nicht mehr ein Retten, sondern ein Verschwinden der Aus- bcuterklasse bedeutet Die bürgerliche Entwicklung der Produktion hat das Ausbeutungssystem in seiner reinsten, nacktesten Gestalt zum Durchbruch, es an den Punkt gebracht, wo weiterentwickeln aufheben, resormiren in der That rev olutioni ren heißt. Dazu wirdund kann sich die Ausbeuterklasse nicht gutwillig verstehen und ebensowenig die sie repräseutirende Regierung. All ihr Reformwerk wird daher nur jämmerliches Flickwerk bleiben, und bezeichnender- weise will man sogar von der einzigen Maßregel, die wenigstens für eine Zeil von Ruhen sein könnte: von einer wirksamen Ver- türjung des Arbeitstages, absolut nichts wissen. Man fühlt in den herrschenden Kreisen, daß eine Arbeiterklasse, die nur 8 Stunden tag- lich arbeitet, nicht zu„bändigen", nicht zu beherrschen ist. Ihr Klasscninteresse erfordert aber ein beherrschtes Proletariat, wie daS Klasseninteresse des Proletariats heute Rcduzirung des Arbeitstages und Erweiterung der politischen Rechte erheischt. Und an diesem Gegensatz der Klasseninteressen wird und muß muß unter den heutigen Verhältnissen jede ernsthafte Sozial- reform scheitern. Sozialpolitische Rundschau. Zürich , 23. Juli 1884. — Die Nationalitätenverhetzer haben vergangene Woche wieder einmal ihr schmutziges Handwerk nach Herzenslust betrieben. Ver- anlassung bot ihnen ein Dummerjungenstreich einiger französischer Bourgeoissöhnchen, die am Nationalfest— der Feier des Bastillesturms — an einigen deutschen Fahnen und einen im wollenen„Jäger"kostüm, d. h. so ausfällig als nur möglich gekleideten unglückseligen Theologen, der unter sie gerathen, ihren„Patriotismus" ausließen. � Kein vernünftiger Mensch hat in Paris diese Lümmel ernst genommen, fast die ge- sanrmte Presse, die Arbeiterpresse voran, hat sie mit Hohn und Spott überschüttet— das hat aber die nationalliberale deutsche Presse nicht gehindert, sofort ein Geschrei anzustimmen, als seien die paar elsaß - lothringischen Vereine und die„Liga der Patrioten" das französische Volk, und gegen dieses aus Leibeskräften zu hetzen. Das Kölnische Ober- reptil und die Berliner „Nationalzeitung" rasselten mit dem Säbel, daß es nur eine Art hatte. „Wie denkt sich wohl Herr Jules Ferry den Fall", schrieb das Welt- blatt vom Rhein ",„wenn wir snatürlich sind die Herren in Köln und ihre Reporter in Paris Deutschland — eine schöne Gegend!) den Chinesen einige Liebenswürdigkeiten erwiesen? Die Himmlischen haben uns noch nie Fahnen zerrissen, bauen Schiffs bei uns und sind bei uns sehr wohl gelitten: wenn wir uns nun mit den Chinesen etwas freund- licher stellten, wie will Herr Ferry es dann verantworten, ferner auch nur einen Mann nach Tongking zu schicken? Uns würde das gar nichts kosten, und Frankreich würde es sehr wehe thun. Dann hätten wir noch eine sehr schöne Gelegenheit aus der Londoner Konferenz, auf der wir den Franzosen das Leben recht sauer machen könnten, ohne daß es uns etwas kostete. Den Dank des Herrn Gladstone bekämen wir noch oben- drein. Oder aber wenn wir unsere Anschauungen über die Cholera- Quarantäne änderten? Es ist wahrscheinlich, daß wir das Alles nicht thun werden, aber man wird jedenfalls zugeben, daß wir es thun könnten und daß wir(die Reptile in Köln , Paris rc. selbstverständlich) unendlich langmüthige Menschen sind, da wir es nicht thun" Das Berliner Professorenblatt deduzirte aus dem Vorkommniß die Nothwendigkeit, alle Forderungen für den Kriegsmoloch unbesehen zu bewilligen— mit einem Wort, diese„unabhängige" Presse besorgte Bis- marck's Geschäfte so gut, daß dieser in seinen offiziellen