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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Blake. Jezt werden wir ein Feuer anmachen und etwas fräftige Bouillon bereiten. Wenn wir nur über den heutigen Tag und über morgen hinweg tommen. Montag habe ich zwanzig Pfund. Zwanzig Souvereigns! Und dann werde ich im Stande sein, für Ihre Güte mich einigermaßen dankbar zu zeigen!"

Mrs. Blate lächelte traurig und ungläubig. Sie hatte zu oft von solchen goldenen Hoffnungen ihres jungen Freundes gehört- Geschichten, die stets zu Wasser geworden waren. Doch war ihr Herz zu gut, und sie bedauerte Noß zu tief, um ihren Ge­danken Ausdruck zu geben.

Das lustig brennende Feuer erwärmte schnell die Stube, und Mrs. Blake's Theekessel brodelte bereits lebhaft. Ein lieblicher Speiseduft erinnerte den jungen Mann daran, daß er noch nüchternen Magens war. Seine Frau war für kurze Zeit in Mrs. Blake's Hut gut aufgehoben, so ging er aus, noch einmal sein Glück zu versuchen, ob ihm nicht Jemand eine fleine Summe für das Pfand seines kostbaren Zettels bis Montag vorschießen wolle. Der Schlachter, dessen magerer Stunde er in besseren Zeiten gewesen war, gab ihm das Papier knurrend zurück: " Was soll's?" und sah ihn von Kopf bis zu Füßen an, als ob er ein Dieb sei. Der Apotheker ver­höhnte ihn mit den Worten:" Nee, Mr. Roß, danfe für Obst! Man muß nicht von Allem haben, ge branntes Kind fürchtet das Feuer."

Und so ging's durch den ganzen Bezirk; überall, wo er dachte, auf Grund seiner früheren Kundschaft auf Erfüllung seiner Bitte rechnen zu dürfen, be­gegnete er Mißtrauen und Spott und Hohn. Schweren Herzens fehrte er nach Hause zurück, vergaß seinen

Hunger, vergaß seinen Summer, vergaß Alles und Hunger, vergaß seinen Kummer, vergaß Alles und Jedes, nur das Eine nicht, daß seine Frau so still dalag, daß man hätte denken können, das Leben sei bereits entflohen. Mrs. Blake brachte ihm eine Tasse schwachen Thees und eine Schnitte einfachen Brotes, die sie sich von ihrem Mittagessen abgespart hatte. Er und trant, ohne zu wissen, was er und trant. Er hatte nur Augen für die unmerklichen Bewegungen, welche das erlöschende Leben noch in der Gestalt gelassen hatte. Er beobachtete sie wie der schiffbrüchige Seemann die herannahenden weißen Wölkchen am fernen Horizonte ängstlich beobachtet, die den kommenden Sturm verkünden. Was sollte er Anderes thun? Gebunden an Händen und Füßen, hilflos für beinahe zwei Tage und da heißt es, Geld könne nicht glücklich machen! Fragt Den­jenigen, der zwei Tage ohne einen Bissen Nahrung war, ohne erwärmendes Feuer in starrem Witterfrost, ohne einen Pfennig Geld und drechselt dann eure Phrasen!

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Wie er den Tag und die darauffolgende Nacht, wie er den nächsten Tag und die nächste Nacht ver­brachte, hat W. Roß nie gewußt. Die einzige Er­innerung an diese fürchterliche Zeit war das wie farrarischer Marmor bleiche Gesicht, diese unendlich traurigen, glänzenden, dunklen Augen. Montag Morgen um zehn Uhr Montag Morgen um Montag Morgen um zehn Uhr Montag Morgen um zehn Uhr" plapperte er mechanisch vor sich hin. Seine Verzweiflung hatte sein Herz so verſteint, daß er für den eigenen Schmerz erstarrt war. Alles was er bemerkte, war, daß ihr Athem weniger hörbar war, ihre Lippen unfähig schienen, Worte zu bilden. Mrs. Blake tam von

Zeit zu Zeit zu ihm und hatte Worte der Hoffnung für ihn, aber er hatte sie vergessen, sowie sie ge­sprochen waren.

Der Montag Morgen war ein frischer, strahlender Morgen, ein echt englischer fröhlicher Wintermorgen. Lange vor zehn Uhr wartete Noß im Bureau Mr. Wilkins'. Seine Augen starrten so gräßlich, daß die Kommis ihn für betrunken hielten. Er saß in einer Ecke mit so verzweifelt düsterer Miene, daß der rothbärtige Commis es unterließ, sich über ihn lustig zu machen.

Mr. Wilkins fam endlich, hob nach einigen bebenden Worten Roß die Üngültigmachung des Checks auf, indem er etwas daherbrummte, daß er wegen solcher Kleinigkeiten belästigt würde.

