Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

sprach gute, tröstliche Worte zu ihm. Da fiel ihm eine Last vom Herzen, und weinend füßte er die Hand des alten Mannes.

Am nächsten Tag standen die Fenster offen und das heiße Sonnenlicht fluthete in den fahlen Raum. Es war so still und Konrad sah von seinem Bette aus den Fliegen zu, die am Fenster aus und ein schwirrten. Sinnend lag er da, und die große Stille that ihm wohl. Wieder empfand er das Glück und ließ es langsam um seine Seele gleiten. Er dachte daran, daß er beinahe in dieser Krankheit gestorben wäre, und dachte darüber nach: über das was mit ihm geschehen war, und über den Tod. Da glitt plößlich ein Schatten zu seinem Bette her­über, und er blickte auf: der Andere stand vor ihm. Er sah leichenblaß aus und sein Kopf war in ein weißes Tuch gehillt. Und seltsam ernſte, traurige Augen schauten ihn an, bittend und verzagt. Immer wollte er sprechen, aber er bewegte blos tonlos die Lippen, und Konrad verstand ihn doch. Er verstand diese stumme Bitte, und in seiner Seele jubelte es. Er streckte ihm die Hand entgegen und ergriff seine Hand und schüttelte sie.

Und Jener setzte sich zu ihm.

Sie sprachen lange fein Wort. Dann aber sprachen sie von ihrer Krankheit und davon, daß sie nun bald wieder hinaus in's Freie dürften, und daß es Sommer sei, und die Kirschen im Garten reifen.

Am nächsten Tag kam der Andere wieder und tam auch am dritten Tag. Und als sie nach einer Woche das Krankenzimmer verließen, da waren sie Freunde geworden: Konrad und Frank.

Draußen im Waisengarten aber reiften die Kirschen, und an den Büschen blühte der weiße Jasmin, dort suchten sie nun die Einsamkeit zu zweien auf, und für Beide begann ein neues Leben.

Frank hatte sich ganz verändert: die schwere Krankheit hatte ihn ernst gemacht und das Zu­sammensein mit Konrad machte ihn nachdenklich. Um die Anderen aber fiimmerten sie sich nicht mehr, und es gab teinen Hohn mehr über den Sohn des Buchthäuslers. Wie ein treuer demüthiger Hund folgte Frank dem blaffen, schmächtigen Knaben nach auf dessen einsamen stillen Gedankenwegen. Konrad aber empfand zum ersten Male das tiefe Glück der Zusammengehörigkeit mit einer Menschenseele.

Der Sommer verging und der Herbst verging. Der Boden des Waisengartens war bedeckt mit welfem, gelbem Laub, und es kam die Zeit der Nebel. Die Luft war feucht und falt geworden. Von den dünnen Aesten der entlaubten Bäume rann langsam Tropfen für Tropfen.

Der Herbst verging, und der Winter verging. In einem Jahre war Konrad's Seele reif geworden. Gr sah nicht mehr das Waisenhaus mit seinen fahlen Mauern, er sah nicht mehr die scheuen, ge­drückten, lauernden Gesichter seiner Gefährten: er lebte nun sein eigenes Leben und blickte hinab in die Tiefen seiner eigenen Seele. Geheimnißvolle Worte und Töne wurden laut in ihm, und er lauschte den Tönen und suchte sie auf und lauschte den Worten und mühte sich, sie zu deuten. Aber immer fremder wurde er sich selbst, und es war ihm, als steige eine dunkle Macht langsam und drohend in ihm auf, die Herrschaft über seine Seele gevann. Oft fragte er sich bange, was es doch sei, wenn er das Gefühl hatte, als ob er weinen müsse, und wenn es so ruhlos und verworren in

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Erlösung bringen werde. Aber er sand es nicht. ihm vorbei, so schön, wie er sie in seinen tiefsten In den Büchern fand er es nicht.

Manchmal aber, wenn ihn aller Trost verließ, da griff er zu seiner Geige. Er hatte in früheren Jahren das Geigenspielen gelernt, und so lange er es lernen mußte, war es ihm widerwärtig gewesen wie ein unerträglicher Zwang. Nun aber wurde es ihm eine Freude in seinen schweren, trostlosen Stunden. Und bald gewann er eine seltsame Fertigkeit. Mit jedem Tag, mit jedem neuen Können wuchs seine Freude daran. Langsam und unvermerkt versuchte er es, die Töne, die in seinem Inneren ruhten, zu formen, den eigenen Harmonien Gestalt zu geben. und er fühlte, daß alle Töne zur Form wurden Und er fühlte, daß alle Töne zur Form wurden und neue Töne schufen, und daß alle Harmonien Gestalt gewannen. Stunden vergingen, die er durch spielt hatte, und zuletzt wußte er nicht mehr, was es gewesen. Auf keinen Ton mehr konnte er sich befinnen. Nur Eines wußte er: daß Ruhe über ihn gekommen war.

