man mich mündlich und schriftlich Staatsverbrecher", ohne mir zu sagen, worin mein Verbrechen bestehe.

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Diese oder ähnliche Gedanken erfüllen jeden auf administrativem Wege Deportirten, gegenwärtig also sehr viele russische Bürger, resp. Unter­thanen. Dieses düstere Unbekannte, Unbestimmte, das ewige: Was bleibt mir im Leben noch übrig?" verläßt den Verbannten keinen Augenblick, nagt beständig an seinem fummervollen Dasein, martert ihn, läßt ihm teine Ruhe, macht ihn für jede geistige Thätigkeit unfähig, sogar das Versinken in einen lethargischen Zustand ist ihm unmöglich.

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Wen kann es da Wunder nehmen, daß eine große Anzahl der Ver­bannten, die auf solche Weise psychopathisch( trübfinnig) gemacht werden, sich vergiften, ertränken oder erhängen! Wer sich in einer derartigen Lage befindet, kann nicht anders, als nach irgend einem Ausweg suchen. Außer Selbstmord gibt es aber nur einen einzigen Ausweg: die Flucht! Sich zu flüchten, es komme, was da wolle!

Sollte Jemand daran vielleicht zweifeln und fragen: Ist es denn wirklich so? Denken die russischen Verbannten wirklich nur an das Flüchtigwerden? Und wenn es der Fall ist, warum sind dann so Wenige flüchtig geworden? Tausende und Abertausende von Verbannten sind in sibirischen Landen zerstreut hingeworfen worden, und doch nur einzelne, dazu meistens erfolglose Fluchtversuche?"

Dies mag aus der Ferne sonderbar erscheinen, die Sache erklärt sich aber sehr einfach dadurch, daß jedem Verbannten die Schwierigkeiten einer Flucht, die einen Erfolg geradezu ausschließen, wohlbekannt sind. Es sind dies der Mangel an jeglichen Geldmitteln, die Unkenntniß der Gegend, des ungeheuer langen und schwierigen Weges einerseits, sowie die außerordentlich strenge Aufsicht und die Hezzjagd nach jedem flüchtig Gewordenen anderseits. Dann aber weiß ein Jeder, daß seine etwaige Flucht die Verwaltungsbehörde nur aufreizen und veranlassen würde, sich an den Zurückgebliebenen zu rächen, und deren an sich schon traurige Lage noch schrecklicher zu gestalten. Nur Derjenige unternimmt daher einen Fluchtversuch, dessen Geduld und Ausdauer vollständig er­schöpft sind, oder der die Nachricht erhält, daß seiner in Zukunft noch größere Gefahren warten.

Ich war auf allerhöchsten Befehl" nach Ostsibirien deportirt worden, d. h. nicht auf Grund eines richterlichen Erkenntnisses, sondern vom Zaren selbst, fraft seiner selbstherrlichen Gewalt. Dieser allerhöchste Befehl" erfolgte Ende 1878; ich befand mich damals in Archangelsf ( nördlichste Provinz des europäischen Rußland . Red.), wohin ich zu einer Zeit verschickt worden war, da man sich noch genirte, Leute auf admini­strativem Wege nach Ostsibirien zu transportiren.

