jammer. Das Ministerium Bismarck half die Gegen säze verschärfen, und hier zeigte sich, bis zu welcher Feindseligkeit sich auch die Bourgeoisie versteigen kann, wenn man ihren dringendsten, nothwendigsten Forderungen entgegentritt, ihre Interessen schädigt.
Obgleich man in der Kammer immer noch das Deforum gegenüber der Krone wahrte, hatte sich allmälig ein furchtbarer Haß nicht nur gegen Bismarck , sondern auch gegen den Träger der Krone, den jetzigen Kaiser, ausgebildet. Hatte dieser doch alle Anträge und Beschlüsse der Kammer zurückgewiesen und wiederholt und in der entschiedensten Weise seine Zufriedenheit und Uebereinstimmung mit dem Ministerium Bismard fundgethan.
Man war außer sich, Schimpfworte, die stärksten Drohungen, ausgestoßen im vertrauten Kreise, zeigten das Maaß des Haffes an. Noch deutlicher that fich jener Zorn und Haß jenseits der schwarz- weißen Grenzpfähle kund, wo die Presse freier war und kleinstaatlicher Partikularismus, der Haß gegen das gefürchtete Preußen, dessen Appetit nach Land und Leuten man zu gut tannte, der Preßfreiheit ein weites Maß gestattete. Was damals in Zeitungsartikeln, Broschüren und Karrikaturen gegen den Träger der Krone und das Ministerium Bismarck geleistet wurde, erscheint heute in Deutschland kaum glaublich. Eine halb so starte Sprache würde heute genügen, die schwersten Strafen des Kriminalstrafgesetzbuchs auf den Sünder herabzuziehen.
Sprach doch damals Herr Miquel, der jetzige Oberbürgermeister von Frankfurt und Mitglied des Herrenhauses, in einer Generalversammlung des Nationalvereins zu Leipzig gegen einen größeren Kreis der ihn Umgebenden die Drohung aus: wenn man in Berlin nicht bald nachgebe, werde man die Arbeiter aufrufen, und dann sei es um die Köpfe der Herren in Berlin geschehen.*)
Der König, jezige Kaiser, war selbst allmälig in Folge all' der Angriffe einer Aufregung verfallen, daß er Halluzinationen hatte und, auf das in der Nähe seines Palais stehende, Denkmal Friedrich's des Großen zeigend, seiner Umgebung zurief, ob sie denn nicht sehe, daß man dort das Schaffot aufbaue, auf dem er und seine Familie enden sollen.
Auch Fürst Bismarck hat noch vor einem Jahre im Reichstag es ausgesprochen, daß er damals, sich als pater familias ( Familienvater) fühlend, sein kleines Vermögen in Sicherheit gebracht**) habe, weil er das Schicksal Strafford's befürchtete.
So sah es vor 1866 in Deutschland mit der Loyalität der Bourgeoisie aus. Von all' den Loyalitäts- und Ehrfurchtsbezeugungen, die sich heute bei dem geringsten Anlaß in der widerlichsten Weise wiederholen, bei fürstlichen Geburtstagen und Namensfesten, Heirathen, Geburten, Todesfällen, bei Reisen, Manövern, Paraden, Jagden 2c. war keine Spur vorhanden. Man konnte lange suchen, bis man das Bild oder die Photographie eines Landesvaters" fand, es sei denn als Karrikatur.
"
Das Blättchen hat sich 1866 gewendet, und mit Recht. Die Niederwerfung und Ausschließung Desterreichs aus Deutschland , die Gründung des Norddeutschen Bundes , dessen Erweiterung auf die süddeutschen Staaten zum jetzigen deutschen Reich nur eine Frage der Zeit war, hatte den Wünschen der Bourgeoisie zwar eine nicht erwartete, aber darum nicht minder willkommene Lösung gegeben. Es wurde der Pakt zwischen Regierung und Bourgeoiste geschloffen, die Regierung betam plein pouvoir ( volle Machtbefugniß) in allen politischen und militärischen Fragen, die Bourgeoisie die vollste Freiheit für die Ausnutzung ihrer Interessen. Die ganze Sozialgesetzgebung des deutschen Reiches trägt diesen Stempel auf der Stirn. Die Bourgeoisie hat sich gewaltig wohl dabei befunden und machte Fortschritte in ihrer Entwicklung wie nie zuvor.
