Pauls- Festung geschrieben( im Juni 1882) und von der Druckerei der ,, Narodnaja Wolja " am 2. September 1883 abgedruckt worden ist. Der Brief trägt den Titel: Von den Todten an die Lebendigen" und theilt Thatsachen mit, die zum Himmel schreien und gebieterisch Rache fordern.
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Hören Sie, was diese Lebendigbegrabenen uns schreiben:
,, Festgekettet in den kaiserlichen Kasematten, mit Gewalt aus der Welt der Arbeit und des Kampfes herausgerissen, sind wir mit Geist und Seele bei Euch, unseren jungen Brüdern. In der Einsamkeit und Stille der ermüdend langen Nächte versehen wir uns im Geiste aus diesen naffen, kalten Wänden dorthin, wo das Leben pulsirt, wo das Blut fließt, wo mit beispiellosem Muth opferwillige Leute mit fester Hand den wüthenden Despotismus untergraben. Unser Vaterland durchlebt jetzt ein erhabenes Stück Geschichte..... Wir sehen uns am Morgen eines großen Kampfes auf Leben und Tod. Die Regierung fühlt das und strengt ihre legten Kräfte an, um die herannahende Revolution zu ersticken; sie ist so von der Angst überwältigt, daß sie über der polizeilich- henkerischen alle andern Staatsfunktionen vergessen hat, und in dieser Funktion begnügt sie sich nicht mehr mit den Traditionen des alten Spizelthums, sie scheut sich nicht, dem Sohn des faulenden Westens, dem Dezemberhelden, nachzuahmen.
Allein selbst Napoleon ging in seiner Unverschämtheit nicht so weit, das ganze Land, alle Bürger zur Spionage aufzurufen. Dazu war er zu flug, er begriff, daß die Schmach, die ein solcher Aufruf enthält, auch die Ruhigsten empören, auch in die Herzen der Knechte einen Funken von Unzufriedenheit werfen muß. Die tausendjährigen schmachvollen Zustände in unserer Heimath mußten nothwendigerweise Kriecherei und Anechtsseligkeit erzeugen. Finsterniß und Dreck ist die Sphäre dieser Kriechthiere.
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,, Indeß sie begnügen sich nicht mit ihrem Element, sondern kriechen aus demselben heraus und schleichen sich in das gesellschaftliche Leben ein: in die Hörsäle der Studenten, in die Literatur, in die Kirche, selbst in überall, wo sie Beute spüren. Wie unden engen Familienkreis ,, Wein und genirt sie mit menschlichem Blute und Thränen handeln! Louisdors das ist das Wesen einer solchen Politik", sagte Viktor Hugo von Napoleon III., und wir fügen hinzu, daß es das Wesen einer jeden Regierung, welche ahnt, daß ihre Tage gezählt sind, ist, daß sie sich nur auf korrumpirte Niedertracht stützen kann. Und so haben wir auch unsere weißen Blousen".
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,, Allein auch damit begnügte sich unsere Regierung nicht; und im Befit von einer Million Soldaten, von hunderttausend Spionen, ging sie zu einer beispiellosen Niedertracht über, indem sie geheime Gesellschaften, wie die heilige Liga", gründete, deren Ziel darin bestand, durch Bestechung und geheimen Mord der Polizei in ihrer Haz gegen alles Redliche zu helfen. Nichts kennzeichnet so die Regierung in ihrer ganzen Schwäche und Niedertracht, wie gerade diese Thatsache. Umgeben von Polizisten, Soldaten, Henkern, Kerkern, Galgen und drakonischen Gesetzen, erklärt sie sich offen für besiegt, indem sie eine solche heilige Liga" bildet und so selbst zum illegalen Mord schreitet. Vom illegalen Mord ist ja nur noch ein Schritt zur Folter, und auch das haben wir erlebt. Von den Erfahrungen der Geschichte belehrt, wissen es unsere Inquifitoren, daß grobe physische Martern, diese ganz besonderen chirur gischen Operationen", leichter zu ertragen sind als moralische Dualen, und in dieser letzteren Methode haben sie das Ungewöhnliche, das Grausamste erreicht, so daß ihre niederträchtigen Prozeduren leider manchmal von Erfolg waren.
