Wenn man sich nun angesichts dieser Thatsache srägt, wie es möglich ist, daß ein Schurke von Kapitalprotz das geheime Wahlrecht aus eine solch' nichtswürdige Weise verletzen kann, so kann Schreiber dieses, der mit den einschlägigen Verhältnissen benannter Distrikte genau bekannt ist, die Antwort daraus geben. Es herrscht nämlich in diesem Kohlenrevier die gute Sitte, daß wenn eine Zeche Arbeiter entläßt, man die übrigen Zechen davor warnt, den von elfterer entlassenen Arbeitern Arbeit zu geben. Wie mag da das Herz so manchen Arbeiters geblutet haben, als er sich vor die Wahl gestellt sah, entweder einem Kandidaten bismärckischer Färbung seine Stimme zu geben oder— entlassen zu werden! In Gelsenkirchen haben sogar einige Bürger zu Gunsten einiger Arbeiter, welche bei der Bochumer Wahl für den ultramontanen Kandi- daten Schorlemer Stimmzettel vertheilt hatten und darauf von ihrem „Brotherrn"— selbstredend ein Bismärcker!— entlassen worden sind, einen Aufruf erlassen. So springt dies Kapitalistengesindel mit dem Proletariat um, so achten diese Schurken das geheime Wahlrecht! Warum nun genannte Zentren für die Sozialdemokratie vorderhand noch verschlossen bleiben, darüber wollen wir hier auch Ausschluß geben. Man hat dort fast überall christlich soziale und katholische Arbeitervereine gegründet, in welchen entweder ein Pfaffe den Vorsitz führt oder doch auf die betreffenden Vereine einen großen Einfluß ausübt. Wenn aber erst jenes infamste aller Gesetze, das Sozialistengesetz, über den Haufen geworfen ist und in jenen beiden Wahlkreisen, Bochum und Dort- m u n d, und ebenso in Essen, eine wirksame und energische Agitation entfaltet wird, dann kann es nicht fehlen, daß trotz aller Schurkereien der Trabanten Bismarck' s diese Kreise der Sozialdemokratie zufallen. Bochum ist, nebenbei gesagt, der zweitbevölkertste Kreis Deutschlands . Was nun die materielle Lage der Arbeiter im westfälischen Kohlenrevier anbelangt, so läßt solche, wie ja auch nicht anders zu er- warten ist, sehr viel zu wünschen übrig. Der Verdienst beläust sich auf Mk. 2 bis 2,5i) pro Schicht bei achtstündiger Arbeitszeit, wenn es hoch- kommt, auf 3 Mk. Wenn man nun die anstrengende und gefahrvolle Arbeit eines Bergmannes erwägt, dann klingt ein Taglohn von 2 bis Z Mk. fast unglaublich. Das ist aber noch nicht Alles. Im Sommer, wo der Absatz der Kohlen nicht so groß ist wie in der jetzigen Jahreszeit, müssen auf den meisten Zechen die Arbeiter im Durchschnitt wöchentlich eine Schicht feiern, und endlich— dieses Thema ist in den letzten Tagen von Blättern verschiedener Parteischattirungen vielfach besprochen worden— die einheimischen Arbeiter werden durch die Konkurrenz der fremdländischen eingewanderten oder auch importirten sehr gedrückt. AIS Exempel nennen wir nur die P o l e n, welche im Kreise Bochum allein in einer Anzahl von mehreren Tausenden vertreten sind. Wenn man sich die Lebensart dieser Leute, welche schon nicht mehr menschlich genannt werden kann, betrachtet, dann wundert man sich wahrlich nicht, daß dieselben billiger arbeiten können und den einheimi- sch-n Arbeitern somit eine ganz empfindliche Konkurrenz machen. Die Lebensart der Polen aber erklärt sich aus dem ökonomischen Verhältnisse des polnischen Proletariats dem polnischen Krautjunkerthum gegenüber. Unsere Sozialresormer thäten daher sehr wohl daran, einmal einen Blick in genannte Kreise zu werfen, sich das große Elend, das dort in den Arbeiterhütten herrscht, anzusehen, um die Ueberzeugung nach Hause zu nehmen, daß weder ein Krankenkassen-, noch ein Unfallvcrsicherungs- gesetz