Nur Eines störte sie: der verfluchte Travailleur, der jetzt auftrat und die impertinente Frage stellte: Und wo bleibe ich? Von da an ihre steigende Sorge und Angst. Tas systematische, stetige Wachsthum der Sozialdemokratie bei jeder neuen Wahl lag ihr wie ein Alp auf der Brust, trieb ihr den Schreck in alle Glieder. Denn die Bourgeoisie ist von Natur feig; sie ist sich ihres Ursprungs und der Ursache ihrer sozialen Macht wohl bewußt und kennt ihre schwachen Seiten sehr gut. Jede Unruhe und Gefahr, die das Geschäft stört und die Kurse in's Wanken bringt, ist ihr ein Greuel.
War sie also schon geneigt, sich dem Königthum für die ihr geleisteten Dienste dankbar zu erweisen, so wurde jetzt zur Nothwendigkeit, dies in möglichst demonstrativer Weise zu thun, um die Aufmerksamkeit der Massen gewaltsam nach jener Seite zu lenten und von der Sozialdemokratie abzuziehen.
So begann denn seit 1866, und in weit höherem Grade noch seit 1870, jener Kankan der Loyalitätsbezeugungen, der sich in den verschiedensten Formen bei der geringsten Veranlassung, sich selbst übertreibend, überall zeigt.
Die mit dem Jahre 1871 sich einstellende Prosperitätsperiode mußte als das flar gewollte und selbst erzeugte Resultat kaiserlichen Wohlwollens für das Volk herhalten und wurde, fruftifizirt". Es begannen alle jene seitdem im Uebermaß erlebten Loyalitätsbezeugungen, die in dem Beinamen der Heldengreis", der Heldenkaiser", der das„ Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte" gegründet, zunächst ihren schwächsten Ausdruck fanden, dann aber bei der Feier der Ruhmestage, wie Gründung des deutschen Reiches und Sedan , bei den Geburtstagen, den Hochzeiten und Geburten, bei den Todesfällen, bei Badereisen, Manövern, Paraden, Jagden, dann Besuch von Ausstellungen 2c. ihre widerlichsten Formen annahmen. Es regnete bei all' diesen Gelegenheiten Deputationen, Geschenfe, festliche Aufzüge und Triumphbogen, servile Ansprachen, Hochrufe, Telegramme, Adressen, Widmungsgedichte, Toaste bei den Hunderten von Festessen, deren Wortlaut dann die loyale Presse dem Volte in extenso eifrigst mittheilt, da es selbst von dem Genuß der vollen Schüsseln und Flaschen ausgeschlossen ist.
Die Joolatrie( Gößendienst) mit dem Reichsoberhaupt übertrug sich auch auf die Familie. Jedes kleine Familienereigniß ward zu einem ,, Nationalereigniß" aufgebauscht, an dem das gesammte deutsche Bolt von den Palästen bis zur Hütte den innigsten Antheil nimmt." Bilder und Photographien von den Häuptern bis hinab zum tleinsten Säugling oft fich recht lächerlich ansnehmend wurden in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet. Aber da diese Anbetung der Zentralsonne und ihrer Nebensonnen die Planeten zweiter bis fünfter Größe im deutschen Reiche leicht in Schatten stellen konnte, so sorgte die liberale Bourgeoisie dafür, daß auch diese nicht zu kurz tamen.