Nachdem ich den halben Weg hinter mir hatte, wurde mir plötzlich in Tomsk Halt! geboten, und ich ward in Einzelhaft gelegt. Man warf mich in einen in vier Räume abgetheilte Keller; zwei dieser Räume dienten als Leichenzimmer, während zwei für unverbesserliche oder ihre Mit­Gründe für diese gefangenen mißhandelnde Verbrecher bestimmt waren. Maßregel wurden natürlich nicht angegeben, wahrscheinlich hatte irgend ein Spürhund eine Denunziation an den Mann gebracht, und die Regie­rung gab sich der Hoffnung hin, mich auf Grund eines Richterspruches nach den Bergwerken schleppen lassen zu können. Gegen sieben Monate bereits hatte ich in diesem Keller fortvegetirt, als man mich in Gemein­schaft von 380 Mördern und Betrügern zu Fuß nach Irkutsk schickte. Der Marsch von Tomsk nach Irkutsk dauerte drei Monate. Die Nächte brachten wir in kleinen, aus einem schmutzigen Stall bestehenden Baraken, ,, Etapp" genannt, zu. Die Unzahl von Ungeziefer und die durch die Ausdünstungen so vieler Menschen verpestete Luft bewirkten es, daß die Nachtstunden statt Stunden der Erholung Stunden der Ermüdung für mich wurden, schlimmer als die Stunden des Tages. In Irkutsk mußte ich wiederum sechs Wochen Einzelhaft im Gefängniß zubringen; statt Nahrung gab man mir 15 Kopeken pro Tag, eine Summe, die gerade dazu hinreichte, zwei Pfund altgebackenen Roggenbrodes zu kaufen; die mir von Verwandten zugeschickten Gelder wurden zurüdbehalten!!

Von Irkutsk schickte man mich nach der 200 Werft entfernten, abseits der Land- und Poststraße am Flusse Angara gelegenen Stadt Balaganst. Der Name Stadt" ist durchaus nicht im europäischen Sinne zu verstehen. Balagansk ist ein Dorf von etwa 200 kleinen Häuschen, hat weder Post- noch Telegraphenstation. Es wird nur des­halb Stadt genannnt, weil es einen Ispravnik( Polizeichef), eine Polizei­abtheilung, sowie mehrere speziell zur Beaufsichtigung der Verbannten bestimmte Gensdarmen beherbergt. Die eingeborene Bevölkerung, einfache, unwissende Bauern, beschäftigt sich nur zum Theil mit Ackerbau, zum größten Theil lebt sie von der Jagd. Jedem neu ankommenden Ver­bannten wird feierlich eröffnet, daß er verpflichtet ist, sich beständig in dieser Stadt" aufzuhalten, daß er auch nicht einen Schritt aus ihrem Rayon heraus unternehmen darf, daß er ohne vorhergegangene Erlaubniß des Jspravnik weder Briefe schreiben noch erhalten, weder Zeitungen noch Bücher empfangen darf, daß ihm der Besis von Waffen untersagt ist, daß er keine Beschäftigung wählen darf, welche ihn mit der ein. heimischen Bevölkerung in irgend welche Berührung bringt, daß er aber und nun kommt das Beste von dem Vorhergehenden abgesehen ,,, vollständig frei" ist.

Wie sollte ich mir die nöthigen Lebensmittel beschaffen, auf welche Weise mich ernähren? Die menschenfreundliche Behörde liefert dem Verbannten nur gerade soviel Geld, als er für den Ankauf von Brod bedarf, sonst aber überläßt sie ihn seinem Schicksal.

Anderthalb Jahre hatte ich in Balaganst mein Dasein gefristet, als es der Behörde einfiel, mich noch weiter zu befördern, und zwar in eine in jeder Beziehung ungünstigere Gegend, nach der 300 Werst von Irkutsk entfernten, am Ufer der Lena gelegenen Stadt Wercholenst. Es war dies ein Racheakt für die gelungene Flucht eines anderen Verschickten, der ebenfalls in Balagansk detinirt war. Obwohl der Bezirksarzt bescheinigte, daß die Uebersiedelnng mir das Leben kosten könne, da ich kaum angefangen hatte, mich von einem schweren Typhus zu erholen, und außerdem an hochgradigem Skorbut litt, so wollte die Behörde doch von alledem nichts wissen, sondern sette ihren Willen ohne jede Rücksichtnahme durch. Ich war faum an meinem neuen Aufenthaltsort angelangt, als die Nachricht von der Tödtung Alexander II. eintraf; ich, sowie die übrigen Staats­Treueid verbrecher wurden von der Behörde aufgefordert, den zu leisten.