diesen wie überhaupt den Arbeitern einen Nutzen bringt, sondern nur eine auf sozialistischem Boden durchgeführte Staatshilfe, und daß die Männer, welche vorgeben, den Arbeitern Helsen zu wollen, deren Gesicht aber— um mit Bismarck zu reden—„in den Schleier des Propheten gehüllt ist", alle Ursache haben, dafür zu sorgen, daß die Funken, welche bereits hie und da auffliegen, nicht zu lodernden Flam- men angefacht werden. Jedoch diese Leute wollen nicht sehen, sie sind in der That die „ewig Blinden ", von denen der Dichter spricht. Gr. Demokratisch! Eine Mahnung zur Massenagitation. II.') Das Verfahren zur Belehrung der Massen wollte ich er- läutern. Jetzt kommt also das Universalheilmittel! Eine geniale, noch nie da- gewesene Idee! Eine wunderbare Schöpfung eines erleuchteten Geistes! D a s ist es nicht. Es ist eine uralte Sache, das Rezept aller revolutionären Gesell- schaften, die es je gegeben— welches auch schon bei uns vorgeschlagen, aber noch nicht zur Aussührung gekommen ist: Zehner- oder Fünfer- oder noch kleinere Gruppen bilden, welche mit einander nur durch je ein Mitglied in Verbindung stehen. Als das Sozialistengesetz zum ersten Male im Reichstag berathen wurde, sagte Bebel in einer Rede zu den Reaktionären ungefähr: „Bilden Sie sich doch nicht etwa ein, daß Ihnen Ihre Versammlungs- und Preßverbote das Allermindeste nützen. Eher schaden. Jetzt agitirt Der und Jener. Unter Ihrem infamen Gesetze agitirt Jeder. D>s „Hetzrede", die jetzt in der Versammlung Hunderte hören, wird das Zwiegespräch von Tausenden sein. Jede Kinderschule wird Versammlungsraum. Mit Ihrem Gesetze wird die Bewegung unwiderstehlich." sSo wenigstens dem Sinn nach.) Ich las die Prophezeiung mit Begeisterung. Natürlich, wir mußten reißende Fortschritts machen in der Zahl der Anhänger. Wenn ich Jedem die ganze unglaublich lange Zeit von einem Jahre laffe, um nur einen einzigen Anhänger zu gewinnen, so haben wir: im ersten Jahr „ zweiten„ „ dritten„ „ vierten„ „ fünften„ d. h. unsere Wählerzahl. Dann sind wir ja heute in Deutschland nicht nur die Herren, sondern auch über den Sozialismus einig. Es kommt nur auf eine Multiplikation an.") Was ist bis heute davon wahr geworden? Es findet eine Art geheimer Agitation statt. Wie sie ist, läßt sich nicht aus der Beobachtung beschreiben, denn der Einzelne kennt sie grundsätzlich nicht; aber schließen läßt sich, daß sie vom Ideal sehr weit entfernt sein muh. Man verwendet viel weniger Mühe darauf, neue 500,000 1,000,000 2,000,000 4,000,000 8,000,000 ') Wir verweisen auf die Anmerkung zu I. ") Bei der aber gewöhnlich vergessen wird, daß unsere Bewegung auf bestimmte Elemente der Bevölkerung angewiesen ist— Ausnahmen zählen nicht— und in gewissem Sinne auch örllich gebunden ist. Uns »st z. B. ein Jndustriestädlchen bekannt, in welchem seit 10 Jahren der sozialistische Kandidat regelmäßig bei jeder Wahl zwei Drittel aller Stimmen erhält, während das dritte Drittel sich auf die Ordnungs- Parteien vertheilt. Eine Steigerung zu unseren Gunsten ist nicht möglich, weil das Stimmenverhältniß dem Verhältniß der Bevölkerungsklassen zu einander entspricht. Unter sich haben die Arbeiter gar keine Veran- laffung zur Agitation— höchstens zur Festigung. Nun sind die Eifrigsten unter ihnen wiederholt an Sonntagen aus Agitation in die Umgegend gewandert, aber auf den D ö r f e r n hört die so plausible Multiplikation vollends aus. Da wird es einem vielmehr plötzlich klar, daß es mit den so verführerisch wirkenden Laffalle'schen Zahlen eben auch sein Häckchen hat. Wir wollen damit natürlich nicht sagen, daß der