260Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbetlage.Dann konimt der Schwärm näher. Die Alteniacht die Zaunthllr auf. Doch die Menschen ziehenalle vorbei. In der Mitte der Straße gehen einigejunge Leute mit Soldatenmützen und Stöcken, andenen bunte Troddeln baumeln. Sie müssen sichgegenseitig stützen und halten, um nicht über einanderzu stolpern. Der Mann und die Frau sehen ihnennoch nach, als sie schon um die Biegung der Straßeverschwunden sind, und der Lärm ihres Singens undLachens nach und nach verhallt.Da geht in dem Schatten der gegenüberliegendenHäuser ein Mädchen vorbei. Wie es in den kleinenStädten und Dörfern Sitte ist, grüßt es herüber:„Abend oof!"„Abend, Fiking!"Das klingt wie eine Aufforderung zum Näherkommen. Das Mädchen geht zu denAlten. Es ist ein breithüftiges, derb-armiges Geschöpf, das die ganze Frischeder bäuerlichen Arbeit ans seinem kräf-tigen Körper ausstrahlt. Die starkeBrust und der gut ausgebildete Mittel-leib treten bei dem enganliegendenKleide deutlich hervor. Trotz ihrerursprünglichen Derbheit hat sie dochdie weichen Linien der freien Natur,die keine Stahlstangen und Schnür-leiber braucht, um schön zu sein.„Denk di nur eens," sagt die Alte,„dei Gustav is noch nich to Hus."Die Alte weiß nicht, ob der Mond,der hinter dem Kirchthurm aufgeht,das Gesicht des Mädchens so bleichmacht oder—„Nu komm man eens herin,"meint sie.Die drei sitzen zusammen um denTisch. Die Alten schweigen, doch dasMädchen plaudert unaufhörlich, un-aufhörlich. Es lacht auch manchmal;dann fahren die Alten aus ihremSinnen auf. Aber trotzdem wächst inallen Dreien das kalte, eisige Entsetzenauf, das wir spüren, wenn wir einenLieben vergebens erwarten. Und allerleischreckliche Bilder steigen auf. Unddie Stimme des jungen Mädchenshört sich so hohl an, daß es einemgrausen könnte....Endlich schlägt es von der Kircheher zehnmal.„Jetzt kommt dei Zehnuhrzug,"sagt der Mann leise. Das Mädchenhält jäh in seinem Lachen ein. AlleDrei gehen wieder hinaus. Nun istes ganz finster draußen. Den Mondbedecken dichte Wolkenmassen. Vonden Pappeln ist nur ein dunkler Schattenzu sehen; hinten leuchtet ein grünesLicht.Bald darauf kommen schwankendeLaternen an. Mehrere Wagen rotternvorüber. Ihr Lichtschein tanzt überdie drei Wartenden hin, dann ist eswieder dunkel und still. Nach einem Weilchen aberhört man unsichere Schritte den Weg herab kommen.Die Frau geht ihnen entgegen:„Jetzt kummt hei!Jetzt kummt hei!"Auf der Brücke stößt sie mit einem jungenMann zusammen, der wie die Frilhergekommeneneine Soldatenmiitze und einen Stock trägt.„Oh, Ihr seid's, Karlmann?"„Jawoll, ick, der Karlmann." Er spricht mitder schweren Zunge der Betrunkenen.Sie sind zusammen an der Gartenthür angelangt,wo der Alte und das Mädchen stehen.„Awerst wo is denn uns Gustav?"„Gustav— Gustav?" Der Reservist muß sicham Zaun halten. Dann nimmt er einen langenZug aus der Schnapsflasche, die ihm an der Seitehängt.„Wie kann man so trinken?! Pfui, Karl!"sagt das Mädchen.„Oh, bat lernt man— dat lemt man! In derKaserne haben wir gesoffen—— ick kann Dirsagen."„Weeßt Du nix nich von Unsen Gustav?" fragtder Alte scharf.Der Reservist sieht ihn groß an; dann lacht erlos:„Der Gustav-- der Gustav--- läßt ook-- schön grüßen.-- Der-- der will sicherst noch een paar Tage amüsiren in Berlin.——Der hat da—— so'n kesses Mächen.-- Siehaben ihm ja Geld geschickt—— zu—— zuWerkzeug.-- Tat jiebt'n par lustige Dage!"Er krümmt sich vor Lachen.Die Drei sehen ihn starr an. Das Mädchenfaßt sich nach dem Hals und beißt die Zähne indie Lippen. Der Mann läßt den Kopf sinken. Nurdie Alte sagt wimmernd:„Und Du wolltest'n ookDas Clttc(Sieb. Nach einem Relief von Hans Dammann.mit Gewalt bei de Soldaten hewwen-- damit heien Schliff kreggt.—— Nu hewwen se'n im verdorben!— Nu hewwen se'n nu verdorben!"