Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Klang es bald darauf mit thränenerstickter Stimme. Beret Klöften hob den bleichen Kopf ihres Kindes empor.

" Lebst Du, Agestin, lebst Du? Antworte mir, mein Junge!" Sie brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Hans Fly hatte seine Fackel in den Schnee gesteckt und arbeitete aus Leibeskräften mit, aber ihre Bemühungen, den Körper herauszuziehen, scheiterten an dem Widerstand, den die angeschnallten Sti leisteten. Der Bauer holte aus seiner Brusttasche ein Fläschchen hervor. Hier, Beret, gieße ihm etwas Branntwein in den Mund." Die Mutter that, wie er sagte. Schluchzend riß sie Joppe und Weste des Verunglückten auf und begann ihm die Brust mit Schnee zu reiben.

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,, Agestin, Agestin, mein einziger Junge, wach' auf! Hörst Du nicht? Lebst Du denn nicht mehr?" Hans Fly hatte indessen die Füße des Knaben von den Schneeschuhen befreit.

" So, Beret, jetzt fönnen wir ihn herausheben," sagte er, und wischte sich mit der rauhen Hand eine Thräne aus dem Auge. Komm, wir wollen sehen, ob er noch lebt." Mit vereinten Kräften gelang es, den scheinbar Leblosen aus dem Loch zu heben und ihn quer über die Ski zu legen. Dann zog der Bauer sein Messer aus der Scheide.

,, Das Ding ist neu, die Klinge ist noch blank," sagte er und hielt dem Knaben den Stahl zwischen die halb geöffneten Lippen. Nachdem er sich über zeugt hatte, daß die blanke Klinge angelaufen war, jagte er froh erregt:" Er lebt, Beret! Jetzt wollen wir ihn in den Schlitten tragen. Nimm Du die Fackel, meine Schneeschuhe sind breit. Sie werden uns wohl Beide tragen können." Er griff den Knaben unter die Arme und richtete ihn auf, faßte ihn dann auf's Neue unter den Hüften und legte ihn über die linke Schulter. Beret nahm die Fackel, und langsam näherten sie sich dem auf der Land­straße wartenden Schlitten.

Einige Minuten später jagten sie, was das Pferd nur rennen konnte, durch den tiefen Schnee der Land­straße. Um Mitternacht hatten sie den Hof Fly er­reicht. Hier wurde Agestin in ein vorher gewärmtes Bett gebracht, mit wollenen Tüchern gerieben und gepflegt, bis er endlich müde die Augen öffnete. Als er das verweinte Gesicht seiner Mutter über sich erblickte, flüsterte er mit einem schwachen Lächeln: " Ich hab' sie doch gesehen."

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Was hast Du gesehen, Agestin?"

" Den Berggeist und die Jungfrauen."

( Fortsetzung folgt.)

Bilder aus dem absoluten Staate des achtzehnten Jahrhunderts.

Von Paul Kampffmeyer .

s ist wahr, unser liebes deutsches Vaterland hat an gar manchen Uebeln gefranft, an einem Uebermaß von Freiheit aber gewiß nie. Und dennoch würde dem Bürger des achtzehnten Jahr­hunderts unser heutiges deutsches Reich als ein Tummelplaz unerhörter Zügellosigkeit und Un­gebundenheit erscheinen, so war er an eine staatlich polizeiliche Reglementirerei bis auf den letzten Hosen­Enopf herunter gewöhnt. Er würde an allen Ecken und Enden nach der allwissenden, fürsorglichen Polizei forschen, und nimmer könnte er den Gedanken er­fassen, daß die Welt bei so vieler Freiheit nur einen einzigen Tag bestehen kann. Uns flößt mit unter schon der bloße Anblick der helmbeschirmten Ordnungswächter eine Art Blaukoller", eine Art frankhafter Apathie gegen das blaue Polizeituch ein. Aber könnten die Münder unserer Altvordern noch einmal von der allumfassenden Thätigkeit der früheren Polizei reden, so verständen wir das Suchen und Fragen der guten Leute nach dem Büttel sehr wohl. Doch ihre Minder bleiben stumm, und so müssen wir aus alten Sagungen und Ordnungen den un umschränkten, vielregierenden Polizeistaat des vorigen Jahrhunderts wieder auferstehen lassen.

