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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Schaffens zu verarbeiten, mußte eine Aufgabe für lange Perioden weiterer Entwickelung werden und ist auch jetzt noch weitaus nicht erledigt. Die praftische Verwerthung von Pestalozzi's Gaben ist fast gleichbedeutend mit dem Aufblühen der deutschen Volksschule, einschließlich der durch Friedrich Fröbel ( 1782-1852) ſeit 1840 aufgekommenen und, nach längerer Unterdrückung in Preußen, nun allenthalben wirkungsreichen Kindergärten. Die theoretische Zusammenfassung des zu Ende des 18. Jahrhunderts erreichten Standes der Pädagogif, wenngleich noch ohne wissenschaftliche Durchführung, gegenüber Besta lozzi mit fritischer Unabhängigkeit, geschah besonders durch den vielfach verdienstvollen A. H. Niemeyer ( 1754-1828), dessen weithin wirksame Grundsäge der Erziehung und des Unterrichts", seit ihrem ersten Erscheinen von 1796 oftmals erweitert, noch heute ein empfehlenswerthes Buch zur Einführung in den Bereich der Pädagogik sind.
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Auf ihn folgten zwei Männer, die in historischen Betrachtungen von heute oft mit Unrecht zu kurz tommen. Der eine war ein praktischer Schulmann, Frdr. H. Chr. Schwarz( 1766-1837). Seine seit 1802 erschienene ,, Erziehungslehre" zeigt, abgesehen von der christlichen Grundfärbung, vor Allem zwei Hauptgedanken: den der Entwickelung und den einer harmonischen Allseitigkeit. Jenem Gedanken gemäß hat Schwarz einerseits den Entfaltungsgang der jugendlichen Seele so sorgsam verfolgt, wie nicht bald einer der Späteren, und hat andererseits die Pädagogik gefaßt als„ das Mittel zur fortschreitenden Bewegung der Menschheit durch die aufeinander folgenden Geschlechter bis zum Ziele der Vollendung"; dem zweiten Hauptgedanken entspricht seine Absicht, „ das pädagogische Handeln in dem Zusammenhang des gesammten Handelns zu begreifen". Schwarz ist auch wohl( nach zwei Vorgängern) der erste eigentliche Historiker der Pädagogik. Der andere von jenen zwei Männern war der Dichter Jean Paul Friedrich Richter ( 1763-1825), dessen Levana, oder Erziehungslehre" zuerst 1807 erschien. Dem Dichter haben wir hier einen in der ganzen Pädagogif bis heute arg vernachlässigten Punkt zu danken: seine Aufmerksamkeit auf die Ausbildung des Schönheitssinnes. Im Uebrigen steht ihm der hohe Werth der Individualität im Vordergrund; diese soll der Erzieher mit Liberalität wachsen lassen und von Beengendem frei halten also wieder im Gegensatz zu dem mehr Beugenden und Abwehrenden christlicher Pädagogik. Er will einen„ idealen Preismenschen" im Kind, frei machen". Der Rousseau 'sche Naturalismus fehrt bei Jean Paul wieder, doch anders gefärbt: insbesondere wird hier der Zögling weniger als dort so betrachtet, als wäre er eine ,, leere Tafel".
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Unter den übrigen Pädagogikern jener Zeit sind die hervorragenden insgesammt zugleich Philosophen. Die Bedeutung J. G. Fichte's( 1762-1814) für die, von ihm ganz besonders über den bloßen Unterricht gestellte, Erziehung ist durch das zu Pestalozzi gegensägliche nationale Moment und durch die Anwendung auf die Ideale der Universitätsbildung zu einer ganz eigenen, erst wieder eines neuen Aufnehmens harrenden Sache geworden. Fr. E. D. Schleiermacher ( 1768-1834), zunächst von seiner praktischen und theoretischen Religionswirksamkeit her bekannt, in der Philosophie von Bedeutung für die Ethik, faßte die Pädagogik als eine Anwendung und Probe dieser und mit der Politit zusammen als einen Theil der Sozialwissenschaft, garnicht zu sprechen von den Beziehungen der Pädagogik zu der, hier zumeist vom Standpunkt des Gefühles aus aufgefaßten Religion. Er war ähnlich wie Comenius vor Allem der umfassende Geist, sein Ideal wie bei diesem die Einheitsschule, so daß ihm alle besondere höhere Bildung aus der allgemeinen fließt. Dabei macht doch die Ausbildung des Individuellen den einen, wesentlichen Theil der Erziehung aus, eben ergänzt durch das Univer elle. So konnte an ihm die gesunde Vermittelung" gerühmt werden, und sie trug wohl bei zu der ihm zukommenden Bedeutung eines „ Staatspädagogen". Die Unterrichtslehre, für ihn mehr als anderswo von der Erziehungslehre getrennt, fußt vor Allem auf dem Prinzip des ununterbrochenen
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Fortschreitens; ihr Element sei das für's Leben Werthvolle. Fr. Ed. Beneke( 1798-1854) stüßte seine Pädagogik auf seine Psychologie, der es auf ein Zurückführen des seelischen Lebens auf die sinn lichen Elemente aufam, und die seine Pädagogik zu einer Lehre von dem planmäßigen Aufbauen auf diesen Elementen machte. Der Unterricht werde als ein Theil der Erziehung gefaßt; wichtiger als der Lehrprozeß ist der Lernprozeß. Beneke's Pädagogik ist heute noch eine der erfolgreichsten von allen, allerdings ausgenommen seine Beiträge zur Universitätspädagogit, die sich denen der zwei Leztgenannten zur Seite stellen; seine Klage vom Jahre 1836, daß leider das, in der neueren Zeit für die Pädagogik erwachte höhere Interesse bislang nur für die Elementarschulen recht fruchtbar geworden sei, und daß man sich seit langer Zeit nicht über die Grundformen des Universitätsunterrichts tiefer besonnen habe, ist für dieses Gebiet auch heute noch zu wiederholen.