Eine halbe Stunde später stürmte der junge Mann in das Zimmer, in dem seine Frau lag; seine Arme waren beladen mit den Gegenständen, die ihnen so lange vorenthalten waren.

Mrs. Blake hielt ihn an der Schwelle an und brach in Thränen aus. Er starrte sie wie abwesend an und ließ die gekauften Kostbarkeiten zu Boden gleiten. Dann wendete sich sein Blick nach dem Bette, und er sah, daß ein großes Tuch über die dort liegende Gestalt geworfen war. Er stürzte darauf zu und riß es zurück. Da lag sie sanft lächelnd, wie ruhig schlafend. Wie im Traume griff er nach ihrer Hand sie war falt, eiskalt. Da drängte sich ein geller Schrei über seine Lippen, wie ihn nur die tiefste Seelenqual erpressen kann. Er zog eine handvoll Goldstücke hervor und schleu­derte sie in heller Verzweiflung im Zimmer umher.-

Feuilleton.

Winter.

ie Sonne leiht dem Schnee das Prachtgeschmeide, Doch ach! wie kurz ist Schein und Licht. Ein Webel tropft, und traurig zieht im Leide Die Landschaft ihren Schleier dicht.

Ein Häslein nur fühlt noch des Lebens Wärme, Am Weidenffumpfe hockt es bang. Doch kreischen hungrig schon die Rabenschwärme Und hacken auf den sichern Hang.

Bis auf den schwarzen Schlammgrund find gefroren Die Wafferlöcher und der See.

Buweilen geht ein Wimmern, wie verloren, Dann Hirbt im fodfen Wald ein Reh.

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Detlev von Liliencron .

Heimgefunden. Die beiden Alten saßen bei ihrem einfachen Mahle. Still ist's bei ihnen geworden, seit ihre Marie, die vordem das Haus mit Leben und Frohsinn erfüllte, so plöslich von ihnen gegangen. Ihre Lippen ließen fein Wort laut werden, aber ihre Gedanken kamen davon nicht los. Da jedes vom anderen wußte, was ihm fehlte und doch nicht daran rühren mochte, hatten sie sich gewöhnt, zu schweigen. Trüb' schlichen ihnen die Tage dahin... Ein schüchternes Klopfen hat sie aus ihrem Sinnen gestört. Die Mutter geht nachsehen, wer da ist, fie öffnet ein wenig die Thüre, mit einem Schrei reißt sie sie weit auf: die Tochter steht vor ihr. Ein Blick genügt der Mutter, die Lage ihres Kindes zu erkennen. Bleich und abgehärmt ist das Gesicht, das immer noch schön ist, groß und starr blicken die früher so schelmischen dunklen Augen sie an, und im Arme hält fie ein Kind, in ein ärmliches schwarzes Tuch ist sie ge= hüllt. Ob der, durch den ihre Marie in dieses Elend gekommen, gestorben ist? Es braucht für sie nur Siesen Anblick, und aller Groll gegen die Tochter ist ge= schwunden. Aber der Vater? Schnell wendet sie sich zu ihm. Beim Anblick der Tochter ist er aufgesprungen und hat sich abgewandt, er kann es so schnell nicht vergessen, was sie ihm gethan. Was hatte er sie gewarnt, gebeten, beschworen, sich nicht an diesen Menschen zu hängen! Er hatte doch gesehen, daß der Bruder Leichtsinn es nicht ehrlich meinte. Aber sie hatte nicht hören wollen, und sie war heimlich mit ihm auf und davongegangen. Seit­dem hatte man ihm nicht mehr von der Marie sprechen dürfen, und nun stand sie plötzlich vor ihnen. Was sollte

er thun, konnte er sie wieder davonjagen? Da legt sich eine Hand auf seine Schulter. Die Mutter ist zu ihm herangetreten, sie weiß, was in ihm kämpft, aber sie weiß auch, daß die Tochter, die scheu zurückgewichen ist und fich mühsam aufrecht haltend in der Kaminecke steht, nicht vergeblich an die Thür des Elternhauses gepocht.-

Die Furcht der Naturvölker vor Todten und Kranken. Es ist bekannt, daß die primitiven Völker den Tod wie die Krankheit als eine Wirkung dämonischer Wesen auf­fassen. Darauf beruht die allgemeine und rudimentär noch bei uns vorhandene Scheu vor Todten und Kranken mit den beim Naturmenschen üblichen Vorkehrungen. Der Todte ist zunächst der Siz von Gespenstern, die dem Lebenden verderblich werden oder wenigstens lästig fallen können. Darum bringt der Mensch den Leichnam bei Seite, möglichst weit von der Ansiedelung ab, oder er ergreift noch ursprünglicher selbst die Flucht vor dem Verstorbenen. Der Dämon, der den Tod verursacht, ist aber schon im Alten und Siechen vorhanden, um sein Werk zu verrichten. Aus dieser Erwägung zieht der Urmensch mit grausamer Logit seine Konsequenzen. Um selbst dem Todesgeist zu entgehen, läßt er den Alten und Schwachen hülflos im Stich. Ja, man geht noch weiter. Muß es nicht die beste Abwehr sein, den Greis zu tödten? Und in der That: der Wilde zögert nicht, sich in dieser barbarischen Weise seiner Alten zu entledigen. Nicht anders steht es aber mit den Kranken, die man allesammt von bösen Geistern besessen glaubt. Bald werden die unglück­lichen Opfer an einsamen Orten ausgesezt, bald im ab­gekürzten Verfahren vollends dem Tode überliefert.

