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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
sam berauscht einzuschlafen scheint. Auf einem großen Stein über dem Fontanellebächlein, das in dieser Gegend sehr schnell und heftig fließt, saßen Norine Vincart und Herzkirsche und ließen ihre Beine in das Wasser hängen. Sie hatten die Schuhe ausgezogen, und das Wasser beneßte in seinem hastigen Laufe ihre Füße mit einem leichten Sprudeln. Es war schon etwas über vierzehn Tage, daß der falsche Claude Sinson dem Vater Vincart als Gehülfe diente. Man verwendete ihn dazu, die Holzklöße zu sägen und zu spalten, und da er rüstig und gewandt war, so entledigte er sich dieser Arbeit auf's Beste. Die vierzehn Tage waren ihm als wahre Glückstage erschienen. Der Vater Vincart war, obwohl zänkisch und durchaus nicht geduldig, tein böser Mensch; was Norine anbetraf, so hatte sie ihren Schüßling lieb gewonnen, und da sie als verzogenes und verhätscheltes Kind ihren Vater an der Nase herumführte, so machte sie dem neuen Lehrling das Leben sehr angenehm.
die sie nach Herzkirsches Größe zugeschnitten, befleidet und ihn in den Verschlag einlogirt, wo man die Holzschuhe unterbrachte, neben dem Bündel Stroh und Heu, das für den abwesenden Gehülfen bestimmt war. Hier schlief der ehemalige Sträfling, Hier schlief der ehemalige Sträfling, in eine Pferdedecke eingewickelt, fest bis zum Sonnenaufgang, dann erwachte er frisch und munter, beim Gesang der Rothkehlchen und auf die Stimme Norines hin, die stets frühzeitig auf dem Posten war.
Obwohl man in der Werkstätte des Vaters Vincart tüchtig arbeitete, fand man trotzdem noch Zeit, sich des Lebens zu freuen, und der Tag zählte so manche Erholungs- und Ruhestunde. Die Arbeit begann mit Tagesanbruch und dauerte bis zur Vesper stunde. Während der starken Nachmittagshize hielt der Holzschuhmacher Siesta; um vier Uhr wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Norine und Herzkirsche benutzten die Gelegenheit, um die nahen Gehölze zu durchstreifen. Das Mädchen, das geschmeidig wie eine Eidechse und lebhaft wie ein Eichfäßchen war, Sie hatte ihn mit einer alten Holzhauerjacke, weihte ihren Gefährten in alle Genüsse des Wald
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Feuilleton.
lebens ein. Sie verstand es, Schlingen für die Hasen zu stellen, und im Bach Forellen und Krebse zu fangen. Sie wies ihm im Haidekraut oder auf den Grasplätzen die guten Pläge für Pilze, wo man sicher war, eine reiche Ernte zu halten. Das einsame Leben im gesunden Waldesgriin, die Arbeit in der frischen Natur, die Streifzüge durch die Gebische hatten Herzfirsche schnell verwandelt. Er war schon nicht mehr der scheue und tückische Sträfling, auf dessen Schultern die Schläge der Gefängnißwärter nur so herniederregneten, der von den Jahren der Landstreicherei verderbte Taugenichts, dem die korrumpirende Frühreife des Gefängnisses ihren Stempel aufgedrückt hatte; sein unschuldiges und harmloses Naturell hatte wieder die Oberhand gewonnen. Dank dem täglichen Verkehr mit der kleinen, wilden Fee, die seine Gefährtin und seine Lehrmeisterin geworden war, entdeckte er jetzt in seinem Herzen Keime des Zartgefühls und der Empfindlichkeit, über die er selbst ganz verwundert war. ( Fortsetzung folgt.)
Bwiegespräch.*
Die Höhen der Alpen ... Eine ganze Kette schroffer Felshänge.. Das Herz des Gebirges.
Ueber den Bergen wölbt sich der blaßgrüne, helle, stumme Himmel. Starker, steifer Frost; fefter, glitzernder Schnee; aus dem Schnee starren rauhe Backen eisumpanzerter, windumfegter Felsen.
Zu beiden Seiten des Horizontes strecken sich zwei Riesen wuchtig und machtvoll himmelan: die Jungfrau und das Finsteraarhorn.
Und die Jungfrau spricht zum Nachbar: Was giebt es Neues? Du hast besser sehen. Was geschieht da unten?
Es bergehen einige Jahrtausende: ein Augenblick. Und es donnert das Finsteraarhorn zur Antwort: Dichte Wolken verhüllen die Erde... Wart' ein wenig! Es vergehen noch Jahrtausende: ein Augenblick. Und jetzt? fragt die Jungfrau.