Verfasser, dem diese Dinge zweifelsohne auch bekannt sind, etwa Unrecht habe, wenn er meint, daß in der Agitation noch viel mehr geleistet, viel zweckmäßiger verfahren werden könne, sondern haben diese Gelegenheit nur benutzt, um den obenerwähnten Umstand klarzulegen, der vielfach in unseren Reihen außer Acht gelassen wird, während, wenn man ihn gebührend ins Auge faßt, man sowohl vor Illusionen als auch vor kleinmüthiger Verzagtheit,„weil die Sache nicht so schnell vorwärts geht", ge- schützt ist. Die Frage der Flugblätterverbreitung wird dadurch natür- lich nicht beeinflußt. Die Redaktion. Anhänger zu schaffen, als eine, stellenweise nicht sehr glückliche Verbin- bindung herzustellen zur Ermöglichung des Verkehrs unter unseren besten Kräften. Das kann zunächst nicht anders sein. Die überzeugende, klare Entwicklung der sozialistischen Lehren, das Halten der„Hetzreden" ist eine qualifizirte Arbeit. Die kann nicht Jeder leisten. Erst recht nicht in der unparlamentarischen Unordnung des Zwiegesprächs. Das erfordert eine geistige Beweglichkeit, Schlagfer- tigkeit und Selbstständigkeit, zu welcher unsere jämmerlichen Schulen die Massen nicht entfernt bringen. Es kann also nicht„Jeder Agitator sein" in dieser Weise. Er kann es aber sehr gut sein, wenn man nur eine rein mechanische Thätigkeit von ihm verlangt. Man muß ihm die Aufgabe stellen, ein Flugblatt zu verbreiten. Aber verbreiten nicht in dem Sinne, daß er Hunderte austheilt. Das ist unmöglich. Man heiße und erlaube dem Einzelnen, nur 2—3 Exemplare an den Mann zu bringen, aber un- mittelbar. Das ist das Höchste, was billigerweise heute von ihm verlangt werden kann, und ist auch völlig genug; wenn er regeluiäßig geschickte Flugblätter vertheilt, empfängt und verbreitet er eine Bildung, die für unser Ziel der wcrthschaftlichen Ausklärung vollkommen genügt, aber nimmermehr durch mündliche Mcttheilung erzielt werden kann. Die Flugblätter müssen ihm von einer Stelle geliefert werden, welche selbst nur 2—3 derartige Verbreiter bedient. Diese erhält ihre zirka>0 Stücke wieder von einer derartigen Stelle, welche etwa 30 Stück, aber nur in 3 Theilen, vertheilt u. s. w. Auf diese Weise werden mehrere große Vortheile erzielt: 1) D i e Agitation bekommt einen bestimmten, eng- begrenzten Zweck. Daß bisher das Ziel der Gruppen ein zu großes, zu unbestimmtes, allgemeines war, hat in vielen Fällen ihre Auslösung bewirkt, ihre Gründung im Allgemeinen verhindert. Wie sollen die Leule zusammen- kommen, um den„sozialen Staat" zu gründen oder„die sozmle Revo- lution vorzubereiten"? Bei diesem Programm haben sehr Viele schon Furcht; wenn aber Leute ernstlich daraufhin sich versammeln, können sie nichts machen, als die Zeit mit chikanöser Kassenlon.role verplem- pern und immer neue Organisations- und Agitattonsanträge aushecken. Zur einfachsten regelmäßigen Lektüre, etwa einer Laffalle'schen Schrist, kann es schon wegen der vielen räumlichen, zeitlichen und pekuniären Hindernisse nicht kommen. 2) Die Betheiligung an der Organisation wird völlig gefahrlos. Jeder gibt seine Blätter, sei es einzeln, sei es in Paketen, nur an solche Leute ab, welche ihn aus persönlichen Gründen nicht verrathen. Die allgemeine Ehrenhastigkert oder Parteitreue braucht gar nicht angerufen zu werden. Zwei oder drei solcher Leute hat aber Jeder. Wenn man jetzt oft klagen hört:„Man kann sich aus Keinen mehr verlaffen",„es ist keinem Einzigen mehr zu trauen", und man geht von dem allgemeinen Urtheil aus die besonderen bitteren Ersahrun- gen, die traurigen Thalsachen zurück, aus denen es gezogen wurde, so zeigt sich, daß