,, Diese Foltern sind sehr mannichfaltig und immer den individuellen Eigenthümlichkeiten jedes Opfers angepaßt. Wenn sie z. B. wiffen, daß der Eingekerkerte seinen Vater oder seine Mutter, sowie Schwestern oder seinen Bruder besonders liebt, so wird ihm mit dem Schicksal seines Lieblings gedroht, wenn er nicht ,, offenherzig" sein werde. Einem Andern wird Mißtrauen oder Wuth gegen die Partei eingeflößt, indem man ihm zu beweisen sucht, die Partei habe ihn als blindes Werkzeug durch Lüge, Lift, beinahe mit Gewalt in sein Verderben geführt. Andere, die noch jung und unerfahren sind, werden durch Drohungen und Einsperren in einsame dunkle Zellen gemartert.
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Wenn Ihr Euch, werthe Brüder, dazu noch unsere physischen Dualen denket: Beständiger Hunger, nasse, stinkende Kerkerluft und schlechte Kleidung, was alles nothwendig eine Schwächung des ganzen Drganis mus zur Folge hat Dualen, welche in der letzten Zeit zu einem System geworden sind, und wobei diejenigen, die kein Geld haben, im Verlauf von einem Jahre unbedingt sterben müssen, wenn Ihr Euch das Alles denkt, so werdet Ihr verstehen, wie groß die moralische Stärke eines Menschen sein muß, um ruhig dem langsam herannahenden Tode ins Auge zu schauen, einem einsamen Tode in den Mauern der Kase : matten!
Feuilleton.
Das Recht auf Faulheit.*) Widerlegung des Rechtes auf Arbeit.
( Aus dem Französischen.)
Vorwort des Verfassers.
In der Kommission über den Elementarschulunterricht sagte Herr Thiers im Jahre 1849: Jch will den Einfluß des Klerus zu einem allgemeinen machen, weil ich auf ihn rechne in der Verbreitung jener gefunden Philosophie, die dem Menschen lehrt, daß er hier ist, um zu leiden, und nicht jener anderen Philosophie, die im Gegentheil zum Menschen sagt: Genieße!" Herr Thiers formulirte damit die Moral der Bourgeoisie, deren brutalen Egoismus und deren engherzige Dentart er in sich verkörperte.
Als das Bürgerthum noch gegen den von der Geistlichkeit unterstützten Adel ankämpfte, pflanzte es das Banner der freien Forschung und des Atheismus auf; taum aber hatte es sein Ziel erreicht, so änderte es
*) Wir beginnen hiemit den vollständigen, wenn auch nicht genau wörtlichen Abdruck der bereits früher von uns besprochenen geistreichen Abhandlung Paul Lafargue's über das ,, Recht auf Faulheit". Im Einverständniß mit dem Verfasser haben wir uns bei der Uebersetzung einige Aenderungen erlaubt, aber nur insoferne, daß wir Anspielungen 2c., die für deutsche Leser unverständlich sind und nicht unbedingt zum Thema gehören, fortgelassen, dagegen hie und da auf deutsche Verhältnisse passende Einschaltungen vorgenommen haben. Auch haben wir der besseren Uebersicht halber die einzelnen Kapitel mit Ueberschriften versehen. So denken wir uns den Dank unserer Leser dadurch zu verdienen, daß wir sie mit einer Schrift bekannt machen, welche mit ihrem beißenden Sarkasmus, mit ihrer rücksichtslosen Offenheit vortrefflich geeignet ist, mit Vorurtheilen, die sich bis in unsere Reihen eingeschlichen haben, tüchtig Rehraus zu machen. Die Bieder meierei, die in Deutschland das große Wort führt und über die Frivolität“ eines Heine augenverdrehend zetert, darf in unserer Partei keinen Widerhall finden. Mehr als je müssen wir vielmehr gegen Scheinheiligkeit und Duckmäuserthum ankämpfen und uns vor Allem daran gewöhnen, offen auszusprechen, was wir für recht halten, und unbefangen zu prüfen, was neu an uns herantritt.
