Die Neue Welt. Illustnrte Unterhalwngsbeilage.270Wo's fröhlich klang und lustig ging,Da rührten sich meine Füße.Nun hat das tückische Alter michMit seiner Krücke getroffen,Ich stolpert' über Grabesthür—Warum stand sie just offen?"ich glaube nicht, daß dann irgendwer die tragischeMelancholie dieser Stelle wird verkennen mögen; undsie findet sich im übel berufenen ziveiten Theil desFaust. Darum sollte man nicht ablassen, zu sprechen:Nehmt es nicht zu schwer. Goethe hat uns dasedelste Erbe hinterlassen. Jeder von uns muß eserwerben, um es zu besitzen. Die irren und redendie Wahrheit nicht, die Euch von Goethe schreckenwollen. Die eifernden Laien so gut, wie die Pfaffen,die an Goethe ihren Sonder-Leckerbissen und ihrheimliches Ergötzen haben wollen. Wieviel alleinan Zitaten aus Goethe ist in den deutschen Sprach-schätz aufgenommen und wieviel aus seiner Gedanken-werkstätte ist wie unbewußt in unser Aller Ideeneingegangen. Noch lange ist Goethe's Kulturmissionnicht beendet. Noch wirkt Goethe lebendig in unsererMitte. Nicht den vereinzelten, verfeinerten Gemeinden,in seiner Höhenkunst gerade hat er der Gesammtheitgelebt. Wir können seinen Beistand nicht entbehren,wo es Menschliches zu erkenne» giebt.Es hat eine romantische Periode gegeben, in derGoethe, der„Olympier",.zum Universalgenie aus-gerufen wurde. Das war wiederum eine verklärendePhrase. Nichts mehr. Ein Universalgenie wäreheutzutage ein Unding. Eher könnte man sich einenMann vorstellen, der auf allen erkenntuißtheoretischenund künstlerischen Gebieten dilettirt.Es haben sich denn auch keine„Wunder" inGoethe's Leben vollzogen. Er war ein lebhaftregsamer Knabe, aber kein Wunderkind; und um dieJahrhundertswende etwa, also nach dem 50. Lebens-jähre, ließ seine künstlerische Potenz, seine sinnenfroheAnschaulichkeit, seine gestaltungskräftige Sprache nach,wie bei anderen schaffenden Menschenkindern auch.In der alten Krönungsstadt Frankfurt gab esManches, woran die Fähigkeit, zu beobachten undkünstlerisch zu schauen, sich üben konnte. Wie festdiese ersten Jugendeindrücke hafteten, das hat deralternde Goethe in den ersten Theilen seines Buches:„Wahrheit und Dichtung" in edler, klarer Prosadargestellt. Die zartesten künstlerischen Eindrücke desKindes, die Krönung Josef's II., die FrankfurterFranzosenzeit mit dem kunstlicbenden KönigslieutenantThorane aus der Provence, das Alles und manchereigene Wildfangstreich dazu ist lebhaft genug ge-schildert. Allgemein bekannt sind die Charakterbilderdes rauhen, ziemlich pedantischen Vaters und derfrohsinnigen, menschlich warmen, trefflichen Mutter,der„Frau Aja". Der junge Wolfgang ist keinstolzer Patrizierssohn zu nennen. Die Faniilie Goethewar erst zu Ende des 17. Jahrhunderts in Frankfurteingewandert und des Dichters Großvater war ein ein-facherSchneidermeister, der erst durch dieHeirath mit einerbegüterten Gastwirths-Wittwe zu Wohlstand gelangte.Als junger Jurist kam Johann Wolfgang aufWunsch des Vaters nach Leipzig. Dort entstandenseine ersten Komödienspiele; unter ihnen„Die Mit-schuldigen". Nicht ihres poetischen Werthes wegenist diese Komödie hier erwähnt. Sie ist in ihrerArt merkwürdig für die gesammte künstlerische Ideen-weit des heranwachsenden Goethe. Was in ihmspäter zu köstlicher Frucht gedieh, es waltet schonhier, wie ein nothwendiges Gesetz. Man nannteund nennt die Komödie in literargeschichtlichcn Werken„unerquicklich", zumal, wenn man die Jugend desStudenten Goethe in Betracht zieht. In den Mit-schuldigen wird gezeigt, wie„die bürgerliche Sozietätin vielen Dingen unterminirt ist." Das wird aberohne Jungen-Pathos, ohne sittliche Enttiistung, ganz„moralinfrei" vorgetragen. Kein Tendenzriecher,sondern ein freier Künstler, der begreift und Be-griffeues gestaltet, führt das Wort.Es ist nicht Zweck dieses Aufsatzes, auf bio-graphische Einzelheiten einzugehen. Zum LebenswerkGoethe's können hier nur einzelne Anregungen ge-geben werden. So sei denn noch in Kürze dieThatsache erwähnt, wie Goethe in Leipzig erlrankteund später 1770 nach Straßburg kam.In der elsässischen Landschaft