der verstiininte Psffiinist sein Vertrauen nicht blos auf feine intimsten Freunde, sondern allgemein aus seine Kameraden ausgedehnt hat, etwa auf die Genossen seiner Werkstatt. Soweit darf man bei unseren verdorbenen sozialen Zuständen freilich nicht damit gehen. Die Gesahr des Verrathes ist bei dem vorgeschlagenen Verfuhren auch deshalb sehr gering, weil die mcisten Empfänger von Flugblättern zugleich Verbreiter sind und also sich selbst angeben würden, wenn sie denunzirten. Wenn ich rund 00,000 Flugdlätter verbreiten will, durch wiederholte Theilung der Pakete in drei Theile, so muß ich die- selben durch 10 Hände gehen lassen(gäbe genau 58,863). Es haben dann von den 60,000 möglichen Verräthern etwa 30,000 die Miffethat selber begangen. Wenn ich 60,000 so, wie jetzt deliebt wird, vertheile, daß jeder Vertheiler schließlich Material für ein paar Häuser hat(>agen wir 100 Blätter), so sind unter den 60,000 Empfängern, die Verrath üben könnten, höchstens 700 Verbreiter. Es ließe sich die Sicherheit vor Verfolgung durch die Polizei noch weiter behandeln. Ich will aber davon abbrechen und in einem dritten Abschnitt noch zwe» andere wesentliche Vortheile meines Borschlages erörlen. Sozialpolitische Rundschau. Zürich , 17. Dezember 1884. — Mahnende Vorzeichen. Man hat den Deutschen oft spöt- tisch nachgesagt, daß sie mit einem Polizeistock aus die Welt kämen, und in der That wird den Bewohnern des Reiches der Gottesfurcht und srommen Sitte von frühester Jugend auf ein so heiliger Respekt vor der Polizei eingeflößt, daß sich ein eingefleischter deutscher Normal- spießbürger gar nicht vorstellen kann, wie es in einem Lande zugeht, wo die Polizei nicht allmächtig, allwiffend und allgegenwärtig— letzteres wenigstens da, wo sie nicht hingehört— ist. Nur wenn man den kolossalcn Einfluß der Polizei in Deutschland kennt, begreift man es, warum die sozialistischen Arbeiter die Niederträchligkeiten derselben ver- hältnißmäßig ruhig über sich ergehen ließen; angesichts seiner ist vielmehr schon der Umstand, daß sie sich von der Polizei nicht in's Bockshorn jagen lassen, vie Art, wie sie sie hin er'S iiicht zu führen verstehen, ihrer Wirk- samkeit spotten, ihr jeden Tag beweisen, daß sie im Grunde nichts kann, wenn man ihr nicht gehorchen will, höchst anerkennenswerth. Neuerdings aber sind an mehreren Orten Anzeichen zu Tage getreten, welche erkennen laffen, daß die Arbeiter anfangen, die Geduld vollends zu verlieren, und Lust verspüren, der Poli-ei mehr zu zeigen als ihre geistige Ueberlegenheit. Die Erbitterung über die ohne jeden halb- wegs tristigen Grund beliebten Versainmlungsauflösungen und Verhaf- tungen ist nachgerade aus einen solchen Grad gestiegen, daß ein Hoch auf ihre so mit Füßen getretene Partei den Arbeitern keine Genug- thuung mehr gewährt. In Barmen, in Hannover , in Berlin haben in neuerer Zeit die Arbeiter aus die frechen Provokationen der Polizei mit mehr oder minder direktem Wider st and geantwortet. In Barmen(vgl. unsere heutige Korrespondenz) mußte die Polizei einen Verhasteten herausgeben; in Hannover beantworteten am 6. Dezember die Arbeiter eine Versammlungsauflösung mit Drohungen wider den auflösenden Beamten, einige eröffneten sogar ein Bombarde- ment mit Bicrgläsern auf denselben, und wichen erst vom Platze, als die bewaffnete Gewalt intervenirte. In Berlin wurde am 9. De- zember eine Versammlung im sechste:: Wahlkreis gerade in dem Moment ausgelöst, als der Vorsitzende unserm Genossen K a y i e r das Wort er- theilt hatte. Betäubende Hochrufe, schreibt die„Volkszeitung", waren die Antwort. „An ein