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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
leise vor sich hin:" Arme Mutter, was soll ich für Dich thun?")
" Für mich nichts, nichts, mein Junge.... Die Freude, die ich an meinem Kind haben sollte, die habe ich wohl schon gehabt. Aber für Dich selbst, für die Rettung Deiner Seele, Agestin! Hast Du daran gedacht, ob Du dafür nichts thun mußt?"
" Oja, sehr oft, Mutter." Er starrte einige Sekunden vor sich hin.„ Wenn ich wüßte, daß ich durch das, was Du meinst, Dir Deine Gesundheit wiedergeben könnte... dann..
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"
Für mich aber nicht die Jugend
Nein, nein," unterbrach sie ihn. sollst Du nichts thun. Jetzt sollst Du länger hier in dieser schwülen Luft sizen, bedarf der Luft und des Sonnenscheins. Laß mich darum allein. Hast Du schon etwas zu essen be= kommen?"
Nein."
" Kari wird für Dich sorgen. Du sollst Dein altes Zimmer drüben im Hauptgebäude haben. Kari sorgt auch für mich."
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Wo ist Ragnhild, Mutter?"
Sei an der Chauffee- Brücke unter dem Björne- Nut heute Abend um sieben.
Eine, die vielleicht auch da sein wird." Agestin wurde so froh, daß er anfing, mit dem fleinen zerlumpten Jungen zu spielen. Er nahm ihm die Müze weg und lief davon, verfolgt von dem kleinen barfüßigen Knirps, dem die Sache einen riesigen Spaß machte. Dann warf er sich in das fühle Gras, seinem Beispiel folgte sofort sein Spielkamerad, und so wälzten die Beiden sich spielend umeinander wie zwei junge Hunde.
Alles Traurige wich weit zurück vor der beglückenden Vorstellung, daß Ragnhild nicht weit entglückenden Vorstellung, daß Ragnhild nicht weit entfernt war, und dem Bewußtsein, daß sie ihre Hand nicht von ihm gezogen hatte. Sein Herz verlangte so stürmisch nach ihr, daß er kaum die Zeit abwarten fonnte. Um zwölf Uhr wurde ihm das Mittagessen in sein Zimmer gebracht. Nachher ging er zu seiner Mutter hinüber und blieb bei ihr bis vier Uhr ſizen. Dann brach er auf und begab sich auf seine Wanderung. Mit einer Mischung von Wehmuth und neugierigem Interesse, wanderte er jetzt denselben Weg
Beret schüttelte den Kopf." Weiß nicht, weiß auf einer Chaussee erster Klasse, den er als Knabe nicht."
„ Ist sie auf der Alp?"
„ Ich weiß nicht, hörst Du... Ja, da hast Du Dir ein braves Mädchen und eine gute Partie aus den Händen gehen lassen."
Agestin drückte zärtlich die Hand der Mutter und verließ die Hütte. Als er auf den Hof hinaustrat, stand Kari mit aufgeschürzten Röcken und nackten Füßen da und scheuerte einen Kupferkessel.
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, Guten Tag, Kari, wie geht's? Du bist gut im Stande, wie immer," rief er ihr freundlich zu, aber das sonst so vergnügte Mädchen, welches immer eine lustige Antwort bereit hatte, sah ihn schen von der Seite an und erwiderte mürrisch:„ Wenn Du etwas zu essen haben willst, werde ich es Dir in Deine Stube besorgen."
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Sehr wohl, Kari, das thue nur recht bald, denn ich bin hungerig. Kannst Du mir vielleicht sagen, wo Ragnhild Solhaug iſt?"
Die Gefragte wurde blutroth im Gesicht, nahm ihren Kupferkessel unter den Arm und flüchtete in's Haus, ohne seine Frage zu beantworten. Er sah ihr nach und zuckte lächelnd die Schultern. Sein Blick wanderte vom Hauptgebäude zum Stall, vom Stall zur Scheune und von der Scheune wieder zum Hauptgebäude. Diese alten Bekannten schienen ihm plötzlich so fremd, so steif, so unfreundlich. Besonders ging es ihm so mit dem großen floßigen Hauptgebäude; das war ein Bau aus den fünfziger Jahren, plump, viereckig und schmucklos. Kein Sims
nicht einmal eine Hohlkehle oder ein Rundstab machten einen Versuch, der Sache etwas von ihrer Langeweile zu nehmen. Mit grauen Schiefern gedeckt, ohne Hauptgesims oder Vorsprung, lag der grau bemalte Kasten vor ihm und glozte ihn mit seinen unregelmäßig vertheilten Fenstern an, die ohne irgendwelche Einrahmung oder Versenkung ihn wie dumme Kuhaugen theilnahmlos anstarrten.