( Schluß folgt.)
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Von Th. Overbeck.
les in der Welt ist dauernder Veränderung unterworfen, nichts ist beständig, weder das scheinbar unerschütterlich feste Land, noch das bewegliche, nasse Element, das Wasser, weder der einzelne Mensch, noch die Nationen in ihrer Gesammtheit. Allerorten und in jeder Hinsicht zeigt sich dem aufmerksamen Beobachter ein fortwährendes Hin und Herschwanken, ein ununterbrochenes Schauspiel von Werden und Vergehen, Aufbauen und Zerstören, ein nie endender, oft erbitterter Kampf der Naturkräfte und der Lebewesen, ein Ringen um die Oberherrschaft, ein Siegen und ein Unterliegen.
Selten aber dürfte in dieser Hinsicht ein gewaltigeres Schauspiel zu finden sein, als es der, vorzugsweise seit etwa tausend Jahren tobende Kampf zwischen der meistens wildwogenden Nordsee und den tiefliegenden Küstenländern gewährt. Auch hier war tiefliegenden Küstenländern gewährt. Auch hier war der Kampf von wechselndem Erfolge begleitet; denn während bis etwa zum Jahre 900 das Land in dem Streite Sieger blieb und dem Meere Schritt für Schritt Terrain abgewann, hat sich seit jener Zeit das Blatt in erschreckender Weise gewendet: die Wogen rissen ein Stück des festen Landes nach dem anderen in die Tiefe, und nur selten gelang es menschlicher Kunst und Ausdauer, dem wilden Gegner geringe Vortheile abzutrozen. Erst in neuester Zeit scheint der Mensch dem Angriff des furchtbaren Gegners wenigstens nahezu gewachsen zu sein.
Sämmtliche alten Berichte erklären übereinstimmend, daß in alten Zeiten fruchtbare Gebiete weit in die jetzige Nordsee hinausreichten, vieler Orten noch weit über das jezige Wattenmeer hinaus
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Watten sind flache Sandbänke, die sich meilenweit von den Küsten in die See hinaus erstrecken und zur Ebbezeit trocken liegen, zur Fluthzeit aber von Wasser bedeckt sind an deren Stelle jetzt die Meereswogen rollen. Die kleine Insel Helgo land z. B. dehnte sich ehemals, wie sich aus den unter Wasser auslaufenden Riffen ergiebt, weit nach Nordost aus, und noch heute auf dem Felseneilande eristirende Traditionen besagen, daß dieses vormals von der jetzt sechs deutsche Meilen entfernten schleswigholsteinischen Küste nur durch einen Kanal von so geringer Breite getrennt gewesen sei, daß ein darüber gelegtes Brett zur Verbindung gedient habe. Die Breite dieses Kanals zu bezeichnen, wird hinzugesezt: ein Mann habe mittelst dieses Steges einen Kornsack von der Insel nach dem festen Lande getragen. Nach einer uralten Handschrift, die im achten Stück der dänischen Bibliothek" abgedruckt ist, sollen in der Vorzeit Helgoland , Dithmarsen und Eiderstedt einander so nahe gelegen haben, daß nur eine Fähr stätte dazwischen war. Vermuthlich ergoß sich da mals das Wasser der Elbe südlich von Helgoland in die offene See.