Preßorganen den ruhigen, objektiven Beobachter spielen und der Welt einen neuen Beweis von seiner„Mäßigkeit" geben konnte. Die Sache liegt nämlich so, daß Bismarck zur Zeit mit Frankreich gegen England gemeinsame Sache macht— sei es auch nur im Interesse der bedrohten egyptischen Bond- holder. Es wäre in der That zu schlimm, wenn die armen Besitzer ägyptischer Staatspapiere eine weitere Zinsreduktion über sich ergehen lassen müßten, sind es doch lediglich arme Handwerker, Proletarier zc., welche ihre Ersparnisse in unifizirten Bonds und dergleichen anzulegen pflegen! Beiläufig hat es uns eigenthümlich berührt, daß selbst Blätter, welche über den Charakter der„Kölnischen Zeitung " vollkommen im Klaren sind, wie z. B. die„Berliner Volkszeitung", die doch vor einiger Zeit ganz vortrefflich das System der Kölnischen bloszulegen wußte, die chauvinistischen Berichte derselben auf Treue und Glauben abdruckten. Wir erwähnen dieser Thatsache, weil es nicht das erste Mal ist, daß wir diese Erscheinung beobachtet. Um zur Sache selbst zurückzukommen, so wollen wir noch einmal fest- stellen, daß es vorzugsweise Mitglieder der„besseren" Gesellschaft waren, die das lächerliche Heldenstück, das so viel Staub ausgewirbelt, verübten— etwa dieselben Elemente, aus denen sich in Deutschland die Treitschke 'schen Knüppelgarden rekrutiren. Der Patriotismus, Nation«- lismus ic. muß hier wie dort als Deckmantel für Gedanken- und Gesinnungslosigkeit, als Hebel des erbärmlichsten Streberthums her- halten! — Was der Stellmacher'sche Prozeß im Dunkeln ließ, das ist jetzt durch das Geständniß der Hauptbetheiligte» klar und über jeden Zweifel hinaus festgestellt worden: die R a u b m o r d e in Wien , Stuttgart und Straßburg sind von Kanimerer und Stellmacher verübt worden, und zwar in der Absicht, ihrer sogenannten„Partei" einen Nutzen zu verschaffen. Wir haben kein Recht, den beiden Raubmördern den mildernden Um- stand dieses Motivs zu verweigern, welches sie über das Niveau des ausschließlich von gemeinen persönlichen Motiven geleiteten Raub- mordes erhebt. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sagen, daß dieses höhere Motiv ihnen nur zugesprochen werden kann, indem man ihnen gleichzeitig die geistige Zurechnungsfähigkeit abspricht. Ein Mensch, der da annimmt, die Zwecke einer aus Verwirklichung der höchsten Mensch- heitsideale gerichteten Partei(und das soll doch nach den Angaben ihrer Bekenner die sogenannte anarchistische Partei sein) könnten dadurch ge- fördert werden, daß man wildfremde Ntitmenschen, die dem Parteileben vollständig fernstehen, todtschlägt und ihre Kassen ausraubt, kann un- möglich im Vollbesitz geistiger Fähigkeiten sein. Die Ermordung eines H l U b e ck, eines B l ö ch läßt sich noch als politisches Verbrechen erklären, obgleich ein denkender Kopf sich jedenfalls nicht an ein paar obskure Werkzeuge gehalten hätte, wenn er die Polizei treffen wollte. Immerhin waren es zwei Beamte, die durch ihre Thätig- keit politischen Haß erregt hatten. Allein was hatten die beiden Bankiers von Wien und Stuttgart , was hatte der unglückliche Apotheker von Straßburg gethan, um politische Leidenschaften zu erwecken? Und was konnte ihr Tod der Partei der Raubmörder nützen? Nichts, absolut nichts! In Bezug auf letzteren Punkt könnte man einwenden: die„Partei" brauchte Geld, und durch jene Raubmorde wurde es beschafft— dieselben waren also von Nutzen für die Partei. Aber kann denn so gewonnenes Geld für die Partei von Nutzen sein? Würde nicht ein denkender Kopf sofort berechnen, daß der Vortheil, welcher aus dem Besitz des