ward's dem Frankfurter Bürgersohn wohler. Dort faßte sein dich-terischer Genius Wurzel; dort wurde er vom Ostpreußen Herder, der um mehrere Jahre älter war,in eine neue Welt eingeführt; dort hatte er auchsein vielberllhmtes und ebenso viel verlästertes Liebes-abenteuer mit Friederiken, der Pfarrerstochter vonSesenheim. Das intellektuell Wichtigste bleibt, daßGoethe die Erfahrung gewonnen hatte,„die Dichtungsei eine Welt- und Völkergabe, nicht ein Privat-erbtheil einiger feinen, gebildeten Geister." Herder-sche Ideen zum Volksgeist, Herder'sche Studien zumVolkslied beeinflußten den aufhorchenden Goethe,und mochte der schwerfällige Herder mitunter auchüber den jungen Goethe ungehalten sein, den erwegen seines beweglichen Naturells„spatzenmäßig"nennt, die Achtung des körperlich und geistig blühendenGoethe schmeichelte ihm doch.Was Herder's Ideen zu bedeuten hatten, wissenwir eigentlich erst heute voll einzuschätzen, da wirdas künstlerische Schaffen überhaupt im größtenkulturgeschichtlichen Zusammenhang als nothwendigenAusdruck von Zeitepoche und Volksseele betrachten.Herder's kritisches Genie drang in dieser Hinsichtzu größerer philosophischer Tiefe vor, als Lessing'sblanker, scharfer Verstand, der zugleich für die Frei-heitsideen, für den Gedanken der Aufklärung undDuldsamkeit kämpfend sich bewährte.Die nenerwachte Lust am volksthiimlichen Ton,an der Volksweise darf man als vorbildend fürGoethe's Kunstweise nicht unterschätzen. Sie treibtzum Reichsten, was wir an Goethe besitzen, zu denreiz- und klangvollsten lyrischen Gebilden, und inder Lyrik ist Goethe einzig stark; zu Liedern, dieeinfach hingehaucht erscheinen und dennoch die ttefstenEmpfindnngen einschließen. Sie sind erreichbar fürdas naivste Gemüth und sie treffen das komplizirtesteMenschenyirn; und weiter greift die volksthiimlicheWeise über zu einer Reihe balladenförmiger Sänge,und sie wird nicht nur eine äußere, auch eine innerlicheStütze in den Knittelversen des„Faust". Das ist einedurchführende Linie von ungewöhnlicher Bedeutung.In der That hat Herder's Treff-Jnstinkt aufden ersten Wurf Goethe's Sturm- und Drang-Drama,den„Götz", erkannt. Herder meinte dazu:„Der„Götz" ist ein deutsches Stück, groß und unregel-mäßig, wie das deutsche Reich ist, aber voll Charakter,voll Kraft und Bewegung." Man muß wissen, wasdas damals zu sagen hatte. In weiten Kreisenwaren die Gemüther über den„Götz" erregt; dasist gewiß. Aber die gelehrte Welt! Ein gewichtigerMann, wie Lessing, der kein Verhältniß mehr zudieser neu aufstrebenden Welt finden konnte, schriebaber auch, nachdem er von dem Erfolg der Berliner„Götz"-Aufführung(1774) gehört hatte, an einenFreund:„Das ist, fürchte ich, weder zur Ehre desVerfassers, noch zur Ehre Berlins. Meil(ein da-maliger Kostllmzeichner) hat ohne Zweifel den größtenTheil daran. Denn eine Stadt, die kahlen Tönennachläuft, kann auch hübschen Kleidern nachlaufen."Lessing's starke und aufrechte Person soll damitnicht herabgesetzt werden. Lessing hat im Kampfum Shakespeare und gegen konventionellen Zwangauch für Goethe reinen Raum geschaffen. Es kommtöfter vor, daß Menschen, die fest in ihrer Zeitwurzeln, dem Werdenden, das sich stürmisch geberdet,mit Rtißtrauen begegnen. Heute wissen wir nach-ttäglich Alle, was wir am„Götz" und seiner grund-deutschen, derb entfesselten Sprache haben und lassenuns das wenig bekümmern, daß Goethe's Beleuchtungnicht mit den neuesten Forscherergebnissen aus demBauernkriege stimmt und daß der Götz zumindestein zweideutiger Kunde war.Auch bei dem anderen Jugendwerk Goethe's, bei„Werther's Leiden" neigte sich Lessing der StimmungJener zu, die das künstlerische Schaffen nicht alsSelbstzweck ansahen und moralpädagogische Bedenkenhatten. Gegen den ttüb-melancholischen Jugend-drang reagirte auch wohl Lessings abgeklärte Männ-lichkeit, wenn der Kritiker meint, Goethe hätte durcheine cynische Nachschrift die beklemmende Wirkungdes Romans, der mit einem Selbstmord aus Unglück-licher Liebe endigt, zerstören sollen.Uns Modernen ist das Erlebte und Verklärte inder Werther-Dichtung