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Unbefangen prüfen, das ist es auch, was wir den Lesern in Bezug auf die Lafargue 'sche Schrift empfehlen. Nicht aus polemischen Gründen wenn wir polemisiren, so thun wir bringen wir sie zum Abdruck sondern ihrer unleugbaren Vorzüge dies offen und ohne Rückhalt wegen. Sie enthält in knappster Form eine Fülle von anregenden Ge= danten, sowie von beweiskräftigem Material für unsere Sache, so daß sie selbst Der mit Frucht lesen wird, dem ihre ,, Moral" oder„ Immoral" doch einige Bedenken" erregt. wie man's eben nehmen will
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,, Aber ehe der Tod sich unserer erbarmet, haben wir eine ganze Reihe von verschiedenen Martern zu erdulden: Grobheit der Kerkermeister, Drohungen, Beschimpfungen, sogar Schläge und dann das schlimmsteden Karzer. Für den geringsten Versuch, an die Wand zu klopfen, sperrt man uns wochenlang in ein mikroskopisches Zimmer ohne Luft und Möbel, bei Wasser und Brod, wobei man uns im Winter auf dem steinernen Boden ohne Stroh und Decke frieren läßt. Wie kann man da an Schlafen denken? Wenn aber der Aufseher will, so sett er auch das„ Fieberhemd" in Betrieb, durch welches der oder die Unglückliche auf einem nackten eisernen Bett gekreuzigt wird eine Operation, die stets einen unbeschreiblichen Schmerz in allen Gliedern, dann allgemeine Empfindungslosigkeit und oft tiefe Ohnmacht zur Folge hat. Diese lette Art der Folter wird hauptsächlich den Frauen als schwächsten und widerstandsunfähigsten Geschöpfen zu Theil.
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,, Wenn sie ihr gefreuzigtes Opfer betrachten, höhnen sie es mit zynischen Gemeinheiten über seine Hilflosigkeit: Ihr seid jetzt alle in meiner Hand, ich kann mit Euch machen, was mir nur einfällt, und Niemand wird es erfahren." Ueberhaupt, wenn die Lage der politischen Gefangenen eine schlimme ist, so ist die Lage der Frauen noch schrecklicher; sie befinden sich nicht in einem Kerker, sondern in einer Kaserne. Sie können fich weder anziehen, noch die Wäsche wechseln, denn immer sind sie den schamlosen zynischen Blicken und manchmal auch groben Scherzen der Soldaten und Gensdarmen ausgesetzt. Solche Umstände sind die schlimmsten Martern, und ihnen haben wir es zu verdanken, daß unter den Frauen, trot ihrer Minderheit, die Sterbefälle, das Verfallen in Wahnsinn, viel häufiger sind. Da habt Ihr ein schwaches Bild von unseren Kerkerleiden!
Aber das ist bei Weitem nicht Alles. Die eigenen Leiden sind noch zu ertragen; aber gibt es ein schmerzlicheres Gefühl, als zu wissen, daß in der Nähe Deine Freunde schmachten und Du sie nicht nur nicht sehen, sondern nicht einmal erfahren kannst, ob sie leben oder nicht? Unsere Henker kennen den schrecklichen Einfluß dieses Gefühls gut und gebrauchen ihn als ein Mittel der Folter. Es ist jede Gelegenheit genommen, mit der Außenwelt in irgend welche Beziehungen zu treten, wir haben keine Bücher, kein Papier, keinen Bleistift. Wenn wir nun noch hinzufügen, daß in der Festung keine, auch noch so miserablen Werkzeuge vorhanden sind, uns also absolut keine Arbeit gewährt wird so wird das Bild der modernen Inquisition deutlich genug erscheinen.
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Laßt uns also die düsteren Gänge dieses schauberhaften Wohnsizes. durchschreiten, um uns die Früchte dieses schändlichen Systems anzuschauen. Hier habt Ihr vor Euch ein schwangeres Weib; mager, blaß, verHungert, mit zitternden Händen und fieberndem Blick, fleht sie ihre Henter: Laßt mich wenigstens eine Minute in Ruhe, oder ermordet mich lieber" aber nein, das ist es nicht, was die Mörder wollen; tödten wäre zu großmüthig. Und so siten in ihrer Zelle Tag und Nacht zwei Gensbarmen; auch während des Gebäraktes verlassen sie das Zimmer nicht.... Es wird ein Kind geboren. Zum ersten Male in diesen langen traurigen Tagen erhellt ein Lächeln ihr mageres Antlik: das Kind lebt. Mit leidenschaftlicher Liebe drückt sie es an ihre Brust und vergißt in diesem Augenblick alle erlebten Dualen. Allein dies Glück dauert nicht lange. Eines Morgens kommen die Henker und nehmen aus den schmalen Händen des Weibes ihren einzigen Troft. Weber Bitten noch Flüche könnten sie an ihrem Verbrechen hindern. Das Kind wird heimlich weggeführt und wahrscheinlich dahin spedirt, wo es keine Thränen, keine Seufzer gibt. Sie aber liegt in schrecklichen Fiebern und fleht um ihr Kind. Endlich erbarmt sich der Tod dieser Märtyrerin und nimmt ihre duldende Seele zu sich. Das ist das traurige Ende der vielgeprüften Hesse Helfmann!