Er drehte sich um, und sein Blick fiel auf eine fleine barfüßige Gestalt im Schatten der Scheune. Es war ein Knabe. Er saß rittlings auf dem Stafet und winkte ihn eifrig zu sich.
,, Was willst Du, Kleiner?" fragte Agestin und näherte sich ihm.
,, Bist Du Agestinus Klöften?" " Jawohl, zu dienen, mein Herr." " Dann bist Du es auch, der diesen Brief haben soll."
Der Knabe widelte aus einem großen rothen Taschentuch einen mit Adresse versehenen Brief, den er ihm einhändigte.
,, Ich danke Dir, Kleiner," sagte der junge Mann mit stark klopfendem Herzen und gab dem Knaben ein Trinkgeld. Die Schrift war Ragnhild's! Hinter der Scheune, wo er für die Bewohner des Hofes unsichtbar war, öffnete er mit einiger Mühe das mit einem rothen Band umwundene, versiegelte und an allen Ecken und Kanten mit Oblaten verklebte Couvert. Endlich hatte er den Briefbogen, der in sich auch verklebt war, auseinander gebreitet vor sich und konnte lesen:
über steile glatte Felsen kletternd und durch Bäche watend, oft zurückgelegt hatte. Etwas vor sechs Uhr hatte er die Brücke erreicht. Er legte sich in's Gras am diesseitigen Ufer, ungefähr auf demselben Gras am diesseitigen Ufer, ungefähr auf demselben Plaz, an dem er als Knabe eingeschlafen war. Drüben ragte der Nut in die Wolfen, genau wie damals. Agestin hatte eine schwache Vorstellung davon, daß er einmal früher im Leben hier an demselben Fleck gelegen hatte, aber er konnte sich kein flares Bild davon machen. Sein Blick schwebte über die spiegelglatte Fläche des Wassers. Da stand der Nut auf dem Kopf, ein grüner Hang zog sich durch das Spiegelbild, und da ging eine Kuh auch auf dem Kopf und graste; so klar war das Bild, daß er darin die Fliegen sehen konnte, die wie eine unstete Wolke schwirrend in der Luft das Thier umgaben. Wie kam doch die Kuh dahin? Es gab keine anderen Alpen in der Nähe, als die SolhaugAlpe, und die war eine gute Viertelmeile entfernt. Die Kuh mußte sich verlaufen haben. Nun, das ging ihn ja weiter nichts an, er streckte sich in seiner vollen Länge in's Gras und blickte blinzelnd zu dem majestätischen Nut empor. Wie oft hatte er nicht diesen gewaltigen Koloß angestaunt, schon zu der Zeit, als die kleine Ziege Mette hieß sie doch seine beste Freundin war. Ein Lächeln flog über seine Züge... Mette!... Er hob den Kopf und lauschte. Ihm war, als höre er drüben jodeln. Sein Herz pochte stärker. Ragnhild! Ragnhild! jubelte es in ihm. Ragnhild! klagte es sehnsuchtsvoll in ihm. Er breitete die Arme aus, als wollte er den Nut drüben an sich drücken. Jezt hörte er wieder etwas und sprang in die Höhe. War sie schon da? Ein heißes Verlangen nach ihr packte ihn und mit weit geöffneten. Augen und glühenden Wangen stand er da und blickte unverwandt dorthin, wo der Weg zur Alp sich durch Geröll und Zwergbirken empor schlängelte. Da Dadurchrieſelte es ihn heiß. Eine schlanke Mädchengestalt war drüben auf dem steilen Pfad sichtbar geworden. Sie winkte ihn zu sich. Er stürmte in vollem Lauf über die Brücke und in das Geröll hinauf.
„ Ragnhild, Ragnhild! Endlich habe ich Dich wieder." Er betrachtete entzückt das liebliche Mädchen, dessen Hand er heftig drückte.
Du thust mir weh, Agestin," flüsterte sie und vermied, ihm in die Augen zu sehen, denn sie fühlte seinen feurigen Blick auf sich ruhen, und das machte sie mit einem Male so verlegen, so sehr verlegen. Mir ist eine Kuh weggelaufen. Kari hat sie
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hier bei der Brücke gesehen."
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Da geht sie."
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Ach ja! Nosa , Rosa!" Ehe. er sich versah, war Ragnhild ihm weggelaufen, aber er verstand wohl, warum sie solche Gile gehabt hatte, von ihm fortzukommen. Er lief ihr nach, machte einen Bogen um das niedrige Plateau, auf dem die Kuh sich befand und jagte ihr das Thier zu.