Verlaffen des Saales war nicht zu denken, da die Außen- stehenden(die Versammlung war überfüllt!) jetzt mit aller Macht den Eingang zu gewinnen suchten. In dem nun entstehenden engen Gedränge, in das auch beide Beamte mit hineingerathen waren, legte plötzlich der Wachtmeister Hand an e»nen der Anwesenden, um ihn zu verhasten. Kaum war dies geschehen, als sich auch schon die Menge w ü t h e n d dazwischen warf. Ein wildes Ringen, Drängen und Stoßen entstand, in formlosem Knäuel wälzte sich die Maffe im Saale umher, die beiden Beamten machtlos mit sich reißend. Die Besonnenen, einen schlimmen Ausgang befürchtend, rissen die Fenster auf und suchten durch diese einen Weg in's Freie, während der Polizeilieutenant sich gewaltsam Bahn brach und den Saal verließ. Da erscholl plötzlich der Ruf„Raus!" und mit wunderbarer Schnelligkeit wurde der Wachtmeister zum Lokale hinausgedrängt. Jetzt wurde auch der Nothausgang ge- öffnet und langsam entleerte sich nun der Saal." Noch ern st haster gestaltete sich der Kampf am Abend des 12. Dezember in einer behufs Verkündigung des Wahlresultates einbe- rusenen Versammlung. Natürlich war der Saal(der Norddeutschen Brauerei) übersüllt. Hier löste der Polizist die Versammlung auf, als Auer zur Geschäftsordnung das Wort erhielt.„Ein furcht- barer Tumult, schreibt die„Volkszeitung", erhob sich,. der wohl zehn Minuten dauerte, während welcher Zeit Niemand den Saal verließ. (In einem andern Bericht heißt es:„Wie das grollende Rollen des Donners hörten sich die minutenlangen Hochrufe aus Psannkuch und die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten an. Niemand rührte sich von der Stelle.") Da wurde plötzlich unter großem Halloh die Tribüne gestürmt und beide Polizeibeamten hinabgeworsen, welche sich vor der Wuth der Menge in eine angrenzende Lokalität flüchten mußten, deren Ausgang nunmehr durch Tische und Stühle verbarrikadirt wurde. Bei der schließlichen Räumung des Saals durch Schutzmänner kam es zu ernsten Kämpfen zwischen diesen und der im Garten tobenden Menge, in welche die Schutzleute mit der blanken Waffe hineinhieben. Ein Bom- bardement von Stühlen, Bierseideln k. folgte, welche nicht minder wie die Polizeibeamten auch die großen Fenster und Glasthüren des Saales trafen und zertrümmerten. Unter Gesang und Hochrufen zog man nun aus die Straße, wo die Demonstrationen fortgesetzt wurden. Als die Polizei mehrere Verhaftungen vornahm, kam es zu erneuten Kämpfen. Wiederum machten die Schutzleute von der blanken Waffe Gebrauch, doch gelang es endlich der ausgebotenen Polizeimacht, die erregte Menge zu zerstreuen. Roch lange aber ertönten in der ganzen Gegend die Hochrufe auf Psannkuch." Nach einer andern Lesart hätten erst unsere in der Versanimlung anwesen- den Abgeordneten(Auer, Frohme, Hasenclever, Heine) die Menge zum Verlassen des Saales bewegen können. Wohl möglich. Wird aber so fortgewirthschastet, so läßt sich mit mathematischer Sicherheit der Zeit- punkt voraussagen, wo sich die Arbeiter auch von ihren Füh- rern nicht mehr beruhigen lassen und über diese hin- weg ihrem beleidigten Rechtsgefühl Genugthuung zu verschassen suchen. Vielleicht käme so eine kleine Revolte den preußisch deutschen Staats- lenkern ganz erwünscht, da sie mit der Weisheit des Sozialistengesetzes ohnehin am Ende ihres Lateins sind, vielleicht ersehen sie mit Inbrunst den Moment herbei, da„die Flinte schießt und der Säbel haut". Nun, die Herren mögen thun, was sie nicht lassen können. Wir hal- ten es zwar für gewissenlos, die Arbeiter zu Revolten zu provoziren, fühlen uns aber diesem System des