Seitdem wurde jeder ,, Landesvater" und jedes„ Duodez- Landesväterchen" auf den noch übrig gebliebenen achtzehn deutschen Thronen, wenn nicht zu einem Gott, so doch zu einem Halbgott gestempelt. Alle, alle find Muster von Tugenden: Alle, Alle treue Ehegatten( Wer lacht da!) gute Familienväter, Ausbunde von Frömmigkeit, Genies an Verstand und Weisheit. Alle arbeiten mühselig von früh bis spät und sinnen Tag und Nacht darauf, wie sie ihrem Volt am besten Frieden, Wohlstand, Glückseligteit bereiten tönnen. Die meisten dieser armen Fürsten fingen an zu begreifen, daß sie bei dieser guten Meinung einigermaßen thun müßten, als sei fie begründet, dé
*) Herr Miquel war zu Anfang der fünfziger Jahre neben Mary und Engels Mitglied des Kommunisten bundes, und sind noch recht interessante Briefe von ihm aus jener Zeit in London vorhanden. Der Kommunistenbund hat überhaupt dem deutschen Reiche verschiedene Oberbürgermeister geliefert, so neben Miquel den verstorbenen Oberbürger meister von Mainz , Wallau , und den jetzigen Oberbürgermeister von Köln , Dr. Becker( der rothe Becker" genannt), Letzterer wie Miquel Mitglied des Herrenhauses.
**) Das„ Kleine Vermögen" des damaligen Junkers Bismarck ist mittlerweile zu einem Vermögen des Fürsten Bismarck von ca. 30 Miltionen angeschwollen.
daß es nicht genüge, fich blos für Soldaten, schöne Pferde, schöne Frauen, Ballet und Jagd zu intereffiren, sondern auch für Kunst, Wissenschaft, gewerbliche Entwickelung 2c.
Man vertheilte also Orden, Titel, Würden, hinwieder auch ein paar Stipendien, man unternimmt allergnädigst das Protektorat von allerlei Ausstellungen und besucht auch ab und zu dieselben, indem man, wie bei einer Parade, an den aufgestellten Gegenständen vorbeidefilirt. Leider find die Gegenstände keine Soldaten, die man selbst defiliren laffen kann. Das wäre bequemer. Schließlich nimmt man nach diesen Strapazen ein feines Dejeuner oder dergleichen, spricht ein paar janerkennende Phrasen, und die Bourgeoisie ist vor Wonne im fiebenten Himmel. Sie thut weni gftens so. Die Presse stimmt ein Hofiannah an über das warme lebhafte Intereffe Jhrer föniglichen Majestäten" oder„ königlichen Hoheiten", jede noch so unbedeutende Aeußerung wird als ganz besonderen Weisheitsspruch verbreitet.
Ist das nicht widerlich? Sicher! Und den hohen Herren mag es manchmal selbst ekelhaft vorkommen, sich immer mit denselben nichtigen Phrasen anreden, anhochen, anfingen zu lassen und ebenso nichtig hohl und leer darauf zu antworten.
Aber dergleichen ist heute eine wichtige Regierungshandlung, das fühlen Fürst und Bourgeoifte, und daher dieser ewige Eifer, diese Unermüdlichkeit, wenigstens alle vier Wochen einmal einen größeren Pomp in Szene zu setzen. Man muß sich in unserer schnelllebigen Zeit dem Volk immer wieder ins Gedächtniß rufen, damit es steht, daß sein Landesvater noch vorhanden ist und sich für es aufopfert".
-
Wir leben nicht bloß in einer raschlebigen, leicht vergessenden, sondern auch in einer rebellisch machenden Zeit. Die Bourgeoisie mag schwelgen, nach Titel, Orden, Adelsdiplomen jagen die Baronifirungen von Jpig's und Hirsch's mehren sich in einer fast unanständigen Weise und diskreditiren den armen alten Adel auf's ärgste, Geheime Kommerzien- und Kommissionsräthe, Menschen mit gefülltem Bentel, aber meist hohlem Kopf und dem faulsten Charakter, find zahlreich wie die Hunde auf der Straße- das arbeitende Volk darbt, darbt täglich mehr. Progressiv wie das Wachsthum des Reichthums auf der einen Seite, ist das Wachsthum von Armuth auf der anderen. Und der loyalste Magen fnurrt, wenn er Hunger hat, und hungrige Mägen gibt's bald in allen Schichten. Nicht bloß in der Arbeiterklasse, bei unseren Gewerbtreibenden, Beamtenschichten, in den Kreisen der Intelligenz. Wir haben nicht blos Ueberproduktion an Waaren, leberproduktion" an Arbeiterhänden, an Handwerkern, Händlern, Kleinbauern, wir haben auch Ueberproduktion an Intelligenz". Die deutsche Jugend, welche die sogenannten höheren Berufe sich erwählte, weiß nicht mehr, wo ankommen, so übersetzt sind alle Fächer und Zweige. Die Rebellion dringt bis in die höheren bürgerlichen Familien, in die Bureaukratie. Alle rufen nach Hilfe und wissen nicht woher und wie. Die lächerlichsten und wirkungslosesten Vorschläge jagen sich.