geraubten Geldes erwächst, millionenfach durch die N a ch t h e i l e ausgewogen werden, welche die Art der Gewin- n u n g des Geldes für die Partei haben muh? Kann es für einen denkenden Kops auch nur einen Augenblick zweifelhaft sein, daß durch solche Handlungen nicht blos die herrschenden und besitzenden Klassen, sondern auch die V o l k s m a s s e n, aus deren Sympathie und Unter- stützung die„Partei" doch angewiesen ist, auf's Aeußerste erbittert und enipört werden müssen, und daß diese Gefühle der Erbitterung und Empörung mit Nothwendigkeit aus die„Partei" übertragen werden müssen, in deren Namen solche Handlungen begangen werden? Wie wir schon vor zwei oder dritthalb Jahren anläßlich der M e r- st allinger- Affaire schrieben, wird durch derartige Verbrechen geradezu die V o l k s j u st i z herausgefordert, und zwar dergestalt, daß, falls sie sich wiederholen, ein Jeder, der mit diesen Handlungen in direkte oder indirekte Beziehung gebracht wird, in Gefahr schwebt, g e- lyncht zu werden! Ein denkender Kopf würde, falls ihm der Gedanke an ein solches Verbrechen im Interesse der„Partei" durch den Kopf schösse, sich sofort erinnern, daß die gewissenlosen Feinde der Volkssache diese sehr oft dadurch zu diskreditiren versucht haben, daß sie den betreffenden Parteien Verbrechen dieser Art an die Rockschößen hängten; und er wird sich ferner erinnern, daß diese Taktik den Feinden der Volkssache stets gelungen ist. Von„Moral" wollen wir nicht reden. Die„Moral" hat eine wächserne Nase und Jeder dreht ihr nach Belieben eine Nase. Aber wer sich nicht außerhalb der Menschheit und Menschlichkeit stellen will, hat gewiffe Regeln der Gesittung— um nicht zu sagen, der Sittlichkeit— zu beobachten, und unter diesen Regeln ist die oberste die der Achtung des Menschenlebens. Wir erkennen nicht einmal dem Staat das Recht zu, Menschenleben zu opfern, und wie könnten wir jedem Individuum ein solches Recht zuerkennen? Nur eine Ausnahme gibt es: das Recht der Nothwehr, wo es gilt, an- griffenes Menschenleben und angegriffene Menschenwürde zu vertheidigen. Das Recht der Nothwehr(welches selbst vom gemeinen S.tras- g e s e tz b u ch anerkannt wird) auf das politische Gebiet übertragen, ist Rechtfertigung des politischen Mordes(Tyrannenmord ic.), den die größten Dichter und Denker aller Völker verHerr- licht haben. Und wenn nicht zu rechtserttgen, so doch zu entschuldigen ist der Mord aus Räch e, vorausgesetzt daß die Schwere der zu sühnenden Handlung zu der Schwere der Sühne im Verhältniß steht. Der englische Schmied W a t T y l e r, welcher den frechen Beleidiger seiner Tochter erschlägt und die Fahne des Aufruhrs entrollt, ist vom Volk gefeiert worden; und der Ehegatte, welcher den Verführer seiner Frau tödtet, wird noch heute von Schwurgerichten meist freigesprochen. Was aber haben die zwei Bankiers von Wien und Stuttgart , was hat der Apotheker von Straßburg gethan, um die politische Partei zum äußersten Akte der Nothwehr oder der Rache zu veranlassen? Genug! Wir mögen das Handeln der Kammerer und Stellmacher noch so vorurtheilslos betrachten, uns noch so sehr bemühen, Gründe der Recht- fertigung oder Entschuldigung zu finden— dies ist einfach unmöglich, und zu Gunsten der Raubmörder können wir nichts Anderes anführen, als daß sie nicht zurechnungsfähig waren. Und Mangel an Zurechnungsfähigkeit wollen wir gerne auch den traurigen Gesellen(wenigstens einem Theile derselben) zuge- stehen, die durch ihre blutrünstigen Rinaldo Rinaldini-Phrasen die Stell- macher und Kammerer zu Raubmördern gemacht haben, jedoch mit dem Unterschied, daß uns die