Wie die Furcht vor dem Todten sich äußert, das wissen zahlreiche Berichte über die Naturvölfer mitzutheilen. So verläßt der schon hoch entwickelte Kaffer nach jedem Todes­falle die Hütte und verbrennt sie, und ganz ebenso verfährt der Neukalifornier. Die Betschuanen und Hottentotten, sowie die Boobies von Fernando Po geben nach dem Ableben eines Genossen den ganzen Weiler auf.

Das Aussehen oder Tödten der Greise ist erschreckend weit verbreitet, wenn auch inzwischen die meisten Völker diese Stufe der rohen Fürsorge längst überwunden haben. Noch der Kaffer, der sonst so bildungsfähig ist, hält daran fest, den dem Tode nahen Alten hinaus zu bringen und draußen liegen zu lassen. Auch von den Indianern werden Fälle dieser Art gemeldet; Catlin hatte z. B. Gelegenheit, einen ausgesetzten Häuptling des Buncahitammes in hülf­lofer Lage aufzufinden. Nachrichten über ähnliche Bräuche haben uns außerdem die alten Schriftsteller hinterlassen. Strabo weiß von den Kaspiern, daß sie ihre Greise, wenn sie über siebzig Jahre zählten, einsperrten und ver­hungern ließen. Die wohlbedachte Tödtung erzählt der= selbe Autor von den Derbikern, welche insbesondere die

Verantwortlicher Redakteur: Oscar Kühl in Charlottenburg .

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alten Frauen erdrosselten und begruben. Bei den Bactriern war es dagegen nach dieser Quelle üblich, die wegen Alter oder Krankheit Aufgegebenen den zu diesem Zwecke ge­haltenen Hunden vorzuwerfen. Mit derselben faltblütigen Konsequenz behandelten auch unsere germanischen Vor­fahren ihre Greise. Ueber die Heruler wissen wir, daß sie Alte und Kranke umbrachten, und die Altpreußen tödteten ihre entfräfteten Eltern, wenn diese selbst es wünschten, während unbemittelte Stranke ungefragt dem Tode verfielen.

Krante auszusehen, war namentlich bei den Alt­fariben Sitte, die ausdrücklich als Grund angaben, daß Jene von bösen Geistern behaftet seien. Der Kaffer be­handelt den Schwerkranken, dessen Berührung Jedermann scheut, genau wie den Greis; er entfernt ihn aus seiner Nähe. Bei den Hottentotten errichtete man in der Wildniß eine Hütte, in die der Kranke, von aller Hülfe entblößt, gebracht wurde. Auf Tobi pflegten die Eingeborenen die Schwerkranken gleich den Todten in einem schlechten Kahn in's Meer hinaus zu stoßen. Vom Tödten der Kranken fonnte schon in Verbindung mit der Altentödtung berichtet werden. Außerdem hören wir von den melanesischen Inseln, daß Schwerkranke noch lebend begraben wurden. Die Haitier brachten einst ihre hoffnungslosen Kranken auf Berge, um sie hier zurückzulassen; Sterbende tödteten fie aber vollends. So verfuhren die Römer, wenigstens mit schwer erfranften Sklaven, noch in der Kaiserzeit, und es bedurfte zur allmäligen Abstellung erst eines Verbotes, das diese Handlungsweise wie den Mord zu behandeln drohte.

Das sind dunkle Blätter in der Menschheitsgeschichte. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß dem Urmenschen zunächst jede mildere Negung abgeht. Unter dem Drucke der Gespensterfurcht stehend, läßt er, wo es seinen Schuß gilt, mit elementarer Logif, unberührt von Gewissens­strupeln, dem erfaßten Gedanken die That folgen. Wie grausam auch seine vorbeugenden und abwehrenden Maß­regeln sein mögen: sie sind dennoch der Ausfluß einer persönlichen und allgemeinen Fürsorge. Die Art der Mittel war in dem ganzen Kulturzustande der Urzeit begründet, der weit entfernt ist von der paradiesischen Unschuld, die man so gern an die Schwelle unseres Geschlechtes ver­legen möd; te.

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ht.

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