Nun gut, das ist die rechte Atmosphäre, wo die Sucht nach Neuerung gedeiht. Die Sucht wird Sehnsucht, unwiderstehliches Verlangen. Der Augenblick naht, wo die Eierschale der alten Gesellschaft gesprengt wird, wo weder Religion noch Loyalität das Berlangen nach menschenwürdiger Existenz, nach freier Entfaltung des Menschenwesens zurückzuhalten vermag. Können Gottesgnadenthum und Kirche im Verein mit der Bourgeoisie nicht Wunder verrichten, dann sind sie in Bälde verloren. Und die Zeit der Wunder ist vorbei.
So rettet also die Bourgeoisie weder ihre Frömmigkeit" noch ihre „ Loyalität“.
Ecrasons l'infame! Vernichten wir die Infame!
Soziale Skizzen aus Deutschland .
Aus einem Sachsen- Altenburgischen Aderbaudorfe. Mitten im deutschen Reiche liegt ein Ländchen, das wohl infolge seines guten Bodens und seiner zweckmäßigen Bewirthschaftung zu den geseg netsten Deutschlands gehört. Hier blüht Ackerbau und Viehzucht, und die großen, rings von Gebäuden umgebenen Bauernhöfe laffen auf einen ziemlichen Wohlstand der Eigenthümer schließen. Dort verkünden die hohen Schornsteine, daß es an Fabriken nicht mangelt, während die schwarzen, hohlwangigen Arbeiter in der Gegend von Meuselwitz den " Segen" des Bergbaues verrathen. Dieses Ländchen ist das Herzogthum Sachsen Altenburg, in deffen Ostkreis man die angeführten Produkte vorzugsweise findet, während aus dem Westkreis alljährlich hunderte von Männern hinaus in die Welt ziehen, ihre in der Heimath gefertigten Spielwaaren, Leitern, Backmulden, Rechen u. dergl. an den Maun zu bringen.
Der heutige Bericht soll die Leser des„ Sozialdemokrat" nun hauptsächlich mit den Verhältnissen der Dorsbewohner des Ostkreises beschäftigen. Wie überall, so ist auch hier Ausbeutung, Bevormundung und Klassenhaß an der Tagesordnung. Ja vielen der nahe bei einander liegenden Dörfer befindet sich neben den Bauernhöfen noch ein sehr großes Rittergut, dessen Besitzer gleichzeitig Amtsvorsteher, Schiedsrichter und mitunter auch Standesbeamter ist. Diese Rittergutsbesitzer beschäftigen nun einen großen Theil der ganz befitlofen oder mit einem Häuschen versehenen Handarbeiter der Gemeinde, welche im Winter bei täglich 10ftündiger Arbeitszeit Mt. 1. 20, im Sommer bei 12stündiger Arbeitszeit Mt. 1. 50 erhalten, während die Frauen, die in sehr großer Zahl auf diesen Gütern beschäftigt find, sich in derselben Zeit mit 60 bis 70 Pfg. begnügen müssen.
