16

Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

und Tobias verschwor sich hoch und thener, jeßt ein Wunderwerk herzustellen, wie die Welt noch keines gesehen habe.

Wenn vor Jahren Tobias einer Dies prophezeit hätte, würde er in schallendes Gelächter ausgebrochen sein. Und doch war er äußerlich nach langem, er­miidendem Kre'slauf wieder an dem Punkte ange­la: gt, von welchem er ausgegangen. Daß er sich innerlich emporgerungen hatte und den nüchternen Bürgern des Städtchens geistig weit überlegen war, darumi kümmerte sich natürlich Niemand.

-

Am anderen Morgen wurde Tobias von präch­tigem Sonnenschein geweckt. Er hatte zu Ehren des Sonntags lange geschlafen und freute sich nun föniglich, daß die Sonne siegreich durch die schweren Nebel gedrungen war. Nachdem er sich gemüthlich und langsam den stachlichen Wochenbart abgenommen er trug das ganze Gesicht glatt rafirt, dem Rothkehlchen und dem Mohrchen Futter gegeben und sein höchst einfaches Mittagessen, das er Sonntags bei schönem Wetter schon um elf einnahm, beendet hatte, warf er sich in den Feiertagspuz und schlüpfte zur Hinterthür seines Hauses in's Freie. Er fonnte nicht ausstehen, wenn man wußte, wohin er seinen sonntäglichen Gang machte, und nichts war dem alten

Naturfreund unangenehmer, als wenn ihn Bekannte mit dummem Grinsen fragten, warum er denn im Freien herumlaufe, anstatt im qualmigen Wirthshaus seinen Schoppen zu trinken. Die frohe Laune des Meisters wurde heute sehr vermehrt, als er in dem schnialen Hohlweg feiner Seele begegnete und von Niemand gesehen den nahen Wald erreicht hatte. Er schlug einen langsam bergauf führenden schmalen Fußpfad ein und trabte vergnüglich dahin, die frische, kühle Waldluft in tiefen Zügen athmend. Dürres Laub und trockene Zweige fniſterten unter seinen Tritten, und wenn er unversehens an einen Busch streifte, fielen bunte Blätter nieder. Das Moos war von dem Reif feucht, überall sickerte Wasser über die Steine, die gelben Farren rauschten im Winde, ein feuchter, modernder Duft stieg empor. Es war einer der wunderbaren Spät- Oktobertage, in welchen den Herbst die absterbende Natur noch einmal zum Leben kiißt.

Nach längerem Aufwärtsschreiten hatte Tobias die Höhe des Gebirgszuges erreicht und ging seinem Lieblingspläßchen unter einer dicken Tanne zu, von welcher aus man den schönsten Rundblick genoß. In welcher aus man den schönsten Rundblick genoß. In bläulich- weißem Duft lag das Städchen im fernen Thal, der kleine Bach glizerte in der Sonne, hier

und da stieg von den herbstlichen, kahlen Feldern eine leichte Rauchwolfe auf; dort brieten die Buben, welche Gaisen hiiteten, übrig gebliebene Kartoffeln. Der Wind trug das schwache Echo eines Schusses herüber; ein Eichelhäher flatterte kreischend durch das Unterholz. Dann wurde es still, ganz still. Die tiefste Waldesruhe herrschte dort oben.

Der Meister nahm seinen Hut ab, beschattete die Augen mit der Hand und blickte äußerst ver­gnügt das altgewohnte Bild an; da knisterten zer­tretene Zweige hinter seinem Rücken, und eine rauhe Stimme rief in heiseren Tönen seinen Namen. Be troffen fuhr er herum, und sein Schrecken wuchs, als ein hohlwangiger Mensch in bettelhafter Kleidung an einem Stock auf ihn zuhumpelte.

" 1

Kennt Ihr mich nicht mehr, Meister?" mur­melte der Mann zwischen den Zähnen.

Er faßte den Burschen scharf in's Auge; eine böse Ahnung trieb ihm eine Blutwelle heiß in's Gesicht. ,, Herr Gott, Du Mensch nicht möglich- Karl?"

