Erscheint
wöchentlich einmal
in
Verlag
N: 2.
Der Sozialdemokrat
Internationales Organ
Sonntag, 12. Oftober.
19 Avis an die Korrespondenten und Abonnenten des Sozialdemokrat".
Da der„ Sozialdemokrat" sowohl in Deutschland als auch in Oesterreich verboten ist, bezw. verfolgt wird und die dortigen Behörden sich alle Mühe geben, unsere Verbindungen nach jenen Ländern möglichst zu erschweren, resp. Briefe von dort an uns und unsere Zeitungs- und sonstigen Sendungen nach dort abzufangen, so ist die äußerste Vorsicht im Postverkehr nothwendig und darf keine Vorsichtsmaßregel versäumt werden, die Brie marder über den wahren Absender und Empfänger, sowie den Inhalt der Sendungen zu täuschen, und letztere dadurch zu schützen. Haupterforderniß ist hiezu einerseits, daß unsere Freunde so selten
Abonnements
werden nur beim Verlag und dessen bekannten Agenten ent= gegengenommen und zwar zum voraus zahlbaren Vierteljahrspreis von: Fr. 2. für die Schweiz ( Kreuzband) Mt. 3. für Deutschland ( Couvert) fl. 1. 70 für Oesterreich( Couvert) Fr. 2. 50 für alle übrigen Länder des Weltpostvereins( Kreuzband).
Juferate
Die dreigespaltene Petitzeile 25 Cts. 20 Pfg.
1879.
als möglich an den Sozialdemokrat", resp. dessen Verlag selbst adressiren, sondern sich möglichst an irgend eine unverdächtige Adresse außerhalb Deutschlands und Oesterreichs wenden, welche sich dann mit uns in Verbindung setzt; anderseits aber, daß auch uns möglichst unverfängliche Zustellungsadressen mitgetheilt werden. In zweifelhaften Fällen empfiehlt sich behufs größerer Sicherheit Netommandirung. Soviel an uns liegt, werden wir gewiß weder Mühe noch kosten scheuen, um trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten den Sozialdemokrat" unsern Abonnenten möglichst regelmäßig zu liefern.
"
An unsere Leser
in Deutschland und Oesterreich. Wie vorauszusehen war, ist gegen den„ Sozialdemokrat" alsbald nach seinem Erscheinen in dem deutsch - österreichischen Polizeigebiet eine eifrige Berfolgung eingeleitet worden.
-
Während das Gros der sehr hohen Auflage der Probenummer ungefährdet an seine Bestimmnngsorte gelangt ist, wurde ein Theil derselben wie bei der dermalen in beiden Reichen herrschenden Polizeiwillkür und Brief= stieberei nicht anders zu erwarten war theils gleich auf der Post unterschlagen, theils nach der Ablieferung durch lettere von der Polizei weggenommen. Indem wir unsern Lesern wiederholt die zur Sicherung unseres Verkehres dienende Anleitung am Kopf unseres Blattes aus Herz legen, machen wir zugleich denen, welche den„ Sozialdemokrat" nabehindert empfangen, zur Pflicht, ihn denen, welche etwa durch Unterschlagung und Weguahme ihrer Exemplare nicht in deren Besitz kommen sollten mitzutheilen. Nur durch die Nachsicht, Opferwilligkeit und Mitwirkung Aller vermögen wir die ebenfalls mit vereinten Kräften und mit Hochdruck arbeitende Polizei zu überlisten und ihr zu widerstehen.
Daß der Sozialdemokrat" in Deutschland bereits verboten ist, melden wir hier nur einfach. Wir haben auf diese Ehre von Anfang an gerechnet. Eine weitere Bedeutung hat das Verbot für uns und unsere Leser nicht, es wäre denn die unfreiwillige Agitation, welche durch die Veröffentlichung desselben besonders da, wohin unsere Probenummern nicht gedrungen, für unser Parteiorgan gemacht worden ist.
Nechenschaftsbericht
und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst so vollstän= dig in den Augen jedes vorurtheilslosen Menschen, daß wir, die Vertreter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands , uns zu der Erklärung gedrungen fühlen:
Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Diskussion des dem Reichstage heute vorliegenden Ausnahmegesetzes theilzunehmen und werden uns durch keinerlei Provokationen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, in diesem Entschluß erschüttern lassen. Wohl aber werden wir uns an der Abstimmung betheiligen, weil wir es für unsere Pflicht halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die Volksfreiheit das Unjrige beizutragen, indem wir unsere Stimmen in die Wagschale werfen.