Welche Fronie! Sie nennen dich Staatsverbrecher, sie schicken dich 7000 Wer st weit zu den Wilden, sie haben dir Heimath und Familie genommen, dich einem langsamen Hungertod überliefert, und gleichzeitig sie spielen mit deinem Leben wie mit einem Balle stellen sie an dich das Ansinnen, einen Treneid zu leisten; du sollst dich eidlich verpflichten, dein Leben für deine Beiniger freiwillig zu opfern, du sollst dich selbst den Diener deines Feindes nennen! Diesen jedem Gefühl von Menschenwürde hohnsprechenden Eid fordern sie dir ab unter Androhung noch größerer Qualen im Weigerungsfalle!

Selbstverständlich wies ich den Treueid ohne Weiteres zurück! Darauf kommt nach Verlauf von einem halben Jahre der Befehl, mich 4000 Werst weiter nach Norden zu transportiren, nach Kolymsk, dem äußersten von Menschen bewohnten Orte in Nordostsibirien, jenseits des Polarkreises, wohin selbst Nordenskiöld sich nicht wagen durfte! Diese unmenschliche Maßregel nun bewog mich, unter Zustimmung und auf Wunsch meiner am Ort befindlichen Leidens­genossen, mich aus dem Joche zu befreien: Jch entfloh.

Die Behörde von Jrkutsk gerieth bei der Nachricht von meiner Flucht ganz außer Fassung, vier Jahre lang war das Opfer in ihren Händen gewesen, und nun auf einmal ein gelungener Fluchtversuch! Eine un­beschreibliche Hetjagd wurde in Szene gesetzt, hunderte von Exemplaren meiner Photographie wurden nach allen Richtungen verschickt, ein Preis Alles von 600 Rubeln dem, der mich ergreifen würde, versprochen

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vergebens, es gelang mir, allen Nachforschungen mich zu entziehen, ich entfam.

Freilich war die Rückreise nicht leicht: 7 Monate brauchte ich allein dazu, unerkannt von Irkutsk bis nach Moskau zu gelangen. Es war der Winter, ich riskirte, im Walde der Kälte zu erliegen; in Tomst, Hauptstadt von Nordsibirien, mußte ich u. A. drei Tage lang absolut ohne Nahrung zubringen, erst am vierten Tage gelang es mir, meine Mütze zu veräußern und für den Erlös Brod zu kaufen.

Die durchaus nicht uninteressanten Einzelheiten der Flucht und der Rückreise will ich vorläufig nicht näher angeben, da ich keine Luft habe, der russischen Polizei, wenn auch unfreiwillig, Dienste zu erweisen."

Verbrecher- Album. Verbrecher- Album.

Wir sehen heute einen Preis aus, nicht einen Preis auf den Kopf irgend eines Verbrechers, denn erstens find wir noch nicht so weit, zweitens dürfte der Kopf der Verbrecher, mit denen wir es zu thun haben, in den meisten Fällen nicht zu finden sein, drittens sind die Burschen mit oder ohne Kopf keinen Preis werth; und viertens können wir ihnen auch ohne Preisaussetzung die verdiente Strafe ver­abreichen, wir bieten also keinen Preis auf, sondern einen Preis für eine der Zierden unseres

Ihr

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Verbrecher Albums!

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( Sind wir nicht sehr gute und großmüthige Leute? Bedenkt Euch, nun, wir wollen heut parlamentarisch sein, und Euch nur einen Strich als Ehrentitel geben- ein Strich bedeutet etwas in guter Ge­sellschaft und unter anständigen Menschen Unnennbares, Unaussprechliches). Ein Preis für eine der Zierden unseres Verbrecher Albums, ein Preis für