-

Der Angeredete nickte triibselig. Ja, ja; er ist's. Gelt, das hättet Ihr Euch nicht einfallen lassen, daß ich Euch mal so lumpig vor die Augen käme!"

( Schluß folgt.)

Feuilleton.

Es war einmal..." Kommt schnell, Hans und Marie, die Großmutter will uns wieder was erzählen!" Das ließen sich die Beiden von der kleinen Liese nicht zweimal sagen. Der kleine Hans stolpert ciligst an seinen gewohnten Play, den besten, an den Knieen der Groß­mutter, die Liese stellt sich neben ihn, und die große Marie nimmt schnell ihr Strickzeug und holt einen Stuhl herbei. Das ist immer so, wenn die Großmutter sich nach dem Mittag zum Lesen hingesezt hat; wenn dann ihre schwachen Augen müde geworden sind, schiebt sie das Buch beiseite, legt die Brille ab und setzt sich zurecht. Sie braucht nicht lange zu warten oder zu rufen, bis die Kinder kommen; die haben sie schon längst beobachtet, ob es noch nicht bald so weit ist. Und nun beginnt sie... Es sind die alten Geschichten, die in ihr lebendig werden, genau so, wie sie selbst vor langen Jahren sie von ihrer Großmutter gehört. Je weiter sie kommt, um so lebhafter drängen sich ihr die Bilder auf, um so mehr verblaßt ihre Umgebung, und sie ist ganz im Lande der Märchen. Jezt hält sie gerade da, wo die Geschichte gruselig wird. Mit athemloser Spannung hängen die Augen aller drei an ihren Lippen, immer enger schmiegen sich die Kleinen an ihren Schooß, und die Marie hat längst vergessen, daß sie fleißig sein wollte.... Das Bild, dessen Stim­mung uns so anmuthet, ist heute faft nicht mehr wahr. Unsere Zeit hat die Menschen entwurzelt, und was ehe­dem in lebendiger Ueberlieferung von Geschlecht zu Ge­schlecht gegeben wurde, das mußte heute in Büchern ge= ammelt werden, damit es nicht völlig verloren gehe. Aus Büchern müssen unsere Kleinen die alten Märchen lesen, die ihnen früher so viel eindringlicher von der Groß­mutter erzählt wurden. Und doch bewähren sie auch so noch ihren Reiz; wer hätte sie nicht gelesen und erinnerte sich nicht immer wieder gern an sie!

-

Die konstruktiven Grundlagen des Kunstgewerbes behandelt Julius Lessing   in einer kleinen Schrift, die er vor Kurzem unter dem Titel: Das Moderne in der Kunst"( bei Simion, Berlin  ) veröffentlicht hat. Die neue Richtung, führt er da aus, pflegt als Stichwort hinzu­ftellen, daß sie konstruktiv sei im Gegensatz zur Kunst früherer Zeiten. Dies ist verkehrt. In jeder Kunst sind die Grundformen und auf diese kommt es doch an immer konstruktiv gewesen. Man hat eben nur anders fonstruirt, nach anderem Verfahren und mit anderem Material. Was man fünstlerisches Konstruiren nennt, faßt man zusammen in das Wort Architektur, und es ist nichts zufälliges, daß man die Stile der verschiedenen Zeiten nicht nach der Malerei, nicht nach der Plastik, sondern vielmehr nach der Architektur und deren Aufgaben unterscheidet. Die Architektur schafft das Haus und den Tempel aus klimatischen, statischen und technischen Grund­bedingungen heraus: ob man geschlossene Wandflächen braucht oder eine offene Säulenhalle, ob man unter hellem, südlichem Himmel durch die Thüröffnung das nöthige Licht empfängt, oder unter nordischem Himmel lange Fenſterreihen einfügen muß; ob man das Dach als flachen, immergrünen Garten oder als Sturmhaube aufsetzt, ob der wagerechte Balfen auf der Säule laftet, oder ob sich Halbbogen und Kuppelu schwingen; ob schließlich der Spizbogen die völlige Freiheit in das Syftem der Stüßen bringt, das Alles sind die Grund­fragen. Hiernach richtet sich Höhe und Weite der Wand, hiernach wiederum Ausdehnung und Bewegung der