Jezt kann ich sehen; es ist Alles, wie es war: bunt und winzig. Blau schimmern die Gewässer; schwarz dehnen sich die Wälder; grau blinken die Haufen zufammengefügter Steine. Um sie herum tummeln sich noch immer jene Geschöpfchen, Du kennst sie, die kleinen Zweifüßler, die weder Dich noch mich je haben verunglimpfen fönnen.
Die Menschen?
Ja, die Menschen.
Es vergehen Jahrtausende: ein Augenblick. Nun, und jetzt? fragt die Jungfrau.
Es ist, als ob es jener Geschöpfchen weniger ge= worden, dröhnt's vom Finsteraarhorn herüber: es ist unten flarer; bie Gewässer scheinen schmäler; die Wälder haben sich gelichtet.
Es vergingen noch Jahrtausende: ein Augenblick. Was siehst Du? fragt die Jungfrau.
Hier um uns scheint es rein, antwortet das Finsteraarhorn; in der Ferne aber giebt's in den Thälern noch einige Flecken, und es bewegt sich dort etwas.
Und jetzt? fragt die Jungfrau, als weitere Jahrtausende, ein Augenblick, verflossen.
Nun ist es schön, antwortet das Finsteraarhorn; überall, wo man hinblickt, ist Alles weiß und rein.. Alles bedeckt unser Schnee, gleichmäßiger Schnee, gleichmäßiges Eis. Starr ist Alles. Schön ist's nun und ruhig.
Ja, jetzt ist es schön, erwidert die Jungfrau. Aber nun haben wir genug geschwätzt, Alter;' s ist Schlafenszeit! Ja, Du hast Recht.
Es schlafen die riesigen Berge; es schläft der grüne, helle Himmel über der auf ewig verstummten Erde. - Iwan Turgenjew .
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Das alte Lied. Das Motiv des fleinen Bildes von Hans Dammann ist einfach und alt: Ein Mädchen, das dem Geliebten nachweint, der auf einem Schiffe in ferne Länder fährt. An unserer Abbildung wird dem Betrachter die starke Nundung der Körperformen auffallen. Sie treten schärfer heraus, die Schattenwirkungen sind kräftiger und härter, als es sonst bei Bildern der Fall ist. Das Original ist ein Relief. Alles darin, auch die Wellen, das ferne Schiff, die Gräser am Strande find durch eine wirkliche Erhöhung oder Vertiefung der Grundfläche und die dadurch entstehenden Schatten dargestellt. Das Relief steht seiner künstlerischen Wirkung in der Mitte zwischen der Sculptur und dem Gemälde. Dabei können die Körper mehr oder weniger stark aus der Fläche hervortreten. Vom niedrigsten Flachrelief, das sich kaum über den Grund erhebt, bis zum stärksten Hochrelief, in dem völlig runde Körper fast ganz von der Fläche abgetrennt sind, hat man alle Zwischenstufen entwickelt. Die ursprüngliche Aufgabe des Neliefs ist die Ausschmückung der Fläche. Als Flächendekoration hat es seine erste glänzende Entwickelung in der griechischen Kunst gehabt, in der es dazu diente, in einzelnen abgetheilten Feldern oder als fortlaufender Fries die Fläche zwischen Säulen und Dach zu schmücken. Berühmt sind vor allen die Reliefs des Parthenon in Athen , das unter der Leitung des Phidias gebaut wurde. Es find reine Figurendarstellungen; in einfachen edlen Linien ordnen sie sich der Fläche ein. Andeutungen der Landschaft sind in diesem strengen Stil nicht gegeben. Im Gegensatz entwickelt sich später ein„ malerischer" Stil. Aus einfachen Andeutungen heraus erwachsen allmälig landschaftliche Hintergründe. In der Gegenwart, in der die Landschaft im Allgemeinen vorherrscht, hat sie im Relief vielfach dieselbe Bedeutung wie im gemalten Bilde. Der eigentliche Charakter des Reliefs ist damit freilich verwischt; denn nun ist eine scharfe Grenzlinie zwischen Relief= darstellung und gemaltem Bilde nicht mehr zu ziehen.-
Altoldenburgische Weberstube. In vielen Dörfern stößt man noch auf die Haus- oder Gehöft- Bezeichnung Beim Weber". Das zeigt an, daß hier einstmals der Dorfweber gehaust. Jezt klappert schon längst kein Webstuhl mehr, die Nachkommen des Alten sind Tagelöhner geworden, nach der Stadt gezogen, oder haben irgend eine andere Beschäftigung ergriffen. Bis in die sechziger Jahre hinein hatte wohl jedes größere Dorf seinen Leinweber. Sehr oft saß er in einem Häuschen am Bache. In jedem Hofe wurde die ganze Winterzeit hindurch am Abend zwei Stunden gesponnen. Vom feststehenden Rocken und mit dem Spinnrade. Was in dieser