Lassen wir den Vorhang über dieses Grab fallen und schauen wir noch in eine Zelle hinein. Auf einem schmalen Kerkerbett liegt ein junges Mädchen. Ihr blondes Haar ist in Unordnung auf dem Kissen zerstreut, die mit Blut erfüllten Augen schauen wirr umher, und die zarten Hände sind fest mit den Aermeln des Fieberhemdes an die Leisten des Bettes gebunden. Sie kann nicht mehr stöhnen, nicht mehr sprechen, und die grausamen Wächter schauen kaltblütig auf dieses Bild. Das ist Lisabetta Olowennikow, welche wahnsinnig wurde, weil sie die Anwesenheit der Gensdarmen in ihrer Zelle nicht zu ertragen im Stande
war.
Hier ist noch eine Kammer, schauen wir hinein. Wieder ein Kerkerbett und ein Jüngling darauf. Sein Gesicht frappirt durch den durchsichtig blassen Teint; die Lippen sind verbrannt; er hat offenbar Durst; aber er hat nicht die Ehre, ein wichtiger Staatsverbrecher zu sein, darum sind in seiner Zelle keine Gensdarmen vorhanden und Niemand kann dem Sterbenden einen Schluck Wasser geben, um seine brennenden Lippen zu fühlen... Doch genug. Es ist nicht möglich, alle diese schrecklichen Bilder aufzuzählen!
Ton und Haltung, und heute sehen wir es bemüht, seine ökonomische und politische Herrschaft auf die Religion zu stützen. Jm 15. und 16. Jahrhundert hatte es fröhlich die Ueberlieferungen des Heidenthums aufgegriffen und das Fleisch und dessen Leidenschaften, diesen„ Greuel" in den Augen der christlichen Moral, verherrlicht, heute dagegen, wo es in Reichthum und Genüssen aller Art fast erstickt, will es von den Lehren seiner Denker, der Rabelais und Diderot , der Leffing und Goethe, nichts wissen und predigt den Lohnarbeitern die Lehre von der Enthaltsamkeit. Die tapitalistische Moral, eine jämmerliche Ropie der chriftlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem feierlichen Bannfluch, ihr Jdeal besteht darin, die Bedürfnisse der Produzenten auf das geringste Minimum zu reduziren, seine Genüsse und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurtheilen, aus der man ohne Raft und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet.
Die revolutionären Sozialisten sind somit vor die Aufgabe gestellt, den Kampf, den einst die Philosophen und Satiriker des Bürgerthums gekämpft, wieder aufzunehmen; sie haben wider die Moral und die Soziallehren des Kapitalismus Sturm zu laufen und in den Köpfen der zur Aktion berufenen Klasse die Vorurtheile auszurotten, welche die herrschende Klasse gesäet hat; sie haben allen Moralitätsheuchlern gegenüber zu verkünden, daß die Erde aufhören wird, das Thal der Thränen für die Arbeiter zu sein, daß in der kommunistischen Gesellschaft, die wir errichten werden ,, wenn es geht, friedlich, wenn nicht, mit Gewalt"-, die menschlichen Leidenschaften freien Spielraum haben werden, da alle, wie bereits Descartes sagte ,,, von Natur aus gut sind, wir nur ihren falschen und übermäßigen Gebrauch zu vermeiden haben. Und das wird nur durch das freie Gegenspiel der Leidenschaften und die harmonische Entwickelung des menschlichen Organismus erreicht ,,, denn", sagt Dr. Beddoe*),„ erst wenn eine Rasse das Maximum ihrer physischen Entwicklung erreicht, erreicht sie auch den höchsten Grad von moralischer Kraft und Energie." Das war auch die Meinung des großen Naturforschers Charles Darwin. **)
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I. Ein verderbliches Dogma.
Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse in den Ländern, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschend Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Defonomisten und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ, noch
*) Memoirs of anthropological Society. **) Die Abstammung des Menschen.