schmückenden Skulpturen und Malereien, hiernach das Genügen am Altüberlieferten oder aber ein Bedürfniß nach neuen Formen. Eine der wichtigsten Grundlagen bleibt aber immer wieder das Material. Ein voll kommener Holzbau ist von dem gleichzeitigen, voll­kommenen Steinbau durchaus verschieden, das Haus in Backstein verschieden von dem in Marmor, und selbst innerhalb der Marmortempel eines Landes genügt die verschiedene Tragfähigkeit der verfügbaren Steine, um die Formen so zu verschieben, daß wir stilistische Unter­schiede empfinden. Innerhalb aller erwähnten Kunst­perioden steht an leitender Stelle die Leistungsfähigkeit des Materials für Herstellung der Raumweite.

Die Gewölbetonstruktionen konnten für einzelne monumentale Zwecke zu großen Abmessungen führen, ver­schränktes Holzwerk konnte die Möglichkeit weiter Hallen sichern, aber eine nahezu volle Freiheit in der Aus= dehnung und Linienführung wurde doch erst gewonnen, als in unserem Jahrhundert das Eisen als lebendiger Faftor in die Architektur eintrat, und mit dem Eisen zugleich die Maschine, welche eine bisher ungeahnte technische Bearbeitung allen Materials ermöglichte. Diese technische, industrielle Arbeit beginnt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in England, und es ist daher kein Zufall, daß in jener Zeit auch in der Kunst und in der allgemeinen Lebensführung England gegen das herrschende Frankreich   als ernster Mitbewerber auftritt, und daß es schließlich jetzt daran ist, die Leitung auf einem weiten Theile des Kunstgebietes und der Mode zu übernehmen.

Der Eintritt des Eisens und der Maschine machte es nothwendig, alle Nugförmen innerhalb des Baues und der Geräthbildnerei neu zu berechnen.

Vor Allem haben sich die statischen Grundbedingungen unserer Architektur durch die Ausbildung der Eisen­konstruktion verschoben. Die eigentliche Entwickelung vollzieht sich in dem Kampfe zwischen der Säule der alten und dem Eisenpfosten der neuen Zeit. Der eiserne Pfosten ermöglicht eine Weiträumigkeit, wie keine Archi­tektur sie bisher erzielt hat. Man glaubte den Pfosten zunächst lediglich berufen, Schuppen, Gewächshäuser, Speicher und Aehnliches zu bilden. Zog man ihn in den Dienst eines irgendwie vornehmen Raumes, sei es auch nur eine Vorhalle, so umkleidete man ihn mit einem Mantel, um ihm die Form der Säule zu geben. Man behauptete, für das Auge sei der Pfosten zu dünn, eine ästhetische Kränkung. Man vergaß aber hierbei, daß die ästhetischen Vorstellungen, gegen welche er verstieß, doch auch nur Ergebnisse statischer Beobachtungen sind. Aus unserer erfahrungsmäßigen Kenntniß dessen, was eine fteinerne Säule, ein hölzerner Pfeiler tragen kann, schöpfen wir die Vorstellungen dessen, was tragfähig sei; und so hat sich denn aus der Erfahrung heraus ganz allmälig, unmerklich und darum mit vollster Sieges­sicherheit ein Umschwung vollzogen. Niemand denkt jetzt mehr daran, in einer Halle die eisernen Stüßen wie Säulen erscheinen zu lassen, wir sind zu völlig neuen Abmessungen, zu völlig neuen Raumbildungen gelangt. Aus dem Gewächshause ist der Krystallpalast, aus dem Schuppen die monumentale Bahnhofshalle geworden. Das moderne Geschäftshaus ist entstanden. Die eiserne Brücke schwingt sich, gleichsam förperlos, über den Ab­grund mit einem poetischen Zauber, dem sich auch das berſtockteste Gemüth eines griechischen oder gothischen

Berantwortlicher Nedakteur: Oscar Kühl in Charlottenburg  .