Doch kommt es auch häufig vor, daß Familienväter bei den Bauern dreschen und sonstige Handarbeit verrichten und einschließlich Kost nur 3-4 Mart wöchentlich erhalten. Die meisten dieser Arbeiter haben sich nun so an ihre gedrückte Lage gewöhnt, daß fie glauben, es sei gar nicht möglich, daß sie jemals ihren rechtmäßigen Antheil an den von ihnen erzeugten Reichthümern genießen könnten; sie denken und wiffen nichts, und das Lesen einer Zeitung gehört zu den Seltenheiten. Indeß gibt es auch rühmliche Ausnahmen, die Lehren des Sozialismus find bereits in fast jedes Dorf eingedrungen und zählen selbst Grundbesitzer zu ihren Anhängern.
Allerdings können wir auf einen Wahlfieg unserer Partei noch nicht hoffen; man bedenke, daß das ganze Herzogthum nur einen Wahlkreis bildet, trotzdem es 150,000 Einwohner hat. Die Bevölkerung besteht aus Abkömmlingen der bis hierher vorgedrungenen und um die alten Ritterburgen, die es hier in großer Zahl gibt, angesiedelten Serben- Wenden, und vertheilt sich heute auf 10 Städte und ungefähr 500 Dörfer. Die Zahl der Dorfbewohner ist bedeutend höher als die der Städter, infolgedessen bei ersteren eine sehr energische Agitation nöthig ist. Bis jetzt ist die Agitation immer noch mangelhaft ausgeführt worden, und vermögen die Herren Rittergutsbesitzer auf ihre Lohnsklaven einen noch sehr großen Einfluß auszuüben. Doch die Zeit wird auch hier nicht mehr fern sein, wo sich die Arbeiter, ihrer gebrüdten Lage bewußt, une anschließen werden, um mit vereinten Kräften die uns vorenthaltene Gleichberechtigung zu erkämpfen; strahlt doch auch uns schon der Stern der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit entgegen. Und wenn auch die Herren von der Aristokratie sich alle Mühe geben, den Send boten der Sozialdemokratie hindernd in den Weg zu treten, so soll uns doch Richte abhalten, unablässig Propaganda für die sozialistische Arbeiter partei zu machen.
Die Reden, welcher unser Genosse Stolle vor einigen Jahren in einzelnen Dörfern unseres Herzogthums gehalten hat, haben ihre Wirkung nicht verfehlt.
Die künftigen Wahlen werden zeigen, daß auch wir am Platze sind. Wir werden trotz Ausnahme gesetz und Widerstand der Rittergutsbesizer
den Bauern und Lohnarbeitern die Männer empfehlen, welche die Leiden des Volkes kennen und die Schäden der heutigen ausbeuterischen Gesellschaft aufdecken, welche unerschrocken für das Wohl der arbeitenden Klaffen eintreten. Wir werden ihnen sagen, daß fie Beherrschte und Unterdrückte sind, und daß sie Erlösung nur durch die Sozialdemokratie erlangen können.
Aus der Rede des Abgeordneten über den Reichsetat. Gehalten am 14. Februar 1883. ( Nach dem stenographischen Bericht.)
Geiser
Meine Herren, ich hatte den Auftrag, bei der ersten Lesung des Etats den Standpunkt unserer Partei zu vertreten. Ich bin aber daran verhindert worden durch den Schluß der Debatte. Ich bin nun genöthigt, das Versäumte an dieser Stelle nachzuholen. Die Position, die ich dadurch bekommen habe, ist eine wesentlich veränderte gegen vorher; wir ftehen abgemachten Thatsachen gegenüber. Der Etatkampf ist zu Ende, wir wissen, was in demselben geleistet worden ist. Nun, meine Herren, wenn wir uns das zurückrufen, so finden wir, daß es sich wesentlich darum gehandelt hat, an den Positionen, welche von der Regierung aufgestellt worden sind, soviel wie möglich zu sparen, daran zu streichen. Meine Herren, es ist von keiner Seite bestritten worden, daß diejenigen Summen, welche im Etat von der Regierung verlangt worden sind, das deutsche Volt außerordentlich schwer bedrücken, daß sie sehr hoch sind. Es ist von der linken Seite dieses Hauses, welche im wesentlichen den Kampf geführt hat, erklärt worden, es würde sich dabei darum handeln, soviel als möglich zu sparen, und auch aus dem Zentrum des Hauses ist mit besonderer Betonung dem beigepflichtet worden. Nun, meine Herren, wir sehen jetzt, wie viel im Sparen geleistet worden ist. Alles in Allem genommen sind, soviel ich weiß, 11 Millionen Mark abgestrichen worden von dem 601 Millionen betragenden Etat. Von den 600 Millionen kommen auf den Kopf der Bevölkerung zirka 13 Mart; von dem, was gestrichen worden ist, würde auf den Kopf der Bevölkerung etwa 25 Pfennige tommen, wenn ich mich nicht sehr irre.