Aber wo in diesem Reiche der Todten ertönt eine Kinderstimme? Das ist aus der Kammer der Jakimowa. Als sie ein Kind geboren hatte, so erklärte sie, den zu erdrosseln, der es anrühren werde. Und man ließ es ihr. Sie rettete es vor den Händen der Henker, aber fie kann es nicht vom Hungertode retten...
Sozialpolitische Rundschau.
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Das„ Ereigniß" des Tages ist die Reise Fritchens nach Rom . Nicht etwa deshalb, weil der Besuch beim Papst den Gang nach Kanossa in bester Form bedeutet der ist ja längst angetreten sondern weil Fritchen es gewagt hat, allerdings weit ab vom Schuß, will sagen von Friedrichsruhe, des allmächtigen Kanzlers Zirkel zu durchkreuzen. Eine jämmerlichere Blöße, als sich die Bismard'schen Offiziösen beim Eintreffen des von Fritchen ausgehenden Telegramms, worin mit dürren Worten der Reiseplan mitgetheilt wird, gegeben haben, ist noch kaum dagewesen. Anfangs versuchten fie rundweg die Richtigkeit der Nachricht, welche ihrem Herrn und Meister so unbequem kam, abzu leugnen, dann lenkten sie mit Vorbehalt" ein, und jetzt wollen sie der Welt weißmachen, daß der Kanzler vorher um die Reise gewußt. Daß Frischen nach Rom gehen will, mag er gewußt haben, aber das ist, wie gesagt, sehr unwesentlich, der Hauptwitz liegt darin, daß Fritchen absichtlich zu früh seinen Besuch ankündigte und dadurch der inneren Politik Bismarc's ein Bein stellte.
Für uns hat die Sache übrigens nur ein symptomatisches Intereffe. Wir wissen längst, daß es die Furcht vor dem Volk, dem großen Lümmel", ist, weshalb der ,, Kulturfriede" so eifrig betrieben wird. ,, Die Religion muß dem Volke erhalten werden". Höchst belustigt hat es uns jedoch, in der kronprinzanbetenden Volkszeitung" als neueste„ Enthüllung" die Kunde zu lesen, daß unser Frik" es war, der schon 1878 unter diesem Motto die Verhandlungen mit Rom einleitete. Das wäre ja eine reizende Erklärung der famosen Enzyklika Leo's XIII. wider den Sozialismus!
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Also aus dem Loch pfeifft Du, alter Knabe?
Dhne Leo XIII . wäre allerdings die famose Fürstenverschwörung gegen die rebellischen Völker nicht vollständig. Mit ihm stellt sie eine vortreffliche Neuauflage der heiligen Allianz dar. Immerhin. Auch eine gründlich verbesserte Neuauflage der Antwort der Völker wird nicht ausbleiben!
- Fortschrittlich demokratische Staatskunst. Die „ Frankfurter Zeitung " ist ganz außer sich vor Wonne über den glorreichen Erfolg des Antrages Stern". Es wäre wirklich zum Lachen, wenn es nicht gar so traurig wäre, über einen Erfolg jubeln zu hören, der darin besteht, daß man sich wieder einmal durch einen unverschämten preußischen Junker in die Defensive hat jagen lassen. Nach der staatsmännischen Weisheit der Frankfurterin muß es in Zu funft nicht mehr heißen, die beste Form der Vertheidigung ist der Angriff, sondern die beste Form des Angriffs ist die Defensive. Eine schöne Taktik, fürwahr! Schritt für Schritt hat der Liberalismus in Deutschland mit ihr Terrain eingebüßt, und die volksparteiliche„ Demokratie", die einst so trefflich über die rückgratlose Politik der Nationalliberalen zu wikeln verstand Niemand feiner als Herr Stern sie macht ihm jetzt das Kunststück mit dem Eifer eines Neubekehrten nach. Wie Lasker einst für die Justizgesetze, um den Kern" zu retten, so stimmte Sonnemann neuerdings für das Krankenkassengesetz; und Alles, was an Tadel und Hohn Sonnemann seinerzeit gegen Lasker geschrieben, paßt auf seine Abstimmung, wie Alles, was er jetzt zu Gunsten derselben vorbringt, von Lasker für dessen damaliges Verhalten angeführt werden kann. Noch schlimmer steht es jedoch mit dem„ Antrag Stern".