"
Falle die Entscheidung aus, wie sie wolle- die deutsche Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgungen gewöhnt, blidt weiteren kämpfen und Verfolgungen mit jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die das Bewußtsein einer gu ten und unbesiegbaren Sache verleiht. Berlin , 23. Mai 1878.
Auer. Blos. Bracke. Demmler. Fritsche. Hasenclever. Kapell. Liebknecht. Mast Motteler. Rittinghausen.
Am 24. Mai wurde das„ Hödelgesetz" nach 2tägiger Debatte vom Reichstage mit überwältigender Majorität( 251 gegen 57 Stimmen) abgelehnt.
-
Nach einer so entscheidenden Niederlage der zweiten binnen furzer Zeit blieb dem Fürsten Bismard keine andere Wahl als Abdankung oder Auflösung.
Aber abdanken wollte und auflösen konnte er nicht; die öffentliche Meinung war gegen das Ausnahmegesetz, ebenso wie fie gegen die Steuerprojekte des Fürsten Bismard war, denen er seine vorherige Niederlage im Reichstage verdankt hatte. Da trachten einige Tage später, am 2. Juni, unter den Linden
-
-
wiederum die Schrotbüchsenschüsse des Dr. Nobiling.
Unter normalen Verhältnissen würde diese wahnsinnige That, zumal bei der Schnelligkeit, mit welcher fie auf den Streich HödelLehmann folgte, schon eine bedeutende Aufregung hervorgebracht, Besorgnisse ei weckt, Leidenschaften aufgeftachelt haben.
Durch die in offiziöses, ja theilweise in offizielles Gewand sich hüllende Lüge, daß der notorisch nationalliberale Dr. Nobiling
der sozialdemokratischen Mitglieder des Mitglieder des ein Sozialdemokrat sei, daß ſeine That der Ausfluß einer ſozialdeutschen Reichstages.
Wähler! Parteigenossen!
Durch das Ausnahmegeseß, welches die deutsche Sozialdemo fratie außerhalb des gemcinen Rechts gestellt hat, ist es uns unmöglich gemacht geworden, Euch in öffentlichen Versammlungen Bericht über unsere Thätigkeit und Stellung im Reichstag zu erstatten; wir sehen uns daher genöthigt, unserer Pflicht hiermit durch diesen schriftlichen Rechenschaftsbericht zu genügen.
Wir müssen in unserem Bericht hinter die gegenwärtige Legislaturperiode zurückgreifen.
Als am 11. Mai vorigen Jahres der Halbidiot Hödel- Lehmann unter den Linden in Berlin die bekannten Revolverschüsse abfeuerte, wurde es durch die Haltung gewiffer Zeitungen und durch verschiedene hier nicht näher zu bezeichnende Vorkommnisse sofort klar, daß die Reichsregierung, welche unmittelbar vor:
-
her mit ihren Steuerprojekten Seitens der liberalen Majorität im Reichstag eine schwere Niederlage erlitten hatte,- der reak tionären Tradition folgend, aus jener That den Ausgangspunkt einer Politik der Reaktion zu machen beabsichtigte.
Und richtig: wenige Tage nachher wurde dem Reichstag der, unter dem Namen„ Hödelgesetz" historisch gewordene Gesetzesentwurf vorgelegt, welcher die deutsche Sozialdemokratie als die fortgeschrittenste, folgerichtigste und zielbewußteste der Oppositions parteien, an Händen und Füßen geknebelt, der Polizei auf Gnade und Ungnade überliefern sollte.
Die Urheber dieses Geseßentwurfes hatten sich indeß verrechnet. Trotz der Hetzereien eines gewissen Theiles der Presse blieb die öffentliche Meinung dem geplanten Ausnahmegesetz abgeneigt und die liberalen Parteien beschlossen einmüthig, dasselbe zurückzuweis sen. Unter solchen Umständen erachteten es die sozialdemokratischen Abgeordneten für das Rathsamste im Interesse der Partei, sich von den Debatten über den Gesetzesentwurf fernzuhalten, und nur eine kurze Erklärung abzugeben, die also lautete: „ Erklärung der sozialdemokratischen Reichstags= Abgeordneten.