Aber eines Tages trat es klar vor ihn, daß er Etwas konnte, was die Anderen nicht vermochten, und daß er seine eigene und keine fremde Musik spiele. Nun erst hatte er einen tiefen Trost für seine trüben Stunden gefunden. Wenn er in der Werkstätte saß, in die man ihn nun schickte, und mit dem Glas vor dem Auge alle die kleinen Räderchen zusammenfügte, die das Uhrwerk bilden, dann tönte es in ihm und er vergaß die monotone, mühselige Arbeit. Und zu dem Ticken der Uhren, die an den Wänden hingen, gesellten sich die vollen, jagenden Rhythmen seiner Seele, und er zählte die Minuten, bis er von der Arbeit frei sein und diese stummen Rhythmen in klingende Musik umsehen werde.

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Der Frühling war vergangen und ein neuer Sommer war angebrochen: der letzte, den Konrad im Waisenhaus verbringen sollte. Um die Mitte des August wurde er entlassen, um nun zu seinem Meister zu ziehen.

" Frei sein! Frei sein!" klang es jubelnd in seiner Seele, und sein Herz pochte, als er von dem alten Manne dort drinnen Abschied nahm, der ihm wohlwollend die Hand drückte und ihm seine kleinen Ersparnisse von den Arbeiten der letzten zwei Jahre einhändigte. Er hörte nichts von den ermahnenden Worten, die der Alte zu ihm und zu den Anderen sprach, er dachte blos ohne Unterlaß: Frei sein! sprach, er dachte blos ohne Unterlaß:" Frei sein! Frei sein!"

Noch ein lauter, sehnsüchtiger Gruß der Anderen,

die zurückblieben, und sie schritten die Straße hinab.

Konrad ging neben Frank einher und schämte sich vor den vielen Menschen, denn er trug seine Geige und den kleinen, schwarzen Koffer mit seiner Habe; auf dem Stoffer aber stand in groben, weißen Buch­staben sein Name und die Nummer, die er dort geführt. geführt. Nummer 109. Und er dachte: Nummer 109 ist entlassen."

"

Und doch jubelte es in ihm, denn es sollte sein erster freier Tag sein, und die Stadt, die große Stadt mit ihren bunten, prächtigen Menschen, mit ihrem lohenden Sonnenglanz und all ihrem rauschen den Getöse lag offen vor ihm. Haftig eilte er zu seinem Meister und ließ seine Sachen zurück. Dann wollte er wieder mit Frank zusammentreffen.

"

Wohin? Wohin?" fragte er sich tausendmal, und seine Sehnsucht umspannte die ganze Stadt mit

allen ihren Herrlichkeiten.

Als der Nachmittag gekommen war, gingen sie

langsam die breite Straße hinab, dem Prater zu,

Beide schweigend, bedrückt und zaghaft.

"

, Das Leben!" dachte Konrad, und der Wunsch

die Bücher, zu denen er sich fliichtete, in denen er lernte und suchte, ganze Tage, halbe Nächte. Es war ihm, als könnte er nie genug erfahren. Gierig stieg in ihm auf, all dieses Leben kennen zu lernen,

von all diesem Leben zu kosten.

Dann famen sie aus der Stadt hinaus, dort

Träumen nicht erhofft hatte. Und nur Eins empfand er in sich: Sehnsucht! Unendliche Sehnsucht nach all Dem, was hier vor ihm war.

Und dann gingen sie tief hinein in die Auen, weit weg von allen Wegen.

Dort legten sie sich unter der breiten Krone einer Buche in's Gras und starrten in den dunkelblauen Sonnenhimmel hinauf.

Wie schön! Wie schön! empfand Konrad immer wieder und wagte kaum zu athmen, um all' diese Schönheit nicht zu verscheuchen. Den Frank neben sich vergaß er ganz. Er hörte nur die Finken und die Drosseln drüben in den höchsten Aesten und das ferne Nollen der Equipagen ganz weit weg über den feinen Kies der Wege. Wie schön! Wie schön! Er sah den Himmel über sich und auf allen Seiten zitternde Blätterzweige, auf denen sich der Wind schaukelte.