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Mit ihm, dies muß konstatirt werden, verließ Herr Stern von vorn herein den demokratischen Boden. Das Dreillaffenwahlsystem ist so durch und durch un demokratisch, daß jeder Versuch, es durch eine„ Reform", die sein Wesen nicht trifft, die es nur für gewisse Schichten der Be völkerung akzeptabler gestalten und dadurch seine Dauer verlängern will, zu konserviren, daß ein jeder solcher Versuch für einen aufrichtigen Demokraten un annehmbar sein muß. Was wäre z. B. die Folge der Annahme des Antrages Stern durch Abgeordneten, Herrenhaus und Regierung gewesen? Das miserabelfte aller Wahlgesete hätte ein freisinniges Mäntelchen erhalten, der allgemeine Widerwille gegen dasselbe wäre geschwächt, nicht gestärkt worden; und
Dekonomist, noch Moralist zu sein behaupte, ich appellire von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einer ganzen Schaar zweihändiger Knechte bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild oder Stollberg mit den schwerfälligen normannischen oder pommerischen Gäulen, welche das Land beackern, den Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren müssen! Man betrachte den stolzen Wilden, wenn ihn die Missionäre des Handels und die Handlungsreisenden in Glaubensartikeln noch nicht durch Christenthum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpirt haben, und dann vergleiche man mit ihnen unsere abgeraderten Maschinensklaven!
Dft find die europäischen Forscher ganz betroffen vor der förperlichen Schönheit und der stolzen Haltung der Angehörigen primitiver Völkerschaften, welche noch nicht von dem ,, vergifteten Hauch der Zivilisation", um mit dem Dichter zu reden, befleckt find. Von den Ureinwohnern der australischen Inseln schreibt Lord George Campbell: Rein Volf der Welt frappirt mehr im ersten Augenblick. Ihre ebene und tupferfarben schim mernde Haut, ihr gelocktes vergoldetes Haar, ihre schöne und anmuthige Figur, mit einem Wort ihre ganze Persönlichkeit stellte ein neues und glänzendes Muster der Gattung Mensch dar; ihre physische Erschei nung machte den Eindruck einer der unserigen überlegenen Rasse." Mit derselben Bewunderung betrachteten die Zivilisirten des alten Rom, ein Cäsar und Tacitus , die Germanen der kommunistischen Stämme, die in das römische Reich eindrangen. Gleich Tacitus stellte Salvian , der Lehrer der Bischöfe", im 5. Jahrhundert den Zivilisirten und Christen die Barbaren als Muster hin:" Wir sind unzüchtig inmitten von Bar baren , die keuscher sind als wir. Mehr noch; die Barbaren nehmen an unserer Unzucht Anstoß. Die Gothen dulden keinen Wüstling ihres Stammes unter sich; nur die Römer in ihrer Mitte haben Dank dem traurigen Privilegium ihres Namens und ihrer Nationalität das Recht, unrein zu sein.( Die Päderastie war damals bei den Christen start in Mode.) Die Unterdrückten gehen zu den Barbaren, Menschlichkeit und Schutz zu suchen."( De gubernatione Dei.) Die alte Zivilisation und das aufstrebende Christenthum forrumpirten die Barbaren der alten Welt geradeso, wie das altersschwache Christenthum und die moderne tapitalistische Zivilisation die Wilden der neuen Welt forrumpiren. Der auch in Deutschland bekannte katholische Schriftsteller, Herr F. Le Play, dessen Beobachtungstalent man anerkennen muß, selbst wenn man seine mit philanthropischem und christlichem Proudhonismus versetten soziologischen Schlüsse verwirft, sagt in seinem Buch: Die euro päischen Arbeiter"( 1855):„ Der Hang der Baschkiren zur Faulheit( die Baschkiren sind halbnomadische Hirten im Ural ), die mit dem Nomadenleben verbundene Muße, die Gewohnheit des Nachdenkens, welche dieselben bei den besserbegabten Individuen hervorrufen, haben bei diesen oft eine Feinheit der Manieren, eine Schärfung von Intelligenz und Urtheil zur Folge, wie man sie in einer höheren Zivilisation auf dem gleichen sozialen Niveau selten findet.... Was ihnen am meisten zuwider ist, sind die Ackerarbeiten; sie thun eher alles Andere, als daß sie
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