" Der Versuch, die That eines Wahnwißigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung geschlossen ist, zur Ausführung eines lang vorbereiteten Reaktionsstreichs zu benutzen und die ,, moralische Urheberschaft" des noch unerwiesenen Mordattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwälzen, welche den Mord in jeder Form verurtheilt und die wirthschaftliche
demokratischen Verschwörung, und daß er Geständnisse in diesem Sinne gemacht; durch die von ehrlosen Subjekten und gedankenlosen Nachbetern Tag für Tag in hunderten und in tausenden von Zeitungen kolportirten Verläumdungen gegen die Sozialdemokratie; durch massenhafte Haussuchungen und Verhaftungen wurde das ohnehin tiefbewegte Bolksgemüth bis zur Unzurechnungsfähigkeit aufgeregt.
•
Und ble liberale Presse, statt die ihrer eigenen Partei drohende Gefahr zu bemerken, und zu ruhiger, kühler Erwägung zu mahnen, half in toller Verblendung und aus kin dischem Haß gegen die Sozialdemokratie das Fenter noch schüren.
Das Eisen war zur Weißgluth erhitzt: es konnte geschmiedet werden.
Am 10. Juni löste Fürst Bismard den Reichstag auf. Das hätte die Liberalen zur Vernunft bringen müssen. Der Sozialdemokratie konnte die Auflösung nicht gelten. Seit dem Attentat Nobiling's hatte die nationalliberale Partei in Bezug auf das Ausnahmegesetz eine vollkommene Frontver= änderung exekutirt: sie war bereit, das Hödelgesetz zu bewilligen und, wenn es verlangt wurde, noch mehr. Und diese Bereitwilligkeit, die von allen Dächern herab ausposaunt wurde, war für Niemanden ein Geheimniß, am wenigsten für den Fürsten Bismarck. Die Ermöglichung eines die Sozialdemokratie ächtenden Ausnahmegesetzes konnte also nicht der Zweck der Auflösung sein.
Um den wahren Zweck zu erkennen, brauchte man blos mit offenen Augen um sich zu blicken. Die Anforderungen des Militarismus hatten sich Dank der tödtlichen Konkurrenz mit Frankreich , Rußland und Desterreich-- derart gesteigert, daß das Armeebudget, kolossal wie es ist, nicht mehr ausreichte und dem Volk neue Geldopfer zugemuthet werden mußten.
Nun hätte zwar der Libe: alismus in seiner kindischen Angst vor der Sozialdemokratie gern in jede Vermehrung unseres Heeres gewilligt, wenn Fürst Bismarck nicht die dazu nöthigen Mittel durch eine Zoll- und Wirthschaftspolitik hätte aufbringen wollen, die mit den wirthschaftlichen Anschauungen und Interessen eines großen Theiles der Liberalen nicht im Einklang war. Das Reichseisenbahnsystem und das Tabaks monopol- die beiden Lieblingspläne des Fürsten Bismarck- standen im Widerspruch mit den liberalen und freihändlerischen Fundamental: dogmen der freien Konkurrenz, des laissez faire, laissez aller, der absoluten Ausschließung des Staats von Industrie, Gewerbe und Handelsbetrieb, welcher nach dem liberalen Manchester - Credo das Monopol der Privatspekulation sein soll.
Und nicht minder schroff stand diesen Fundamentaldogmen der Plan des Fürsten Bismarck gegenüber, den internationalen Verkehr durch Schutzölle zu hemmen, die angeblich oder vermeintlich der heimischen Industrie aufhelfen sollten, und ferner dem Verfall des nationalen Handwerks durch rückläufige ZunftExperimente zu steuern.
Zum Behuf der Durchführung dieser sogenannten Wirthschaftsund Steuerreform mußte der Liberalismus gebrochen und aus der Gesetzgebung oder doch aus seiner dominirenden Stellung in der Gesetzgebung verdrängt werden.
Wer das erwägt, kann
-
auch wenn er das famose:„ Sie sollen an die Wand gedrückt werden, daß sie quietschen!" vergeffen haben sollte keinen Moment darüber in Zweifel sein, daß die Auflösung sich nur zum Schein gegen die Sozialdemokratie, in Wirklichkeit aber gegen den Liberalismus richtete.