Sie gingen hinter einander den schmalen nicht ungefährlichen Pfad empor, die Kuh vor sich her
treibend.
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Es darf auch Niemand wissen, daß wir... daß ich... hörst Du... wir dürfen uns auch nicht in der Nähe der Alpe zusammen sehen lassen, denn die alte Astrid paßt auf. Sie wird dafiir bezahlt, und das ärgert mich."
Dicht hinter ihr gehend hatte er ihren langen blonden Zopf ergriffen und ließ ihn liebkosend durch die Hand gleiten. Wie bist Du hübsch geworden, Ragnhild."
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„ Ach, sage doch so etwas nicht!" rief sie beinahe aufgebracht. Ich bin ja nur ein einfaches Bauernmädchen und kann den Vergleich mit den feinen Damen in der Stadt nicht aushalten."
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Oho!" lachte er, Du bist hundertmal hübscher, als die gefeiertste Schönheit dadrinnen."
Schmollend erwiderte sie, indem sie tief erröthete: Du sollst nicht so reden! Wie oft muß ich es wiederholen?!"
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" So oft, bis es Dir langweilig wird, mein Mädchen, denn ich muß es immer und immer wieder sagen: Du bist das reizendste..." Er konnte den Saz nicht zu Ende sprechen, denn sie drehte sich rasch um und legte ihre Hand auf seinen Mund. Mit raschem Griff umschlang er sie mit dem rechten Arm, aber ganz instinktiv ließ er sie wieder los. Ihm war, als müsse er seine Finger an ihr versengen. Der Weg wurde immer steiler und gefähr= licher. Die rothe Kuh, deren Instinkt ihr sagte, daß es heimwärts ging, kletterte vorsichtig voran. Hin und wieder löste sich unter ihren Schritten ein Stein und rollte mit immer wachsender Geschwindigkeit, hüpfend und gegen die Baumstämme anprallend, in die Tiefe hinab.
,, Ragnhild, wie habe ich mich nach diesem Augenblick gesehnt," flüsterte er innig.
da " Hast Du lange auf mich gewartet.. unten?"
,, Sag' Du lieber, ob Du gewartet hast... seit ich Dir den dummen Brief schrieb? Wurde Dir mitunter die Zeit etwas lang, sag' es mir!" O ja, ich hatte es nicht leicht... ich stand
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ja so allein, denn nachdem Du schriebst, daß Du nicht Theologie studiren wolltest, stand Beret nicht mehr auf unserer Seite."
Es ging ihm wie ein warmer Strom zum Herzen. Aber Du, Ragnhild, Du standest auf meiner Seite! Du gabst mir also Recht?"
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Sie schüttelte lächelnd den Kopf, dann sagte sie mit drolligem Ausdruck:" Weißt Du auch, daß der Weg, den wir jetzt gehen, gefährlich ist?" ist?" Er sah sie fragend an. Hatte sie es buchstäblich oder figürlich gemeint?
" Ja... a, geh' Du nur vorsichtig," fuhr sie dann fort, im vorigen Frühling rutschte der Weg mit John Fisker ab. Sie fanden ihn einige Tage später todt unten im Geröll."
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Agestin drückte sie übermüthig an sich und rief: An Deiner Seite kenne ich keine Gefahr." Dann bemerkte er, daß sie ernst wurde und daß ihre Lippen bebten.
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Wie ist es mit Dir, Ragnhild, hast Du keine Bedenken, mir auf diesem gefährlichen Wege zu folgen?"
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Sie schüttelte den Kopf und erwiderte leise: Mir ist nicht bange... mag kommen, was will." Ihre Augen begegneten sich, aber bei dem Blick, den sie ihm schenkte, durchrieselte es ihn warm. Sie liebt Dich, sie liebt Dich! jubelte es mit tausend Stimmen um ihn her, und es durchzitterte ihn mit nie geahnter Heftigkeit das wonnige Gefühl, geliebt zu sein. Der Weg wurde hier etwas breiter, sie hatten die gefährlichen Stellen hinter sich. Im seligen Rausche ging er neben ihr her und wagte um Alles in der Welt nicht, sie anzurühren, denn er hatte eine Empfindung, als müßten sie dann Beide vor Seligkeit vergehen. Aber sein Blick hing wie gebannt an ihren Zügen, an ihrem Haar, an ihrem herrlichen Wuchs. herrlichen Wuchs. Ja, herrlich war seine Geliebte, tief seufzend schaute er sie an, bis ihm die Thränen den Blick umflorten, er stolperte wiederholt über Wurzel und Steine, weil er den Blick nicht voit ihr wenden konnte. Ragnhild ging mit kurzen, vor=