zum Narren Haltens gegen- über auch nicht veranlaßt, abzuwiegeln. Wer durch solch nieder- trächtige Gewaltakte das Rechtsgesühl des Volkes herausfordert, der hat auch die Verantwortung zu tragen für alle Folgen, die ein solch systematisches Säen von Haß und Erbitterung nach sich zieht. Lange genug haben die Arbeiter sich diese übermüthigen Versamm- lungsauflösungen gefallen laffen, und noch immer macht man keine Miene, das Sozialistengesetz, das sie unier eine so entwürdigende Vor- mundschast stellt, fallen zu lassen. Wenn der deutlich ausgesprochene Protest von 600,000 Wählern noch nicht genügt, was soll dann noch geschehen, bis man sich entschließt, den Arbeitern ihr elementarstes Recht zurückzugeben? Nein, wir wiegeln nicht ab. Auf euer Haupt die Verantwortung, ihr Herren, wenn den deutschen Arbeitern endlich die Geduld reißt. Tre-bt sie nur mit euren Chikanen zum Aeußersten, ihr, die ihr ja ein herrliches Heer zur Versügung habt, mit dem ihr sie n i e d e r k a r- t ä t s ch e n könnt, wenn sie absolut nicht Ordre pariren wollen! Aber seid ihr auch ganz sicher, daß dieses Heer unter allen Umständen Ordre pariren wird? Ihr seht, welche Wirkungen euer System erzielt, ihr könnt nicht sagen, daß es an warnenden Vorzeichen gefehlt I Treibt's so weiter, wenn ihr entschlossen seid, die Verantwortung für die Folgen auf euch zu nehmen. — Die„Sozialresorm" ist ganz in's Stocken gekommen. Von dem, mehr und mehr in's Gebiet der Sage gerathenden I n v a- liden- und Altersversorgungsgesetz hört man jetzt kein Wort, und kleinlaut wird von den Reptilschreibern zugegeben, daß,„in Anbetracht der großen Schwierigkeiten," die Reichsregierung nicht daran denken könne, dem Reichstag einen bezüglichen Gesetzentwurf noch in der gegenwärtigen Session vorzulegen. Und sogar von dem Reichs- Versicherungsgesetz, welches die Verstaatlichung des gesammten Versicherungswesens bezweckt und seinerzeit auch als ein Stück„Sozial- reform" angepriesen ward, verlautet kein Sterbenswörtchen mehr. Die „sozialresormatorischen" Aufgaben, welche sich„der Oedipus des 19. Jahr- Hunderts" für die laufende Session gestellt hat, sind äußerst bescheidener Natur; sie beschränken sich darauf, einige der skandalösesten Fehler und Lücken des unglücklichen Unsalloersicherungsgesetzes zu beseitigen, oder wenigstens zu mildern. Das heißt:„man" will die im Transport- gewerbe, in der Landwirthschaft und im Forstbetriebe beschäftigten Ar- beiter dem Versicherungszwange unterwerfen und damit einen T h e i l der in Bezug auf die Ausdehnung des Gesetzes von den Sozialdemo- traten gestellten Forderungen zögernd erfüllen. Und ferner ist„man" nicht abgeneigt, auch in Bezug aus die Einsührungssrist gewisse Erleich- terungen zu gewäyren, d. h. wenigstens den in Folge verzögerter Sta- tutenprüfung und-Genehmigung in die Zwangskassen getriebenen Mit- gliedern der freien Kassen den Austritt aus den Zwangskaffen zu erleichtern— allein das ist auch blutwenig, und wahrhaftig keines Dankes werth. Wenn die Reichsregierung in Bezug auf die Einfüh- rungssrist sich einigermaßen tolerant zeigt, so ist das sicherlich nicht auf Sympathie für die freien Hülsskassen zurückzuführen. Der Staatssekretär Herr von Bötticher behauptete zwar am Freitag, gelegentlich der Debatte über den Antrag Grillenberger-Kayser, der Reichsregi-rung liege jede feindliche oder übelwollende Absicht gegen die freien Hülss- lassen fern, allein T h a t e n wiegen inehr als Worte: jede Zeile deS Krankenversicherungsgesetzes athmet Feindschaft und Uebelwollen gegen die freien Hülfskaffen, und das Krankenversicherungsgesetz