Es hieße die Urtheilskraft der Nationalliberalen doch allzu niedrig anschlagen, wollten wir behaupten, sie hätten dies nicht begriffen. Allein in ihrer unglaublichen Kurzsichtigkeit und Verblendung bildeten sie sich ein, die ihnen drohende Gefahr dadurch abzuwenden, daß sie sich mit verdoppelter Wuth auf die ihnen verhaßte Sozialdemokratie warfen und die reaktionäre Reptilpresse an gemeiner Denunziations- und Verläumdungssucht noch übertrafen. Sie sahen nicht, oder wollten nicht sehen, daß in der Sozialdemokratie nur die konsequenteste und deshalb der Reaktion unbequemste Vorfämpferin der politischen Freiheit von der Reaktion angefeindet, und daß durch Aechtung der Sozialdemokratie Bresche in den Liberalismus geschossen wurde. Die selbstmörderische Taktik fand den verdienten Lohn. Während die ge= ächtete Sozialdemokratie, ohne auch nur ein Titelchen ihrer Prinzipien zu verläugnen, furchtlos vor den Richterstuhl des Volkes trat, und, den unerhörten Anstrengungen der vereinten Gegner zum Trotz, als moralische Siegerin aus dem Wahlkampfe hervorging, wurde die nationalliberale Partei moralisch vernichtet. Stück um Stück warf sie, was ihr noch von Prinzipien geblieben war, der reaktionären Meute hin, um sich zu retten, und was sie erreichte, war: der Verlust zahlreicher Sitze, die Zersprengung der Partei, der politische Bankerott.
Die Sozialdemokraten, die im aufgelösten Reichstage zwölf Abgeordnete gehabt hatten, entsandten in den neuen Reichstag blos neun ein Rückgang der Zahl nach, wenn aber die damaligen Verhältnisse in's Auge gefaßt werden, ein außerordentlich günstiges Resultat. Man bedenke: Die öffentliche Meinung gegen uns auf's Furchtbarste verhetzt; jeder Sozialdemokrat in den Augen der gedankenlosen, fanatisirten Masse mit dem Kainszeichen des Meuchelmordes behaftet; die Portei vogelfrei erflärt; ein an die verderbtesten Zeiten des faulenden Römerreiches erinnerndes Denunziantenthum Tag und Nacht an der Arbeit; die Epidemie der Majestätsbeleidigungsprozesse mit unerhört hohen Strafen meist für Aeußerungen, die in gewöhnlichen gesunden Zeiten nicht gethan oder wenigstens nicht beachtet wor den wären; schamlose Aufreizungen zu Gewaltthätigkeiten gegen uns; die Sozialdemokraten aus der Arbeit gejagt, zum Hunger, wo möglich zum Hungertod verurtheilt; in den meisten Staaten Teutschlands keine sozialdemokratischen Wahlversammlungen ge stattet, oder durch Beeinflussung der Wirthe indirekt verhindert; die sozialdemokratischen Führer" und„ Agitatoren" zum Theil verhaftet oder jeden Moment mit Verhaftung bedroht kurz, eine vollendete Schreckensherrschaft, der dieser Tage durch richterliches Urtheil( Prozeß Jahn vor dem Hofgericht zu Darm stadt am 1. September d J.) das Brandmal der Schande aufgedrückt worden ist, indem dieses Urtheil die in einem sozialdemokratischen Wahlflugblatt zur Charakterisirung jener schmachvollen, ihren Tacitus erwartenden Epoche tiefster Erniedrigung Deutsch lands gebrauchten Ausdrücke als berechtigt anerkannte.
-
Und obgleich Alles gegen uns war, und wir allein standen mit unserm guten Recht, hatten wir überall da, wo wir unsere Kräfte entfalteten, insbesondere in Sachsen , Berlin , Breslau , Hamburg , Leipzig , Nürnberg , München und andern Großstädten mehr Stimmen zu verzeichnen, als bei der vorhergegangenen, unter normalen Bedingungen vollzogenen Wahl. Hätten wir unter solchen Umständen nur einen einzigen Kandidaten durchgebracht, so wäre es schon ein Erfolg gewesen, und wir errangen neun Size! Die Gegner bezeugten durch ihre fast komische Verblüfftheit unwillkürlich die Bedeutung unseres Triumpfes sie hatten mit Bestimmtheit darauf gerechnet, daß kein sozialdemokratischer Abgeordneter die reaktionäre Harmonie des neuen Reichstages stören würde.
-
Im Herbst wurde der Reichstag zu einer außerordentlichen Session berufen, in welcher die von der Reichsregierung zum Auflösungszweck erklärte„ Schutzmaßregel gegen die gemein gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" erledigt, und fur die weiteren Pläne des Fürsten Bismarck die Bahn frei gemacht werden sollte.
Ungeachtet der in Wählerversammlungen feierlich abgegebenen Versicherung nationalliberaler Wortführer, daß sie um keinen Preis einem Ausnahmegesetz zustimmen würden, war es für jeden, der