Achtung, welche wir dem Muth der That, und selbst der verbrecherischen That, zu zollen genöthigt sind, diesen feigen Zungendreschern gegenüber durch das Gefühl der tiefsten Ver- a ch t u n g abgelöst wird. Wichtiger als diese psychologischen Erwägungen ist für uns die politische Tragweite der Geständnisse Stellmacher's und Kammerer's. Hier liegt die Sache so klar, daß wir uns ganz kurz fassen können. Durch das schmachvolle Verfahren der Behörden zur Wuth aufgestachelt und durch die Unmöglichkeit, auf gesetzlichem Wege sich Recht zu ver- schaffen, zur Verzweiflung getrieben, hat ein großer Theil der österreichi- schen Arbeiter an den anarchistischen Phrasen Gefallen gefunden und der Sozialdemokratie, die zu gewissenhaft war, den Leidenschaften zu schmeicheln, den Rücken gekehrt. Die Geständnisse Stellmacher's und Kammerer's haben die Situation mit einem Male geändert. Räubmörder sind die österreichischen Arbeiter so wenig wie die deutschen; und den Raubmord halten sie so wenig wie die deutschen Ar- beiter für eine revolutionäre That. Sie werden sich mit Ekel von einer„Partei" abwenden, die, unfähig, das Volk zu einer Revolution zu organisiren, nichts Anderes fertig ge- bracht hat, als ein paar geistig vernachlässigte Menschen zu Raub- Mördern zu dressiren. Nach den Geständnissen Stellmacher's und Kammerer's kann von einer anarchistischen„Partei" in Oesterreich nicht mehr die Rede sein. — Aus Berlin ist wieder ein Genosse, der Tischler W. Grothe, ausgewiesen worden. Vor den Wahlen wird sich dies noch oft wiederholen, und je näher die Wahlen kommen, desto toller wird's die Polizei treiben. Abgesehen von ihrer natürlichen Bruta- lität treibt sie dabei einen doppelten Zweck: einmal für ihre antisemitisch- agrarisch-polizei- und pfaffensozialistischen Schützlinge Lust zu machen, und womöglich einem derselben zum Sieg über die Fortschrittspartei zu ver- Helsen . Und zweitens hat die Polizei auch lebhaftes Interesse daran, Krawalle zu provoziren. Für Junker Bismarck sind die nächsten Wahlen von ungewöhnlicher, wahrscheinlich entscheidender Bedeutung. Es sind aller Voraussicht nach die letzten Wahlen, welche unter dem alten Kaiser vorgenommen werden, der seinem treuen Otto bekanntlich carte blanche gegeben hat. Fallen die nächsten Wahlen zu Gunsten des Junkers Bismarck aus, so kann dieser bei eintretendem Thronwechsel auf die Thatsache pochen, daß er die Nation hinter sich hat, und seine Hausmeierstelle wird ihm nicht leicht genommen werden können. Fallen die Wahlen aber der Mehrheit nach oppositionell aus, so wird es, bei eintretendem Thronwechsel, dem Junker Bismarck nicht leicht werden, seinen Hausmeierposten zu behaupten. Der Mythus vom„liberalen Kronprinzen ist zwar eine Kinderei— und beiläufig eine Kinderei, die der Fortschrittspartei recht schlecht bekommen ist— immerhin ist für Junker Bismarck auf„unfern Fritz", der ein ziemlich mißtrauischer Mann ist, kein so felsenfester Verlaß wie auf den heldenkaiserlichen Vater, und da muß denn Alles drangesetzt werden, daß die Wahlen gut verlaufen. Von der Rolle, die das„rothe Gespenst" bei den politischen Haupt- und Staatsaktionen des Junkers Bismarck zu spielen hat, war in diesem Blatte schon öfters die Rede. Die neuerlichen Versuche, mit diesem nütz- lichen Regierungsmittel zu manipuliren, sind nicht recht gelungen. Aus dem Niederwald-Attentat läßt sich, trotz übermenschlicher Anstrengungen, kein genügendes Kapital schlagen, weil der Polizeicharakter des Arran- geurs eben gar zu notorisch ist; noch kläglicher oder lächerlicher sind die übrigen Attentate, mit denen das Publikum