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Herrn Polizeirath Holly in Halle. nein von Holly, wir bitten diejenigen Herr Polizeirath Holly Bürger um Verzeihung, die sich durch Versetzung des Herrn Polizeiraths Herr in den Bürgerstand etwa beleidigt gefunden haben sollten Herr Polizeirath von Holly weiß die Ehre, welche ihm durch Aufnahme in unser Verbrecher- Album geworden ist, so wohl zu schätzen, daß er seit einigen Wochen seine gesammte Polizeigarde und obendrein Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um den Verfasser der Skizze vom ,, Rath­hause zu Halle" in unserer Nr. 17 zu entdecken. Nicht, daß er gegen den Mann Böses im Schilde führte. Bewahre! Er läßt ihm von vorn­herein vollste Straflosigkeit zusichern( wörtlich!); aber der Album- Schreiber ist so vorzüglich in die Geheimnisse des Rath­Hauses zu Halle" eingeweiht, daß Herr von Holly keine Ruhe hat, ehe er ihn kennt, und ihm seine Bewunderung ausdrücken kann. Auf mehr und anderes ist es nicht abgesehen, das sei ausdrücklich wiederholt. Es ist das reine Interesse, an einer hübschen schriftstellerischen ja künstlerischen Leistung, und der Wunsch, ein Talent, das im Verborgenen blüht, in die Deffentlichkeit zu ziehen!

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Einzig und allein! Wer dem Herrn von Holly Hinter gedanken zutraut, thut ihm Unrecht, wie Jeder, der ihm überhaupt Gedanken zu­traut. Leider sind die Bemühungen des Herrn von Holly bisher erfolg­los geblieben, und da wir den Zierden unseres Verbrecher- Albums gern einen Freundschaftsdienst leisten, und Herrn von Holly speziell in dieser um seinen Sache behülflich sein möchten, so setzen wir ihm hiermit einen Preis von und seiner Myrmidonen Scharfsinn zu wetzen 500 in Buchstaben fünfhundert Reichsmark für Entdeckung des Verfassers der Skizze, vom Rath­haus zu Halle " aus,

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welche 500 Mark jederzeit von Herrn von Holly nach erfolgter Ent­deckung persönlich in unserer Expedition zu erheben sind.

Da er vielleicht allerlei Zweifel hat, so sichern wir ihm hiermit feier­lichst gute Behandlung zu.

Sozialpolitische Rundschau.

Zürich , 2. August 1882. Arbeits Löhne und Lebensmittel- Preise in Deutschland . Jm Auswärtigen Amte zu Washington, lesen wir in der New- Yorker Volkszeitung", ist ein Bericht des Generalkonsuls in Frankfurt eingelaufen, in welchem eine Zu sammenstellung der Löhne verschiedener Handwerker und Taglöhner in Die an dreißig verschiedenen Städten Deutschlands enthalten ist. gegebenen Zahlen ergeben, daß die Löhne in den verschiedenen Städten sehr verschieden sind, doch sind die angegebenen Lohnfäge in Süddeutsch­ land im Allgemeinen höher als in Norddeutschland, während umgekehrt die Preise der Lebensmittel in Norddeutschland höher sind als in Süd­ deutschland . Die schlechtesten Löhne und die höchsten Lebensmittelpreise sind diesem Ausweise nach in Sachsen zu finden. out

Die Durchschnitts- Wochenlöhne in den dreißig angeführten Städten find folgende:

Für Bau- Polirer( Vormänner) Doll. 4,96( Mt. 21,08), für Gesellen Doll. 3,53( M. 15.-), für Tischler Doll. 3,62( M. 15,38), für Schlosser Doll. 3,61( M. 15,34), für Schneider 3,68( M. 15,64), für Schuh­macher Doll. 3,17( M. 13,47), für Maschinisten Doll. 4,50( m. 19,12), für Maschinenweber Doll. 2,94( M. 12,49), für Wollenspinner Doll. 4,42 ( M. 18,78), für geschickte Fabritarbeiter Doll. 3,98( 16,92), fitr Garten­arbeiter Doll. 2,68( Doll. 11,39) für Feldarbeiter Doll. 2,46( M. 10,45). Demgegenüber find die durchschnittlichen Nahrungsmittelpreise: Roggen­mehl Doll. 3,60( M. 15,30), Weizenmehl Doll. 4,60( M. 19,55), Kar­toffeln 61 Cents( M. 2,59) für den Zentner, Rindfleisch 13 Cents ( 55 Pf.), Schweinefleisch 15 Cents( 64 Pf.), Hammelfleisch 12 Cents ( 51 Pf.), Speck 19 Cents( 81 Pf.) das Pfund. Miethe für zwei Zimmer und Küche pro Monat durchschnittlich Doll. 2,35( M. 9,99), für drei Zimmer und Küche Doll. 4,10( m. 17,42).