Nun, meine Herren, ich weiß nicht, ob das als ein besonders glänzendes Resulat anzuerkennen ist, ich weiß nicht, ob Sie mit diesem Resultat zufrieden sein können, und ob das deutsche Volt Ursache hat, Ihnen dafür irgendwie erkenntlich zu sein. Ich weiß das um so weniger, als ich mir dente, daß die Regierung sehr wohl darauf vorbereitet war, daß abgestrichen würde von dem Etat, und daß sie angesichts dieser Gewißheit zweifellos Rücksicht genommen hat auf das Streichbedürfniß der linken Seite. Sie hat sicherlich nach verschiedenen Richtungen hin mehr gefordert, als sie ursprünglich brauchte. Im Anschluß an diese Erwägung tritt die Frage auf, ob nicht vielleicht dadurch, daß 11 Millionen Mark gestrichen werden sind, im Ganzen und Großen weniger noch gestrichen worden ist, als worauf sich die Regierung vorbereitet hatte; in jedem Falle aber tann man gewiß sein, daß schließlich doch wenigstens annähernd bewilligt worden ist, was die Regierung nothwendig zu haben glaubte.
Meine Herren, dann ist zu betrachten: wo ist gestrichen wor den? um den Werth dieser viele Wochen hindurch audauernden parlamentarischen Thätigkeit sich ganz zu vergegenwärtigen. Es ist viel an Bauten, bei Postgebäuden sowohl als bei Kasernements, abgestrichen worden; entweder sind die Kostensummen für ganze Gebäude, die da errichtet werden sollten, vollständig verweigert worden, oder es sind Theilsummen von dem Gesammtbetrage weggenommen worden. Nun, dabei ist zu berücksichtigen, daß Sie damit Arbeitsgelegenheiten beseitigt, also Gelder gestrichen haben, die wenigstens zum Theil in die Hände des arbeitenden Bolts geflossen wären. Es hat also auch aus diesen Gefichtspunkten betrachtet, thatsächlich das Volk sehr viel weniger Ursache, sich befriedigt zu zeigen über das, was bei der Etatsdebatte erreicht worden ist, als hier vielfach angenommen wird.
Ferner, meine Herren, ist es denn wirklich eine so hervorragende ftaatsmännische Weisheit, die darin besteht, nur zu sparen? Ich meine, das Volk hätte viel mehr Ursache, zufrieden zu sein mit dem, was hier geleistet worden ist, wenn die Regierung nach manchen Richtungen hin erheblich mehr gefordert hätte, als sie gefordert hat. Es ist ja allerdings wahr z. B., für das deutsche Reichsheer wird außerordentlich viel gebraucht; aber auf allen Seiten des Hauses werden die Herren mit wenigen Ausnahmen wohl zugeben und der Regierung sogar gern zugeben, daß unter den gegenwärtigen Umständen, wenn man nicht ganz mit den herrschenden Systemen brechen will, wesentlich zu sparen nicht möglich ist. Dagegen, meine ich, wäre dem herrschenden System zum Trotz positives zu leisten sehr wohl möglich. Wir haben z. B. verschiedene Positionen im Etat, auf die auffallend wenig von den Einnahmen des Reichs verwandt wird, und für die das wenige, was gefordert wird, vom Reichstage nicht einmal gern bewilligt wird. Wir haben z. B. die Position des Gesundheitsamtes, die des statistischen Amts; wir sehen im Etat, daß sehr wenig für wiffenschaftliche Zwecke ausgegeben wird u. s. w.