seit Beginn der sauren Gurkenzeit regalirt wird; und da der„eiserne Kanzler" nicht leicht von einem Vorsatz abzubringen ist und ja auch über das nöthige Kleingeld— der deutschen Steuerzahler verfügt, so müssen wir aus allerhand Ueberraschungen gefaßt sein. Das„rothe Gespenst" m u ß eben in Requisiion gesetzt werden, und geht's nicht mit Attentaten, so geht's vielleicht mit Putschen, Krawallen und Aufruhr. Wie leicht ist ein„Aufruhr" gemacht! Wir sahen es neulich bei dem Altonaer Prozeß gegen die„Aufrührer" von Friedrichsruh . Man geht gemüthlich spazieren, wird von einem ungehobelten Polizisten angerempelt, läßt sich das nicht gefallen, und ist ein„Aufrührer", nach Ansicht der Staatsanwaltschaft und Polizei. Im Friedrichsruher Fall waren die Geschwornen zum Glück der Angeklagten nicht gleicher Meinung wie Staatsanwalt und Polizei, sonst wären die „Ausrührer" schlecht weggekommen. Ein andermal sind die Geschwornen vielleicht nicht so vernünftig; und für die Polizei ist es doch eine Klei- nigkeit, jeden Moment einen Aufruhr ä la Friedrichsruh in zehnmal, hundertmal vergrößerter Auflage herzustellen. Genug— Bismarck braucht das„rothe Gespenst" und— wir dürfen dessen gewiß sein— auf die eine oder andere Weise wird man versuchen, es heraufzubeschwören. Das Hauptversuchsfeld wird aber allem Vermuthen nach Berlin sein. — Die Ausweisungen häufen sich. Auch der Vorsitzende des Arbuter-Bezirksuereins des Westens von Berlin , der Zigarren- Händler Otto E i t n e r, hat den berühmten Rt a d a i'schen Liebesbrief erhalten. Es liegt unzweifelhaft S y st e m in diesem Vorgehen. Weder Grothe noch E i t n e r haben sich besonderer, zur Verfolgung Anlaß gebender Handlungen schuldig gemacht, sie haben gethan, was Hunderte, Tausends von Arbeitern in Berlin thun, sie haben an Arbeiterversamm- lungen, an Arbeiterorganisationen Antheil genommen— Dinge, die, wenn sie eine Ausweisung rechtfertigen würden, ihnen und Anderen schon seit mehr als Jahresfrist eine solche hätten zuziehen müssen. Aber es handelt sich nicht um Ahndung irgend einer strafbaren— wenn auch nur nach preuhisch-polizeilichen Begriffen strafbaren— Handlung, sondern nur darum, den Arbeitern Berlins immer wieder zu zeigen, daß über jeden von ihnen das Henkerbeil polizeilicher Willkür schwebt. Wie die Erziehungskunst einer gewissen Sorte von Pädagoge» lediglich in Erregung von Furcht vor der Ruthe besteht, so soll bestän- dige Furcht das politische Erziehungsmittel der Arbeiter sein. Jndeß sind die Arbeiter keine Kinder, und wenn sie in gewöhnlichen Zeiten der polizeilichen Ruthe spotten, so wissen sie doch die Gemeinheit, die in der Anwendung solcher Kampsmittel ihnen gegenüber liegt, voll und ganz zu würdigen und werden, deß mögen die Madai und Konsorten sicher sein, nicht ermangeln, im gegebenen Moment auf all' die Unbill, die ihnen widerfahren, die gebührende Antwort zu ertheilen. Wer Wind säet, wird Sturm ernten; wer Willkür schalten und walten läßt, hat sich nicht zu beklagen, wenn ihm eines Tages Lynch' j u st i z antwortet! — Ein Opfer der deutschen Ju st iz. Unter den deutschen Gerichten, die sich durch servile Liebedienerei gegen die Gewalthaber besonders auszeichnen, steht in erster Linie das H annover'sche Landgericht, von dessen Thaten, verübt gegen Mitglieder der Sozialdemokratie und gegen„Welsen", wir schon wiederholt zu berichten hatten. Jetzt haben wir ein neues Schandstückchen mitzutheilen, dem der Stempel der Tragik ausgedrückt worden ist, indem es ein hoffnungs- volles Menschenleben gekostet hat. Genosse Bogler in Hannover wurde vor einiger Zeit unter dem