Im Zeitalter des sogenannten aufgeklärten Despo­tismus ließ der geschäftige Staat seine Birger nie­mals aus den Augen. Er stand an ihrer Wiege und an ihrer Bahre; ja, er wandte ihnen in gewissen Fällen schon vor ihrer Geburt seine Aufmerksamkeit zu. Der fünftige Weltbürger, der in einem unehe­Der fünftige Weltbürger, der in einem unehe­lichen Liebesverhältniß erzeugt war, mußte schon im Mutterleibe der hohen Obrigkeit angezeigt werden. Das arme geschwängerte Mädchen hatte ihr schmerz­liches Geheimniß dem vorlauten Vater Staat anzu­liches Geheimniß dem vorlauten Vater Staat anzu­vertrauen, wenn sie nicht wegen Verheimlichung der Schwangerschaft das Zuchthaus betreten wollte. In einer Fürstlich Waldeck'schen Verordnung lesen wir 3. B. folgende grausame Bestimmung über die Ver­heimlichung der Schwangerschaft:" Würde aber eine geschwächte Weibsperson diese Entdeckung ihrer Schwangerschaft, oder, wenn sie diese auch offenbart Schwangerschaft, oder, wenn sie diese auch offenbart hätte, dennoch die Herannahung ihrer Geburt zu melden unterlassen, und ohne Beistand niederkommen, so soll sie dieserhalb allein, wenn schon das Kind am Leben bleibt, auf drey Jahr zum Zuchthaus, dafern das Kind aber kurz nach der Geburt ver­storben oder todt auf die Welt gekommen, auf ewig und unabbittlich zum Zuchthaus verdammt sein, und keine Ausflucht der etwa zu frühen Niederkunft oder der übereilten Geburt ihr helfen, weil sie ihre Schwangerschaft und herannahende Entbindung ent­decken sollen, und wenn sie bei der Geburt Hülfe gehabt hätte, das Kind wahrscheinlich gerettet seyn gehabt hätte, das Kind. wahrscheinlich gerettet seyn würde."

Der Staat gebot den Müttern streng, nach den etwaigen Schwangerschaften ihrer Kinder zu forschen, den Herrschaften" nach denen ihrer Dienstboten. Brachten die Herrschaften" die der Schwangerschaft Brachten die Herrschaften" die der Schwangerschaft verdächtigen Mädchen zu keinem Geständnisse, so mußten sie die Hülfe der Seelsorger anrufen. Waren die erbaulichen Reden der Herren von der Geistlich keit selbst erfolglos, so machte sich die hohe Obrigkeit an die Arbeit, um die unglücklichen Mädchen zur Entdeckung ihres Zustandes zu nöthigen. Die vers stockten Mädchen blieben vielleicht abermals stumm. Dann schritt auf Geheiß des Staates die Weh mutter ein und untersuchte die Sünderin. War sie wirklich gesegneten Leibes, so wurde ihr nun eine dreimonatliche Zuchtarbeit" aufgehalst. Die Beamten und Magistrate," so heißt es in der Waldeck'schen Verordnung von 1780, mögen erst in diesem Gange zur Herbeiholung einer Geschwängerten schreiten, und sollen fiinftig nicht mehr, wie wohl geschehen ist, mit sofortiger Herbeiführung durch Schüßen verfahren."

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Lagen die armen unehelich geschwängerten Mäd­chen in den Wehen , dann mußte ihnen noch die Hebeamme auf Geheiß der hohen Staatspolizei das Leben mit allen möglichen Fragen schwer machen. " Die außer der Ehe gebährenden Personen soll die Hebeamme, unter den Geburtsschmerzen( doch ohne sie durch Vorenthaltung zum Geständniß zu zwingen) auf ihr Gewissen, mit nöthiger Schärfung desselben befragen: Von wem und an welchem Orte sie ge­schwächet worden, auch wo der Thäter sich aufhalte."* Diese Mittheilungen wurden dann den Behörden und dem Prediger des Ortes mitgetheilt. Ja selbst vor den schmählichsten Drohungen sollten die Hebeammen nicht zurückschrecken, um die intimsten Geheimnisse nicht zurückschrecken, um die intimsten Geheimnisse den Mädchen abzupressen. Kommt es," so bestimmt eine Hebeammenordnung vom Jahre 1750," bey bey solchen Unehelichen nun zum gebähren, und die Be­fenntniß ist noch nicht heraus, wer des Kindes Vater sey, so sollen sie mit Ernst in sie setzen und fragen, wer zum Kind Vater sey, mit andeuten, daß sie, bevor sie dieses wissen, garnicht Hand an= legen dörfen. Wollten aber solche Unehelich­gebärenden so boshaft, frech und hartnäckig seyn, und weder auf freundliches, noch auf ernstliches Befragen, den Vater zu ihrem Kinde nicht angeben, und niemand vorhanden seyn, der gut für sie stiinde, so müssen Hebeammen gleichwohl, um des hierunter unschuldigen Kindleins willen, das ihrige verrichten, von der Sach aber bey dem geheimen Strafamt alsbald pflichtmäßige Anzeige thun."

Kaum war das Kind auf der Welt, so sorgte

* Hebeammenordnung für Holstein, Altona , von 1765.