Und wieder klangen Töne in ihm, neue Töne, die er nie gehört, und ganz still stieg der Wunsch in ihm auf, er hätte seine Geige bei sich. Aber dann dachte er: nächsten Sonntag, da wird er den Nachmittag frei haben und wird ganz allein heraus in die Auen gehen und seine Geige mitnehmen. Und er sehnte sich nach dem nächsten Sonntag.

Die Sonne sant und es wurde Abend. Im Walde drüben flammte das Laub in brennendem Noth, und durch die Zweige zuckten heiße Lichter. Und immer heißer und sehnsüchtiger klang das Lied der Vögel. Heiß und sehnsüchtig wurde es auch in Konrads Seele. So so zu leben, empfand er, immer wieder und wieder so zu leben: daran diirfte man nicht satt werden können. Er empfand es als einen zitternden, hoffenden Wunsch.

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Und dann kehrten sie in die Stadt zurück. Frank meinte, man solle noch in eine Schenke gehen. Konrad ging mit.

Dort, wo die letzten Häuser standen, unten am Donaukanal , in der Nähe von Frank's neuer Woh­nung, traten fie in eine Schenke. Die Thür stand offen, und von innen drang Rauch und das Ge­murmel erregter Stimmen heraus. Konrad aber empfand es als Musik und hörte ferne, eintönige Klänge durch.

Draußen auf der Straße war es Abend mit hellen, schimmernden Farben; hier drinnen aber war blasser Qualm und dazwischen tribes, flackerndes Gaslicht.

Scheu und verlegen sezten sie sich an einen fleinen Tisch neben der Thüre. Für Konrad war es ein neues Leben, das er hier sah: es beängstigte ihn in seinem engen, gepreßten Rahmen. Schwere, ungesunde Luft, die sich beklemmend auf Menschen und Gegenstände legte; heiße, glühende Wangen, von Wein und Streit anfgedunsen, dazwischen das schrille Gelächter eines Mädchens und funkelnde, gehässige Augen, die boshaft durch den Nebel flirrten: er empfand Angst vor dieser Atmosphäre, in der es wie dumpfes, gährendes Leben tochte, Angst vor diesen Menschen mit ihren rauhen, grellen Stimmen, mit ihren in fieberhafter Haft weggeschleuderten

Worten.

Der Raum war mit dunkelbraunem Holzgetäfel bedeckt, und Konrad starrte darüber empor zu den grauschwarzen Tapeten mit den verblaßten Mustern und zu den elenden Bildern: Und dazu lauschte er dem wirren Getöse. Bald klang es hier, bald dort wie ein unterdrückter Schrei der Wuth und Stühle wurden gerückt und schwere Schritte verloren sich an einer Thiire im Hintergrund. Nuhlos empfand Konrad die Stimmung des Raumes und mechanisch trant er zum ersten Male im Leben dieses bittere Getränk, das ihm ein Kellner in einem schmußigen Glase gereicht hatte.

nahm er Alles in sich auf, ohne Wahl und ohne bestimmten Wunsch. Er hatte jetzt volle Freiheit, und man ließ ihn seine eigenen Wege gehen. Nur hinab zu den Auen, wohin sie jeden Tag wie eine fein Handwerk mußte er lernen wie Jeder. Aber Heerde getrieben worden waren. Aber heute erschien es berdroß ihn und er that nur, was er thun mußte. Konrad Alles neu und umgestaltet: diese Wege, diese Dann aber suchte er wieder die Bücher, deren er Bäume, durch die die Sonne funkelte, diese Menschen, habhaft werden konnte, und fühlte eine tiefe Sehn- die dort langsam im Schatten gingen. fucht, alles Wissen der Erde mit seinem hungrigen Geiste zu umschlingen. Darin lag für ihn die Er­lösung von dem Banne in seiner Brust: er mußte nicht, alles Das, was er sah, in flare Gedanken geschlagen hatte, tanzten grelle, irre Funken vor

es nur finden, das Geheimnißvolle, das ihm die

Sie setzten sich auf eine Bank und saßen lange und schauten vor sich hin, und Konrad vermochte es

zu bringen. Bunte, nie gesehene Bilder glitten an

Der Qualm und das Bier betäubten ihn. Hilflos lehnte er sich an die Wand und schloß die Augen. Nun wurde ihm leichter. Das Stimmen­gewirr flang ihm fern, weit ,. weit weg von ihm. So dachte er sich das Rauschen des weiten Meeres. Aber immer heißer wurde es ihm um die Sinne, und wie damals, als er Frant im Zorne nieder­

seinen Augen.