fern gerückt. Aber damals,da das Bächlein Schmerzgefühle der Zeit, senttmen-talische, rührselige Beweglichkeit wie in einem Brenn-spiegel zusammenfaßte, wirkte es wie ein Phänomenauf alle„schönen Seelen". Und wer schwelgte nichtim Gefühl, eine schöne Seele zu sein! Je mehr diePfaffen und Pfahlbürger im Verein über die Ver-herrlichung des Selbstmordes eiferten, desto über-raschender wurde der Siegeslauf der Dichtung. Infremde Sprachen wurde sie übersetzt; es regneteParodien und Kopien, und bekannt ist das Kuriosum,daß man selbst in China auf Porzellan Wertherund Lotten nach etlichen Jahren zu malen begann.Vielumstritten, vielgenannt war Goethe jedenfallsseinen Zeitgenossen interessant geworden, und so suchteKarl August von Weimar ihn an seinen Hof zuziehen. Die Weimarsche Periode hat den Literatenvon jeher viel zu schaffen gemacht. Die Einenflennen mit ihrem„Wenn und Aber", die Anderensind bereit, das„klassische Weimar", Deutschlands„geheiligten Boden", schönzufärben. Man kann sichganz gewiß für ein emporsttebendes Genie eine ge-deihlichere Stätte denken, als das dorfmäßige Klatsch-nest Weimar von damals. Karl August war sichernicht der freie Geist, als den ihn höfische Schilde-rungen ausgeben möchten. Im strahlenden Goethesah er einen tollen Kumpan gleichsam, der mit ihm„in Kraft und Genuß die untersten Gründe auf-wühlen" sollte; nnd für Das, was im InnernGoethe's wirkte, hatten die fürstlichen Damen gleich-falls kaum ein zureichendes Verständniß. Darumsind die Betrachtungen, was denn geschehen wäre,wenn Goethe nicht nach Weimar kam, müßig-Goethe's wirthschaftliche Lage mußte gefesttgt werden.Aus der juristischen Laufbahn war er herausgerissen,und die schriftstellerische, die wirthschaftlich andersbetrachtet werden muß, als heute, bot ihm noch keinerechte Stütze. Nimmt man Schwächen und Eitel-leiten hinzu,— selbst das Gerede-über die Duz-brllder Karl August und Goethe und ihre gemein-samen wilden Streiche konnte schmeicheln,— so wirdman Manches begreifen. Man stelle sich das Genienur ja nicht im Heiligenschein vor. Dazu ttat dielang andauernde Liebe und Freundschaft zu FrauCharlotte v. Stein. Die höfischen Pflichten und Ge-schäfte und später die geregelte Beamtenthätigkenhatten Goethe sicherlich in seiner frischesten männ-lichen Zeit von poetischen Produkten abgehaltcn-Aber die romantische Schwärmerei:„Warum mußteein Goethe nur Weimar'jche Rekruten aushebenhelfen" usw. ist wiederum überflüssig; und daiMkann selbst das fruchtbarste Genie nicht immerzuBliithen treiben und Früchte schenken. Es muß doMauch empfangen, wenn es geben soll, und es braumdie mannigfaltigsten Berührungen mit der Wut'lichkeit, mit dem vielverästelten harten Leben. KlMst.und Stände lernte Goethe scharf unterscheiden, vielerleiMenschliches trat ihn: nahe, und sozialistische Begrmdurfte er sich bilden. Ein Zeugniß von seiner eigeneHand ist ein Brief an den Dichter Knebel in Weimm»worin Goethe mittheilt:„So steig' ich durch«1Stände aufwärts, sehe den Bauersmann bErde das Nothdiirftige abfordern, das doch auch 5?behaglich Auskommen wäre, wenn er nur f''r'!?selbst schwitzte. Du weißt aber, wenn dieläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich bub'dick und grün gefressen haben, dann kommen �Ameisen und saugen ihnen den filttirten Saft a*den Leibern. Und so gehts weiter, und wir hübe»so weit gebracht, daß oben in einem Tage nie?verzehrt wird, als unten in einem Jahr beigebe�werden kann." So ganz„nutzlos" lebte denn Goenicht„am Hofe" daher.Wie wäre sonst die reiche Erfahrung über wennliche Typen und Lebenszustände in Goetheshingen, in der überquellenden Spruchweisheit Ki'hohen Alters zu erklären? Eines ist ohne das A'wnicht zu haben. Wenn man Goethe als den HkrrllwSchilderer und Kenner typischer Frauennaturen Pre jwenn man sein Gretchen und sein Klärchen(Egw�-und seine gesammte„Frauengalerie" rühmt, so oman ihm nicht wie ein Sonntagsprediger beiwnm' �Aus der Luft oder vom Himmel her wird auchGenie keine Erleuchtung, Modelle wollen ftudirt,dichte in Goethe's Sinn erlebt sein.(Schluß b'ls'-'