--ÖDemokratische Anschauungenund Einrichtungen im alten Athen.Von E. West.'s ist bemerkt worden, daß die großen Staats-mänuer in Athen alle ein mehr oder mindertrauriges Ende nahmen. Die Thatsache istunzweifelhaft richtig; und heute noch wird sie aus-genützt, um gehässige Urtheile über die Demokratiezu begründen. Aber gerade darin zeigt sich derecht demokrasische Geist der Griechen, daß ihnen diegemeinsamen Interessen und die Pflichten gegen dasVaterland höher standen als alles persönliche Ver-dienst. Schließlich ist ja auch der größte Mannimmer nur getragen von der Mitwirkung seinesVolkes. Was hätte denn z. B. dem Miltiadesaller Muth und alle Klugheit genützt, ohne den auf-opfernden Muth und die heroische Tapferkeit desgriechischen Heeres? Miltiades, auf die errungeneMachtstellung bauend, hatte sich verleiten lassen, durchspätere eigenmächtige Unternehmungen das Vater-land zu gefährden, und verfiel damit den GesetzenAuch der höchste Dienst, der dem Vaterlande er-wiesen wird, ist schließlich nur eine Pflichterfüllung.Durch das Gemeinwesen allein existirt der Mensch,durch und in diesem kann er ain besten seine Gabenbethätigen, mit Recht kann es daher fordern, daßer sie ihm widme. Die freien Griechen wußten inecht demokratischem Geiste ihre Freiheiten zu schützen, indem sie dem per-sönlichen Ehrgeize stets die Flügelbeschnitten, sobald er die Sphäre derallgemeinen Interessen zu überragenbegann. Die ängstliche Wahrung ihrerFreiheiten ließ die Griechen in gleicherLage auch später jedes Mal so handeln.Uebrigens braucht ein lebensfähiges,thatkräftiges Volk, das zugleich einfreies ist, um hervorragende Geisternie verlegen zu sein, die den höherenleitenden Aufgaben gewachsen sind.Das beweist die Geschichte aller auf-strebenden Völker. Der Kräfteverbrauchist in einem wirklich freien Volk nuneinmal ein ungleich rascherer als ineiner stagnirenden Despotie; und sollteselbst dem Einzelnen einmal Unrechtgeschehen sein, so ist das ein kleineresUebel, als daß umgekehrt die Gesammt-heit in unnatürlicher Verkehrung desVerhältnisses von einem Einzelnen(„Herrscher") leide.Aber noch in einer ganz anderenBeziehung zeigt sich der echt demo-kratische Geist der athenischen Ver-fassung, die freilich, außer von demgroßen Philologen und Alterthums-forscher August Böckh, ziemlich unbe-achtet geblieben. Nichts nämlich wider-streitet, wie dieser Gelehrte hervor-gehoben hat, dem Gefühl der Altenfür Freiheit mehr, als persönlicheSteuern.In Athen war es Grundsatz, daßnicht vom Körper, sondern nur vomVermögen gesteuert werden soll, dochauch dieses nur im Nothfalle, undzwar unter einer ehrenvollen Form.Eine regelmäßige Grundsteuer gab esin Athen nicht, wahrscheinlich auch inallen Freistaaten von Hellas nicht.Kurz, es gab keine Steuer unmittel-bar vom Eigenthum, also auch keineHäusersteuer.Die Steuer, die der Einzelne alsowirklich zu entrichten hatte, war imniernur eine Ehrensteuer, die zwar ordentliche Staats-steuer war, aber trotz der nicht unbedeutenden Be-lastung durch dieselbe, niemals etwas Unangenehmesoder Verhaßtes an sich hatte, wie so häufig diemodernen Steuern. Unmittelbare Besteuerung desBodens aber und körperlicher Thätigkeit, also auchder Gewerbethätigkeit, galt für tyrannisch. Eswurde eben geradezu als ein Theil der Freiheitangesehen, daß das Eigenthum des Bürgers, seinGeschäft, sein Körper nicht zinspflichtig sei, außerdurch Selbstbesteuerung, d. h. durch freiwilligeLeistungen. Am schimpflichsten war die Kopfsteuer.Es ist das, sagt Tertullian, geradezu eine Ver-achtung der Menschen, ein Merkmal der Gefangen-schaft. Wessen Haupt nicht frei ist, der muß esfreilich versteuern, daß es ihm nicht genommenwerde, gerade so gut wie die Lykier(im Zustandeder Freiheit) langes Haar zu tragen liebten, aber,von Krösus unterjocht, Kopfgeld zahlen� mußten,wenn sie nicht geschoren sein wollten, weil Krösus