-

Romantikers nicht wird entziehen können. Ja selbst an die größten Monumentalaufgaben, wie den Thurmbau, hat sich die neue Konstruktionsweise gewagt; der Eiffel­thurm steht mitten in Paris   als merkwürdigstes Wahr zeichen aus dem Ende unseres Jahrhunderts. Alle diese Gebilde haben mit dem überlieferten Vorrath alter Kunst­und Schmuckformen nichts gemein, sondern entlehnen dieselben nur ganz gelegentlich als äußerlichen Auspus nebensächlicher Theile.

Völlig übereinstimmend mit dieser Umgestaltung architektonischer Grundformen geht bereits die Umbildung einer Anzahl von Geräthen. Hierhin gehört vor Allent das Schiff, bei dem wir den Gedanken, es durch Schnitzerei, Vergoldung oder Malerei, wie in früheren Jahrhunderten, schmücken zu sollen, vollständig aufgegeben haben. Wir schen seine Schönheit lediglich in der vollendeten Linie, welche dem Auge ohne voraufgehende Berechnung den höchsten Grad von Sicherheit und Schnelligkeit gewähr leistet. Genau ebenso werden bei den modernen Wagen die Ansprüche höchster Eleganz lediglich durch die Kon struktion befriedigt, so daß man irgend welchen Zusab von Ornament als unpassend betrachten würde. Eben dahin gehört die Ausbildung des eisernen Stuhles in einfachen, wohlgefälligen, durch feine Ornamente ge brochenen Formen, und selbst bei einem lediglich aus der Berechnung hervorgegangenen Geräthe, wie dem Fahrs rad, kommt man bereits dahin, eine überzeugend schlanke und geschmeidige Form nicht nur als tüchtig, sondern auch als schön zu empfinden. Gleiche Empfindungen haben wir gegenüber den Theilen der Maschine. Es ist sicherlich nichts zufälliges, daß ein derartiges Abweisen alter Traditionen vornehmlich Stücke trifft, welche durc ihre Erfindung oder durch die völlige Umwandlung ihre technischen Grundbedingungen ganz und gar unserer Zeit angehören. Solche Umbild: ingen vollziehen sich naturgemäß am leichtesten auf einem Boden, welcher weniger von der Ueberlieferung durchsetzt ist, als unser bildungssattes Europa  . Daher war es Amerika   vor behalten, auf diesem Gebiete schneller voran zu gehen. Die amerikanischen Stühle, die amerikanischen Schreibtische, die amerikanischen Beleuchtungsförper sind vollkommene Beispiele derartiger, aus dem Gebrauch entwickelter, ges sunder Formen, und in Amerika   ist man ohne Schwierig feit dahin gelangt, das Zimmer des bürgerlichen Wohn hauses ohne irgend welche Anklänge an ältere Baus formen behaglich und wohlgefällig herzurichten.

Daß die hier genannten Bildungen einen lebens fähigen Stern enthalten, ja, daß sie mit Naturnothwendig feit eintreten und sich Schritt für Schritt weiter ents wickeln müssen, wird eines Beweises nicht mehr be dürfen.

-

Das sicherste Mittel, Anderen die Grenzen seines Wissens zu verbergen, ist, sie nicht zu überschreiten.

Nur das Glück macht das Glück in der Welt, nicht das Verdienst.

Leopardi  .

Nachdruck des Juhalts verboten!

"

Alle für die Redaktion der Neuen Welt bestimmten Sendungen sind nach Berlin  , SW 19, Beuthstraße 2, zu richten.

Berlag: Hamburger Buchdruckeret und Verlagsanstalt Auer& Co. in Hamburg  .

-

Druck: Mar Babing in Berlin  .