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mals auf der Insel vorhandenen uralten Karten sowie nach Ueberlieferungen und Berichten, u. A. Adam's von Bremen ( 1068 Domherr in Bremen ), angefertigt wurden. Nach diesen war die Insel im Jahre 800 noch etwa 4 Quadratmeilen groß; auf ihr befanden sich Waldungen und Wiesen, 10 Bäche und zirka 40 Dörfer und Siedelungen, meistens bestand sie jedoch aus Tiefland, und nur ein felsiger Hiigel war zu finden, von dem ein geringer Reſt, das heutige Helgoland, noch vorhanden ist. Gleich nach den Zeiten Adam's von Bremen , vermuthlich in den Jahren 1102 und 1216, muß die See aber gewaltige Theile fortgerissen haben, denn um 1300 enthielt die Insel nur noch 2 Kirchspiele und 13 Ortschaften. Nach mehreren, in alten Chroniken enthaltenen Nachrichten war Helgoland im 13. Jahrhundert etwa um dreiviertel kleiner als im achten.
Im Jahre 1649, aus welchem Jahre eine vorzügliche Karte erhalten ist, war sie etwa noch dreimal so groß wie gegenwärtig, und neben der heutigen, derzeit noch fest als Land mit der Insel verbundenen Dine, befand sich ein Kreidefelsen, die Witteklippe. Fast sämmtliche Inseln, die gegenwärtig von Holland bis Jütland in einer langen Reihe die Küste befränzen, waren ehemals weit in die See vorspringendes festes und fruchtbares Land, Zuydersee, Jahde und Dollart waren damals noch nicht vorhanden, und es bestand noch eine ganze Anzahl jetzt längst verschwundener Inseln, z. B. westlich der Wesermündung die Insel Mellum mit festem Schloß. Jetzt tobt an der Stelle der lezteren auf den Sandbänken sich brechendes wildes Wogengetiimmel, und dort erhebt sich der vor einigen Jahren mit großen Kosten mitten in der See von der Stadt Bremen erbaute WeserLeuchtthurm.
Noch zu Karl's des Großen Zeiten war das Küstenland der Friesen, das von der Schelde bis Jütland reichte, doppelt so groß wie heute. Die an der Elbmündung liegende Insel Neuwerk besaß sogar noch vor 200 Jahren die dreifache Größe wie gegenwärtig.
Die Ursache dieses sonderbaren Umschwunges, dieser entsetzlichen Länderverwüstung, ist höchst eigenartig: es ist die Bildung oder doch erhebliche Erweiterung des Kanals zwischen England und Frankreich , der, wie die geologischen Verhältnisse unwiderleglich beweisen, ehemals nicht vorhanden war. Geschichtliche Berichte über diese Katastrophe, diese Losreißung Großbritanniens vom Festlande, sind nicht vorhanden, jedoch dürfen wir sie aus verschiedenen Gründen mit ziemlicher Gewißheit in die Periode von 500 bis 1000 vor dem Beginn unserer Zeitrechnung legen. Eine zweite Katastrophe, eine große Erweiterung des Kanals, fand etwa im 9. Jahrhundert statt und diese brachte den Hauptumschwung.
Vulkanische Kräfte werden wohl kaum eine Rolle dabei gespielt haben, vielmehr haben die Wogen des Ozeans die letzte schmale Verbindungsbrücke, weichen Kreidefels, schließlich allein durchbrochen und fortgespült.
Bis dahin, d. h. bis zum 9. Jahrhundert, war die Nordsee ein relativ ruhiges Gewässer, kannte wenigstens keine größeren Ueberschwemmungen, zumal die Fluthwelle lediglich auf dem Umwege um Schott land an ihre Küsten gelangen konnte. Wenn auch die Stürme wie heute tobten, so waren sie doch ziemlich ungefährlich; denn schwere Nordſtürme sind sehr selten und Südwest und West brachten wenig Wasser, weil es an Nachschub bald fehlte.
Mit der bedeutenden Verbreiterung des Kanals änderte sich jedoch Alles mit einem Schlage. Die Fluth verdoppelte sich, denn eine früher unbekannte Welle drängte jetzt durch den Kanal und stieß, sich nordwärts wälzend, mit der alten um Schottlands Nordspize kommenden inmitten der Nordsee zusammen und staute dadurch täglich zweimal das Wasser zu einer bis dahin unbekannten Höhe auf. Dieser nene Weststrom drängte aber gleichzeitig die Fluthen der Elbe und Weser nach Osten ab. Diese brandeten jetzt mit gewaltigem Stoß gegen das flache Nordhelgoland; der Kanal, der dieses von der Küste Schleswig- Holsteins trennte, verbreiterte sich schnell und in relativ kurzer Zeit wogte das Meer dort, wo ehemals die grünen Wiesen des nordöstlichen Helgolands sich ausdehnten.