Verdacht der Verbreitung des„Sozialdemokrat" in Untersuchungshast genommen; die Staatsanwaltschaft erhob Anklage und am 25. Juni fand die Gerichtsverhandlung statt. Das Landgericht verurtheilte Vogler zu einer Gefängnißstrafe von sieben Monaten— ein Strafmaß, das bisher für dieses k ü n st l i ch e Verbrechen, das in den Augen keines anständigen und verständigen Menschen überhaupt ein Ver- brechen ist, selbst in Deutschland unerhört war. Vogler, der während der Verhandlung äußerlich wenigstens seinen Gleichmuth bewahrt hatte, nahm das Urtheil mit scheinbarer Ruhe hin; allein in der Einsamkeit der Gesängnißzelle muß es arg an ihm genagt haben— genug, die Aussicht aus die endlose Haft und das zerstörte Familienglück war zu viel für ihn; Sonntag, denk. Juli, elf Tage nach dem schmachvollen, durch gemeine Servilität und Bosheit diktirten Urtheil, fand ihn der G e f än g ni ß w ä r t e r des Morgens er- hängt in der Zelle vor. Wir bahren den Todten in unserem Gedächtnisse auf und werden nicht verfehlen, zu gelegener Zeit die Leiche des Gemordeten seinen Mördern und deren Helfershelfern unter die Augen zu halten wie weiland 1848 das Volk von Paris und Berlin seine Todten aus- bahrte und das Werk der Nemesis verrichten ließ. Des Gemordeten, schrieben wir. Und ist das nicht Mord, richtiger Mord im schlimmsten Sinne des Wortes, wenn sieben Menschen kalten Blutes einen Mitmenschen, weil dieser, seiner ehrlichen Ueberzeugung folgend, eine an sich verdienstvolle, den sieben Männern aber nicht gefallende Handlung begangen hat— in eine so verzweislungsvolle Lage und Stimmung bringen, daß der Unglückliche Hand an das eigene Leben legt? Ob der Mord direkt oder i n d i- rekt verübt worden ist, das bleibt sich für die moralische Schuldfrage ganz gleich. Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß vor dritthalb Jahren in Dresden , während des dortigen Schreckensregiments, Genosse Büngert in ähnlicher Weise indirekt ermordet worden ist. Wir vergessen unsere Todten nicht! —„Und häng' ein Kalbfell um die schnöden Glie- der!" Das Verhalten der„oberen Zehntausend" gegenüber der Cholera zeigt wieder einmal recht deutlich die jammerlose Haltlosigkeit dieser „guten" Gesellschaft. Wir verlangen von Nieinand, daß er sich aus puren« Heldenmuth der Gefahr aussetzt, dieser Seuche zum Opfer zu fallen, wir begreifen und dilligen es selbstverständlich, wenn alle Maßregeln er- griffen werden, Individuen und Gemeinschaften vor denselben zu schützen, ja wir verstehen es sogar, wenn besonders ängstliche Naturen einen Ort, wo die Cholera ausgebrochen meiden oder fliehen— aber die Panik, welche die„oberen Zehntausend"— dieselben Kreise, in denen der Pessimismus, die Philosophie der Weltverachtung grassirt, wo man über den materialistischen Geist der Zeit h e u l m e i e r t, und sich zum Spiritualismus, Spiritis- m u s und ähnlichen geistigen Erbauungs-„Jsmen" bekennt— die Panik, welche die„fromme Bourgeoisie für ihr irdisches Dasein zur Schau trägt, übersteigt noch das Kriterium der Lächerlichkeit und ver- trägt nur eine Bezeichnung: verächtlich. Man lese nur die Berichte aus den Ortschaften, wo sonst im Sommer die Herrschaften sich von den Strapazen des Winters zu erholen pflegen! Ueberall erwartet sie doch in den vornehmen Hotels der größte Komfort; was die Wissenschaft an Schutzmitteln gegen Cholera und sonstige Infektionskrankheiten bis- her ermittelt, steht ihnen im ausreichendsten Maße zur Verfügung, aber Alles das genügt ihnen nicht: jeder Ort, wo nur eine entfernte Mög- lichkeit gegeben ist, daß nian— beileibe nicht etwa angesteckt sonder» nur