen nicht ftoh. Unter dem Argusblicke des Oberaufsehers Seurrot wühlten sie die Erde um, und man ließ ihnen nicht einmal Zeit, Athem zu schöpfen. Die Aeltesten arbei- teten mit der Hacke, die Kleineren mußten zu zwei und zwei den Karren schieben. Die Rücken waren mit grober Leinewand bedeckt und Strohhüte saßen auf den Köpfen. Stets waren sie in Bewegung und bohrten in die graue, steinige Erde eine Fülle weißer Flecken. Wenn die Burschen sich erhoben, um sich die Stirn zu trocknen, erweckte der Anblick
des grünen Thales, weit entfernt, sie zu beruhigen oder zu erquicken, in ihren Herzen einen dumpfen Zorn. Diese Aufforderung zur Freude, die in der Luft herumflatterte, hatte für sie etwas Ironisches und Grausames. Der freie Flug der Lerchen, das Schwirren der Schwalben, die über den Fluß dahin- strichen, erinnerten sie nur um so deutlicher an die Zwangsarbeit, an die Scheltworte der Wärter, an die Riegel des Gefängnisses und erweckte in ihnen den Wunsch, sich zu empören und die Flucht zu ergreifen. Unter Denen, die sich der Arbeit am Ungedul- digsten fügten, befand sich„Herzkirsche". Als er am vorigen Abend aus der Wohnung des Waldinspektors gekommen war, hatte er sich beeilt, einen Theil seines Geldes zum Ankauf eines Päckchens Zigarretten und- einer Schachtel Streich- Hölzer zu verwenden. Seine neuen Erwerbungen hielt er in den Taschen seiner Hosen versteckt und seit dem Morgen befühlte er sie von Zeit zu Zeit mit väterlicher Sorgfalt und nahm sich vor,„sich eine in's Gesicht zu stecken", sobald Seurrot den Rücken gekehrt haben würde. Die Arbeit wurde von einer halbstündigen Ruhe- pause unterbrochen. In dieser Zeit nihte auch der Aufseher von seiner„anstrengenden" Thätigkeit aus. Seurrot hatte ein zartes Herz, und die leuchtenden Augen der Wirthin zum„Goldenen Löwen" zogen ihn mit unwiderstehlicher Gewalt nach dem Garten des Wirthshauses, das der Arbeitsstelle gerade gegen- über lag.„Herzkirsche" hatte darauf gerechnet. So- bald der Oberaufseher den Weg nach dem Garten eingeschlagen hatte, schlich Nr. 24, sich windend wie eine Eidechse, hinter die Wachholderbäume des Ge- strüpps und erreichte das Dickicht. Hier wählte er unter den Bäumen am Wegeraude eine Esche mit schlankem Stamm und blattreichem Wipfel aus und kletterte in zwei Sätzen wie ein Eichhörnchen hinauf. Rittlings auf einem hohen Aste hockend, im dichten Blattwerk versteckt, zog er nun seine Zigarretten hervor, zündete eine an und sog langsam den Duft der verbotenen Frucht. Man fühlte sich wohl da oben im Grünen und in der frischen Luft! Zwischen den Zweigen sah man die Dächer des Dorfes, das Schimmern der Aube in der Ebene, dann auf den beiden Abhängen des Thales die wogenden Hafer- und Roggenfelder, die mit den bunten Farbentönen des Klees abwechselten. Die Amseln schlugen im Dickicht, die Grasmücken trillerten auf den Weiden am Flusse , und ein frischer Wind wiegte Einen wie in einer Hängematte. Man fühlte sich hier so wohl, daß„Herzkirsche" sich verspätete. Als Seurrot, eine Rose zwischen den Zähnen kauend, zurückkam und die Revue über seine Truppe abnahm, bemerkte er auf den ersten Blick, daß einer der Sträflinge beim Appell fehlte. „Wo ist Nr. 24?" rief er. Die Burschen wechselten Blicke und beschränkten sich darauf, mit einem Achselzucken zu antworten. Der Oberaufseher dachte zuerst an eine Flucht und wurde blaß bei diesem Gedanken. Seine uu- ruhigen Augen blickten forschend in das Dickicht; plötzlich entdeckten sie auf dem Wipfel eines Baumes die leichten Ringe eines bläulichen Dampfes. Das war nicht natürlich, und der Delinquent mußte sich dort oben versteckt haben. Seurrot sprang auf die Böschung; mit einem Satz war er am Fuße der Esche und hatte keine große Mühe, dort die herab- hängenden Füße des Burschen zu entdecken. „Ah, Hallunke!" rief er,„Du machst Dir Be- wegung und rauchst noch dazu— was gegen das Reglement ist? Willst Du sofort herunterkommen, Du Taugenichts?" „Herzkirsche" war ertappt, doch er hatte den Vortheil seiner Stellung und versuchte, dieselbe aus- zunutzen. „Ich will schon," versetzte er,„aber versprechen Sie mir vorher, mich nicht zu bestrafen." „Ich glaube gar. Du stellst Bedingungen?" erwiderte Seurrot wüthend.„Komm gutwillig her- unter oder es wird Dir leid thun." „Dann bleibe ich oben!" erklärte„Herzkirsche". Der Baum war sehr hoch und sehr dünn; der Oberaufseher besaß keine Gewandtheit im Klettern,