Traurig, wie diese Angaben die Lage der deutschen Lohnarbeiter er­scheinen lassen, stellen sie doch die Verhältnisse noch weit günstiger dar, als fie in Wirklichkeit sind. Die Ergebnisse der vom Reichstagsabgeord neten und Anwalt der deutschen Gewerkvereine Dr. Mar Hirsch regel­mäßig veranstalteten Lohnstatistiken der Gewerkvereine zeigen nämlich, daß der Verdienst der deutschen Arbeiter, wenn nicht in allen, so doch in vielen Geschäftszweigen noch ein beträchtlich geringerer ift. Und sie erweisen ferner, daß in den letzten Jahren die deutschen Lohn­verhältnisse sich im Ganzen nicht verbeffert, ja zum Theil verschlechtert haben.

Allerdings zeigen einige Gewerke und Orte auch Erhöhungen, diese bilden aber Ausnahmen, insofern der Lohn kein ständiger ist, sondern 3. B. im Sommer mit längerer Arbeitszeit auch höhere Löhne eintreten. Bei den Stuhlarbeitern in Suhl ist das Lohnminimum von 6 Mart auf 3-4 Mart( 72-96 Cents) wöchentlich bei durchschnittlich zwölf­stündiger Arbeitszeit herabgefunken! Aber sieht man auch von diesen Mindestbeträgen als möglicherweise nur vereinzelte Ausnahmen bildend ab, so erblicken wir in der maßgebenden Rubrik der durchschnitt­lichen Löhne mehrfach Wochen verdienste von 6. M.( Doll. 1,44); z. B. bei Fabrit und Handarbeitern, Stuhlarbeitern, Schuhmachern; M. 5,40 ( Doll. 1,30), bei Bergarbeitern und M. 5,-( Doll. 1,20) bei Fabrit

arbeitern.

Man vergegenwärtige fich, was Arbeiterfamilien für solche Löhne, die oft nicht einmal das ganze Jahr hindurch eingenommen werden, sich an nothwendigen Lebensmitteln anschaffen können! In der Unfallversicherungs­vorlage der deutschen Regierung ist ein Jahres- Durchschnitts­

lohn der deutschen gewerblichen Arbeiter von 750 M.( 180 Doll.) an­genommen und erklärt, daß ein solcher Lohn nur ausreiche zur Bestreitung der nothwendigen Lebensbedürfnisse. Fünf, bezw. sechs Mark Wochenlohn machen aber selbst bei voller Beschäftigung das ganze Jahr hindurch nur 260, bezw. 312 Mart, also noch lange nicht die Hälfte des angeblichen Durchschnittsverdienstes.

Welche Nothlage spricht sich in diesen Ziffern aus! Sie machen es begreiflich, daß die Auswanderung aus Deutschland immer größer wird und lassen keinen Zweifel darüber, daß sie noch viel stärker sein würde, wenn nicht der geringe Verdienst es der großen Masse der Arbeiter un­möglich machte, die erforderlichen Reisekosten zu erschwingen.

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Wo wandert der Nationalreichthum hin? In un­serer vorigen Nummer haben wir diese Frage an der Hand der preußi­schen Steuerliften beantwortet. Heute liegen uns einige Zahlen aus der sächsischen Steuerstatistik vor, welche die Frage zwar nicht direkt beantworten, welche aber, mit bekannten Thatsachen zusammengehalten, für jeden, der hören will, eine nicht minder vernehmbare Sprache führen.