Warum denkt man nun denn nicht daran, nach diesen Richtungen hin etwas zu leisten? Warum geht der Staat nicht ans Wert, durch Organisation von Gesundheitsämtern über das ganze Land hin, wie das von dem Gesundheitsamt selbst schon vor Jahren empfohlen worden ist, endlich einmal an die Heilung so schwerer Schäden ernstlich heranzutreten? Meine Herren, wenn dem Gesundheitsamt gegenüber, wie hier geschehen ist, eine so fühle Haltung bewahrt wird, wenn man fogar Luft zeigt, womöglich die ganze Position zu streichen, wie das von der linken Seite am liebsten geschehen wäre, dann drängt man die Regierung doch nicht vorwärts auf dem Wege der Verbesserung der Verhältnisse, unter denen das Volk leidet, das heißt auf dem Wege, der allein zum Heile des Volkes führen kann.
-
Ebenso geht es mit dem statistischen Amt. Daß die Statistik eine außerordentlich vernachlässigte Wissenschaft ist, wird gleichfalls wohl von keiner Seite bestritten werden. Das ist zunächst zu hören von den Gelehrten der Statistik, von allen Universitäten und statistischen Aemtern. Die Statistik ist eine sehr junge Wissenschaft, sie bedarf nicht nur finanzieller Unterstützung, sondern sie bedarf vor allen Dingen auch wissenschaftlichen Materials, und dieses wissenschaftliche Material ist nur zu erlangen durch großartige statistische Untersuchungen, die große Bevöl terungstreise, ja das ganze Volt selbst heranziehen müssen zur statistischen Hilfsthätigkeit, und diese statistische Hilfsthätigkeit kann wiederum nicht geleistet werden, ohne daß dafür große Summen Geldes verausgabt werden. Wenn man z. B. an die Lösung der sozialen Frage oder nur an die Vorbereitung zu einer solchen immer mehr auf die Nägel brennenden Lösung herantreten will, meine Herren, dann wird man ganz andere statistische Maßregeln ergreifen müssen, als Reichstag und Regierung bisher für ausreichend gehalten haben. Wenn wir richtig urtheilen wollen über die Lage des Boites, so werden wir uns nicht mit solchen statistischen Erhebungen, wie bisher bei der Volkszählung geschehen, begnügen dürfen, sondern wir werden die statistischen Untersuchungen auszudehnen haben auf die Wohnungsverhältnisse des Voltes, überhaupt auf alle Lebensverhältnisse des Volkes und bis in alle Details derselben hinein; und das bedarf widerum Geld, sehr viel mehr Geld, als für statistische Zwecke bisher in die Etats aufgenommen worden ist, viel mehr, als Sie geneigt waren, dafür zu bewilligen.
Es werden anßerdem eine ganze Reihe anderer Positionen besser ausgestattet werden müssen, und es wird zu berücksichtigen sein, daß das Reich in den Kreis seiner Kompetenzen eine Reihe von Dingen binnen turzem wird hineinziehen milffen, welche gleichfalls sehr wesentliche Ausgaben veranlaffen. Ich deute nur hin auf das Unterrichtswesen und auf die Ar men last, wenn thatsächlich geholfen werden soll u. s. w. Also ceterum censeo: es muß nach vielen Richtungen hin nicht gespart, sondern mehr ausgegeben werden, ale bis heute ausgegeben worden ist. Nun wird wahrscheinlich gefragt werden: wo sollen denn diese Mehrausgaben hergenommen werden? was jetzt gethan wird, drückt ja schon ganz ungeheuer schwer auf das Volt. Gewiß, das wissen wir am besten; dieser empfindliche Mißstand kommt aber daher, weil man sich bisher bestrebt hat, das Geld hauptsächlich da zu nehmen, wo es nicht zu finden ist, statt daß man es da sucht, wo es thatsächlich in erheblichen Massen vorhanden ist und und zu immer größeren Reichthümern angehäuft wird, da, wo es sehr leicht flüssig gemacht werden könnte für die Zwecke des Staats.