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und quälte sich schon der Staat um das Seelenheil des Säuglings ab. Wie konnte er es ruhigen Herzens mit ansehen, daß die Eltern durch Unter­lassung der Taufe ihre Kinder der ewigen Ver­dammniß, der Hölle und dem Teufel überlieferten! In einigen Landestheilen hatte der Christ, der hart­näckig widerstrebend sein Kind von dem erlösenden Tauffegen des Priesters fernhielt, die Landesver­weisung und den Staupbesen zu gewärtigen. Inner­halb vierundzwanzig Stunden sollte im Herzogthum Gotha die Taufe an dem neugeborenen Kinde voll­zogen sein, bei einer Geldstrafe von fiinf bis zehn Thalern. An schwachen, lebensunfähigen Kindern mußten die Wehmütter noch vor der völligen Geburt die Taufe vollziehen.

Die Geburt entschied schon meist im absoluten Staate das Schicksal des Kindes. Wurde es in eine leibeigene Familie hineingeboren, so war es meist zur ewigen Frohnarbeit auf der Scholle ver­urtheilt. Der Sohn des Handwerkers hatte eine größere Ellbogenfreiheit als der des leibeigenen Landmannes, aber auch seine Lebenswege waren schon vielfach durch die Geburt fest umgrenzt. Jeder Stand nahm in der sozialen Stufenleiter des ab­soluten Staates eine bestimmte Sprosse ein. An diese mußte er fest und unlösbar angeschmiedet werden. Der hohe und niedrige Adlige, der Voll-, Halb- und Viertelbauer, der Kaufmann, der Krämer und Handwerker, sie alle hatten im absoluten Staate ein besonderes Ansehen und eine besondere Ehre. Der Schäfer und Hirt durfte oft nicht in die Rang­stufe des ehrsamen Handwerkers aufrücken. Die Kinder der Schäfer und Hirten galten lange Zeit für unehrlich", und vor ihnen schlossen sich des­halb die Thüren der Zunftstuben.

Das Kind erlernte nun einen guten bürgerlichen Beruf, und wieder stieß es mit dem Alles regelnden und richtenden Staate zusammen. Staatliche Statuten und Reglements geboten in der Werkstatt wie im Verkaufsgeschäft. Die Innungen hatte der absolute Staat oft ganz unter seine Fittige genommen, er bestimmte genau ihre Gewerbeverfassung und ihre Arbeitsverhältnisse. Er schlug mit starker Hand die Arbeitervereinigungen nieder und raubte ihnen ihre wirthschaftlichen Machtmittel, den Streif und den Boykott. Ein Dorn im Auge war ihm der blaue Montag der Gesellen, und er erklärte dent, groben Unfug" des Feierns rücksichtslos den Krieg. Nach einer preußischen Verordnung vom Jahre 1783 hatte jeder Meister dem Polizeidirektorium den pflicht­vergessenen Gesellen anzuzeigen, der am Montag ohne Entschuldigung von der Werkstätte ferngeblieben war. Das Blaumachen" war sicher eine Tod­siinde gegen die dreimal heilige wirthschaftliche Aus­beutung. In keiner Herberge sollten die Gesellen am Montage geduldet werden. Der Polizeidiener mußte deshalb an diesem Tage die Herbergen durch­streifen, um die etwaigen feiernden Gesellen zu er mitteln.

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Auf das Feiern des blauen Montags standen harte Strafen. Der feiernde Geselle erhielt acht Tage Gefängniß. Eine dreimalige Verlegung der streng gehandhabten Montags ,, ordnung" zog schon eine Zuchthausstrafe von einer Woche nach sich. Die widerspänstigen Handwerker wurden sogar fiir un­für tüchtig" zur Ausübung ihres Berufes erklärt und erst nach eingeholter obrigkeitlicher Erlaubniß" wieder zum Handwerk zugelassen. Der absolute Staat verbot den Gesellen die Korrespondenz und wetterte gegen Streiks und Boykotts mit Gefängniß­und Zuchthausstrafen. Die badische Zunftordnung von 1760 bedrohte die Gesellen, die keine Arbeit thun und haufenweise austreten", mit Zuchthaus und Schellenwerk".

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Man sieht, das energische, sich frei auslebende Individuum streifte in dem alten Polizeistaat gar bald das Gefängniß und Zuchthaus. Ueberall rannte es ferner in den bürgerlichen Berufsarten gegen enggezogene ftachliche Schranken an. Was für klein­liche Bestimmungen hatte z. B. der Fuhrwerks­befizer bei der Ausübung seines Berufes zu erfüllen! Heute, wo man auf Schritt und Tritt auf Eisen­bahnschienen stößt, will Einem die frühere Regelung des Fuhrwesens schier unverständlich und unbegreiflich