Während es bekannt ist, und erst im letzten Jahre in verschiedenen sächsischen Distrikten offiziell konstatirt wurde, daß die Lage des in­dustriellen Proletariats in Sachsen von Jahr zu Jahr eine schlech= tere geworden ist, erweisen, wie die konservativen ,, Dresdener Nach­richten" triumphirend melden, die sächsischen Steuerlisten, daß das Ge­sammteinkommen im Königreich Sachsen um 972 Millionen Mart gestiegen sei. Das bedeutet im Durchschnitt," setzt das Or­gan des Herrn Bierey hinzu, auf den Kopf der Bevölkerung alljährlich 40 Mark; die Familie, zu fünf Köpfen angenommen, hat also jett 200 Marfim Jahre mehr zu verzehren, als vor vier Jahren."

Schamloser hat wohl noch nie ein Blatt das Volk angelogen, als dieses edle Partikularistenorgan. Demselben Volke, dessen Elend sprüch­wörtlich geworden, bei dem der Nothstand Regel, der Hunger ein all­täglicher Gast ist, für das noch im vergangenen Jahre die Sammelbüchse geschwungen werden mußte, wagt es ins Gesicht von einer Besserung zu prahlen, die allerdings hätte stattfinden sollen, die aber nicht stattgefunden hat. Ja, die Steigerung des Nationalreichthums hat stattgefunden, aber der ganze Mehrertrag ist in die Tasche der Herren Ausbeuter ge wandert, die Schutzzölle haben die Kassen der Herren Fabrikanten bereichert, und das Volk hat das Nachsehen. Und wie zum Hohn fährt der Sykophant der Ausbeutergesellschaft nach der obigen direkten Unwahrheit folgendermaßen fort:

" Jenes Ergebniß der Einkommensteuer aber stellt dem sächsischen Volke auf's Neue ein glänzendes Zeugniß seiner Veranlagung aus. Wir Sachsen sind nicht eben blos gemüthlich"; Fleiß, Ar­beitsamteit, Genügsamkeit, Sparsamkeit, eine nimmer rastende Energie sind nicht minder hervor­ragende Eigenschaften unseres Volkes. Wie sauer ist nicht die Mehrzahl jener Million dem arbeitenden Volke geworden. Wie viel Schweiß flebt an ihnen! Ja wohl, Herr Bierey, wie sauer sind jene Millionen dem arbeitenden Bolke geworden! Und nicht nur wie viel Schweiß, auch wie viel Blut, wie viel vernichtete Menschenleben, wie viele zerrüttete Gesundheiten fleben an ihnen! Und von all' diesen sauer erarbeiteten Millionen hat das arbeitende Volt nichts zu sehen bekommen, seine Lage hat sich ver­schlechtert, die 200 Mark pro Familie sind ihm wegeskamotirt worden, während es hungert und darbt. Der Nationalreichthum ist gestiegen, aber seine ganze Vermehrung ist in die Taschen der Reichen gewandert, während die Armen noch ärmer geworden sind.

Wenn die Herrschaften doch noch soviel Scham hätten, öffentlich davon zu schweigen und nur in vertrautem Freundeskreise sich begeistert auf die satten Bäuche zu klopfen! Aber so sehr ist ihnen der Kamm geschwollen, so haben sie es verstanden, das Volk abzurackern, daß sie sich auf offenem Markte ihres Raubes brüsten und das hungernde Arbeitsthier mit den Schmeichelworten: Braves Arbeitsthier, bist ,, g en it g sam, sparsam" und haft eine ,, nimmer rastende Energie!" abfüttern, ihm eine volle Krippe vorfügen dürfen.

Treibt's nur so weiter! Auch die Geduld des Geduldigsten nimmt einmal ein Ende.