von Cholerakranken etwas hören könnte, ist verfehmt, wird peinlichst gemieden, und wäre er ein Paradies auf Erden. So wird z. B. dem„Wiener Tageblatt" aus L u g a n o, im schweizerische» Kanton T e s s i n, geschrieben: „Hier ist zur Zeit nicht ein Fremder! Alles geflohen, Niemand komim her! Die Dampfboote aus unserem See haben Winterkurs, weil Nie- mand außer uns Einwohnern fährt. Am L a g o M a g g i o r e ist es auch so." Einem Briefe aus L u z e r n entnimmt dasselbe Blatt: „Der Fremdenverkehr ist aus Null gesunken. Ich bitte, das wörtlich zu nehmen. Es ist kein Fremder hier. Alle Geschäfte liegen darnieder, die ganze Saison ist verloren. Diejenigen„hohen Herrschasten", welche am Vierwaldstättersee sitzen, waren schon vor Ausbruch der Cholera ge- kommen, so beispielsweise im„Hotel Axensels" bei Brunnen die Herzogin von Schleswig-Holstein , die Schwiegermutter des Prinzen Wilhelm vo» Preußen— die Zugvögel aber, die das meiste Geld hereinbrachten, sind alle ausgeblieben, wie mit einem Schlage. Cholera! Cholera!" Und die Berliner„Volkszeitung" schreibt: „Eine babylonische Verwirrung herrscht jetzt unter den Touristen. Dio fünftägige Quarantäne an der italienischen Grenze sperrt ihnen Ober- Italien , und die Wenigsten wissen, daß der Weg durch Oesterreich übet Verona noch frei ist. Alles wendet sich nun nach Tyrol, von wo be- reits eine Rückfluth beginnt, weil die Hitze dort nicht zum Ertragen ist- Die Nord- und auch die Ostseebäder profitiren davon, denn die Flüch- tigen retiriren meist an die Meeresküste. Zu Passe kommt hierbei die neue Einrichtung der vierwöchentlichen Saisonbillets nach den Nordsee - bädern, welche eben jetzt in Wirksamkeit tritt. Das Cholera- g e s p e n st schädigt die Geschäftswelt aller Orten enorm." Das Cholera g e s p e n st— das ist der richtige Ausdruck. Das Ge- spenst! Und nicht etwa nur bildlich genommen, nein, auch in seiner — wie sagen wir doch gleich!— materiellsten Bedeutung. Wer unsere gebildete Gesellschaft nicht kennt, hat keine Ahnung, wie viel Aberglauben in derselben noch herrscht. Deutschlands großer Staats- mann, von dem Busch'chen in dieser Beziehung so Manches ausplaudert, und dessen Vorliebe für Krähenherzen bekannt ist, macht keineswegs eine besondere Ausnahme: uns ist z. B. bekannt, daß ein hervorragender deutscher Kriminalist, Parteiführer und Parlament«- rier ersten Ranges, den Krankheit seit einiger Zeit der öffentlichen Thätigkeit entzogen, jüngst eine„ S y m p a t h i e- K u r" an sich voll- ziehen ließ. Warum sollte er auch nicht? Haben sich doch auch Philo- sophen gefunden, die den„Wundern" des S o m n a in b u l i s m u s eine wissenschaftliche Grundlage zu geben wußten und gelassen den Satz aussprachen; daß„ein ungebildeter Mensch, d. h. ein Mensch, der vom Bau des Körpers, von der Funktion der verschiedenen Organe absolut nichts weih, iin magnetischen Schlafe von Diagnose(Er- kennung der Krankheit) und Therapie(Heilmethode) mehr versteht, als ein hochgebildeter Arzt im Wachen." Gespensterfurcht— ja, die Angst vor dem Tod verfolgt sie wie der schwarze Reiter der Fabel. Wie weit ihre abergläubische Furcht geht, mag an einem Beispiel gezeigt werden. Im vorigen Hochsommer verunglückte in Graubünden ein junger Franzose bei einer Gletscherpartie; man brachte ihn als Leiche in sein Hotel zurück. Hier konnte von A n st e ck u n g doch keine Rede sein, aber nichtsdestoweniger reiste sofort mehr als die Hälfte aller Gäste des be< treffenden Hotels ab— sie wollten von Tod und Sterben nichts wissen.
Ausgabe
6 (24.7.1884) 30
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