Zeit fertig wurde, gehörte dem Bauer, höchstens für besonders fein und sauber gesponnenes Garn gab's hie und da eine kleine Extra- Entschädigung. Der Lohn der Dienstboten bestand damals zum Theil noch aus Naturalien. Wo es halbwegs etwas Flachsbau gab, erhielten die Mägde jedes Jahr einige Beete vom Flachsfeld zugetheilt. In ihrer freien Zeit konnten sie dann den Flachs raufen, brechen, hecheln und verspinnen. Die fertigen Garndocken kaufte ihnen entweder die Bäuerin um ein billiges Geld ab, oder sie trugen sie zum Weber und ließen sich für ihr Geld ein Stück Leinwand daraus machen. War die Spinnzeit vorbei, dann wurde alles Garn, das im Hofe fertiggestellt worden, zum Dorfweber geschafft. Der fertigte daraus, je nach der Stärke des Fadens, grobe" oder„ feine" Leinwand. Die Stücke, Stöße", waren 18 bis 20 Fuß lang und wurden im Obstgarten mit Sonne und Wasser gebleicht. Aus der " groben" Leinwand schnitt man Bett- und Handtücher, Schürzen und Arbeitshemden, aus der feinen"„ gute"
Hemden, für den Sonntag und die Festzeiten. Beim Spinnen riß oft der Faden, der Weber war oft recht zitterig; so famen besonders in die„ grobe" Leinwand eine Unmenge von Knoten. Wer jemals in so einem Bauernhemd geschlafen, der weiß, daß es that, als läge man auf Hunderten von kleinen Kieselsteinen.
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Unser heutiges Bild, das Original ist auf der diesjährigen Berliner Kunstausstellung zu sehen- stellt die Stube eines oldenburgischen Dorfwebers dar. Zur Thüre herein tritt ein junges Mädchen, dem Aussehen nach eine Tochter des Pastors oder Lehrers, und bringt einen Handkorb voll Garn. Die Frau des Webers hält einen Augenblick im Spulen inne und blickt erwartungsvoll auf. Der in seinem Stuhl hockende Weber hat keine Zeit dazu. Er ist eben daran, das Schiffchen durch den " Bettel" zu werfen, im nächsten Augenblick wird er die " Lade" anziehen; dann kann er einen Augenblick verschnaufen, seinen Gast begrüßen und seine Bestellung entgegennehmen. Der Verdienst eines Dorfwebers war äußerst gering. Baargeld sah er selten. Die Bauern zahlten ihn meistens mit Kartoffeln oder Getreide. Wenn es Arbeit gab, getraute er sich kaum aus seinem Webstuhl herauszukriechen; dann kamen wieder Zeiten, in denen er garnichts zu thun hatte. War der Weber ein jüngerer Mann, dann ging er wohl, wenn er sich darauf verstand, als Musikant auf die Kirchweihen und zu den Tanzunterhaltungen. Oft machte er auch den Dorfbalbirer. Kunstfertigkeit war dazu nicht erforderlich. Zu vier, fünf Schnitten sagte der Bauer fein Wort. Zu was gab's denn Zündschwamm? Er schimpfte erst, wenn er blutete ,, wie eine Sau". Das nächste Mal fam er aber doch wieder. Schon in den sechziger Jahren sah man, daß der Erwerbszweig vor seinem Tode stand. Unter hundert Webstühlen traf man nicht einen neuen. Die Weberbäume waren blank und gelb, als wären sie aus Stein gedreht, Lade und Gestell vermorscht. Selbst in den Holztheilen der Schüßen" fraß der Wurm. Seitdem haben, wenn man von einigen abgelegenen Bezirken ab= fieht, der mechanische Webstuhl und das Chlor, das die Rasenbleiche überflüssig macht, dieser Art Handweberei vollends den Garaus gemacht. Es wird ihr niemand eine Thräne nachweinen, der weiß, welche Anforderungen sie an den Arbeiter stellte, und wie wenig sie ihm dafür zu bieten vermochte.
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Die französische Revolution lehrt eigentlich recht, wie unendlich viel Menschen von Bedeutung, die sonst im gemeinen Leben verpuffen, zu jeder Zeit vorhanden sind. Darum darf uns kein Abgrund erschrecken, kein Gipfel verwundern, der unerwartet und plöglich erscheint oder hervortritt.
Wenn eine Revolution verunglückt, so verunglückt ein ganzes Jahrhundert, denn dann hat der Philister einen Sachbeweis.
Die Menschen helfen lieber dem, der ihrer Hülfe nicht bedarf, als dem, welchem sie nöthig ist.-
Ein Apfelbaum ward arretirt, Der Blätter ausgestreut, Auf denen klar zu lesen stand, Daß sich die Zeit erneut.
Nachdruck des Juhalts verboten!
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