- Die Sozialdemokratie und die egyptische Frage. Der Feldzug der Räuber gegen die Beraubten, wie wir die im Inter­effe der goldenen Internationale unternommene egyptische Expedition Englands nannten, hat zwar die Billigung des europäischen Konzerts", d. h. der verschiedenen Regierungen erfahren, dagegen sind die Völker ebenso einstimmig in der Verwerfung desselben. Die Arbeiterpreffe aller Länder ist in der Verurtheilung der brutalen Unterdrückung eines seiner Bedrücker sich erwehrenden Volkes durchaus einig, und wo es ihnen möglich ist, erheben die Arbeiter ihre Stimme, um gegen die im Namen der Zivilisation" verübten Barbareien zu protestiren.

Den Anfang machten diesmal die sonst so bedächtigen englischen Ar­beiter. Mehr als hundert Arbeitervereine haben gegen den allen Grund­sätzen der Menschlichkeit hohnsprechenden Unterdrückungskrieg ihrer libe­ralen" Regierung Protest eingelegt. Sie, deren nationalen Sinn die Bourgeoisiepreffe so gern hervorhebt, haben gezeigt, daß sie von jenem falschen Patriotismus, der jede Infamie gutheißt, die im Namen der eigenen Nationalität unternommen wird, nichts wissen wollen, daß sie mit den egoistischen Bestrebungen der englischen Ausbeuter nichts gemein haben.

1190

Ihnen folgten unsere französischen Genossen. In Paris fanden am 29. und 30. Juli zwei große Meetings statt, deren Tagesordnung die Stellung der Sozialisten zur egyptischen Frage bildete, das eine organi­sirt von den sogenannten ,, Guesdisten", unter der Mitwirkung von Louise Michel , das andere unter der Mitwirkung des Deputirten Clovis Hughes von dem Föderativverband( für Mittelfrankreich) der Arbeiter­partei. Bagi zdi mplay

Auf dem ersteren Meeting, das nach dem Citoyen" von mehr als 3000 Personen besucht war, wurden, nachdem Paul Lafargue , Jules Guesde , Louise Michel und Andere gesprochen, vier Resolutionen angenommen, die wir ihrer prinzipiellen Bedeutung halber hiermit im Auszug folgen laffen.

Die erste Resolution führt aus, daß es lediglich das Frankreich der Ausbeuterklasse sei, nicht aber das in Stadt und Land arbeitende Frank­ reich , welches in Egypten Interessen zu wahren habe, daß wenn die fran­ zösische Kolonie in Egypten sich habe flüchten müffen, dies die Folge der anglo- französischen Kontrole sei, die in Wahrheit nur eine organisirte Beutelschneiderei der europäischen Geldhändler am egyptischen Volke ge­wesen ist; daß eine bewaffnete Intervention zu Gunsten der Roth­ schilds und anderer Wucherer des Khedive nur Beihilfe zur Straßen­räuberei wäre; und demgemäß erklären die Versammelten, daß sie 1) sich den Protesten der englischen und italienischen Arbeiter gegen das ebenso feige wie grausame Bombardement Alexandriens anschließen; und 2) jede be­waffnete Intervention von Seite der französischen Republik verdammen, da sie nichts wäre als ein Vergießen von Proletarierblut im Dienste des hohen französischen Strauchritterthums.

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Die zweite Resolution verwirft im Allgemeinen die von der Bour­geoisie im Interesse der Ausbeutung oder der Finanz angezettelten Kriege, die wenn fie fich gegen kleine Länder richten, nichts seien, als die orga­nisirte Wegelagerei, fowie, da die Bourgeoisie immer mehr darauf ausgehe, den nationalen Diebstahl durch den internationalen zu vermehren, im Besonderen die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Die dritte Resolution erklärt zunächst, daß die Nationalpartei, welche fich in Egypten gebildet hat, einer Phase entspricht, welche alle Völker auf ihrem Entwickelungsgange durchmachen müssen; daß die Forderung