wäre überhaupt gar nicht da ohne diesen Haß gegen die freien Äülss- lassen, durch den es in's Leben gerufen worden ist. Was die Reichs- regierung zu ihrer etwas toleranten Haltung veranlaßt, das sind die schlechten Erfahrungen, die sie selber mit ihrem Gesetze gemacht hat. Es leidet nämlich, abgesehen von seiner reaktionären Tendenz, in tech- n i s ch e r und rein formeller Beziehung an so zahlreichen und grobe» Mängeln, daß sich der praktischen Ein- und Durchführung außer- ordentliche, von den Behörden bisher nicht zu bewältigende Schwierig- leiten in den Weg gestellt haben. Da ist es denn sehr begreiflich, daß die Regierung in punkto der Durchführung zu einigen Konzessionen ge- neigt ist. Wie lange diese Geneigtheit vorhalten wird, bleibt abzuwarten. Was die geplante Ausdehnung des Versicherungszwanges anbelangt, so ist sie auf ein W a h l m a n ö v e r zurückzuführen. Bekanntlich kün- dete die Reichsregierung ihren Entschluß, eine solche Ausdehnung vor- zunehmen, wenige Tage vor dem 28. Oktober: dem Tage der all- gemeinen Reichstagswahl, an, und zwar in jener, die deutsche Reichsregierung auszeichnenden marktschreierischen Manier, welche die Absicht der Bauern- und Arbeitersängerei deutlich bekundet. Die Regierung hatte sich nämlich während des Verlaufs der Wahl- bewegung, sehr zu iyrem Aerger, davon überzeugen müssen, daß unter den Arbeitern, deren Stimmen durch die„Sozialresorm" hätten gefangen werden sollen, das Krankenversicherungsgesetz, sowie das Unfallgesetz— kurz die gesammte Bettelsuppe der„Sozialresorm" mit absoluter Ein- müthigkeit verurtheilt wurde, daß also der Zweck der„Sozial- resorm" total verfehlt war. Da entschloß sie sich denn, um wo möglich noch auf den Ausfall der Wahlen einzuwirken, zu jener Konzession, und gab dadurch einen neuen Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung, daß die„Sozialreform" dem Fürsten Bismarck nur Mittel zum Zweck ist, und daß er sie blos als Machtsrage im Sinne und zur Förderung seines perjön- lichen Regiments betrachtet. — S. Im Reichstag sind unsere Genoffen thätig, im Plenum sowohl als in den Kommissionen. Der Antrag G r i l l e n b e r- ger-Kayser betreffend die Einsührungssrist des Krankenkassen - g e s e tz e s:c. gab beiden Antragstellern Gelegenheit, das Versayren der Behörden, sowie das Krankenkaffengesetz selbst, einer scharfen Kriiik zu unterwerfen und an der Hand eines erdrückenden Beweisinaterials den Nachweis zu liefern, daß dieses erzreaktionäre Gesetz zur Untergrabung und allmätlgen Vernichtung der freien Kassen benutzt werden soll. Der Antrag wurde vor eine Kommission verwiesen, in welche die sozialdemo- kratische Fraktion K a y s e r als ihren Vertreter hineinwählte. Die Kommcssion war in einer Sitzung mit ihren Arbeiten fertig: sie einigte sich unter Zustimmung der anwesenden Regierungsvertreter dahin, denjenigen Mitgliedern der freien Kassen, die, we:l deren Statuten nicht rechtzeitig(vor dem 1. Dezember) sanltionirt waren, in die Zwangskaffen eintreten mußten, für den Fall der Sanktioniruag den ungehinderten Rücktritt bis zum 1. Juli 1885 zu gewähren. Das ist wenig, aber immerhin etwas. Das Wahlprüfungswesen beschäftigte den jungen Reichstag in seiner Sitzung vom 10. d. M. Um der bisherigen Verschleppung— soweit der Reichstag es in seiner Macht hat— ein Ziel zu setzen, war von der Wah.prüiungskommission, in der jetzt bekanntlich auch zwei Sozialdemokraten sitzen, der Antrag gestellt worden, die Zahl der ttom- missionsmltgtieder von 14 aus 7 herabzumindern, dasür aber die Rese-
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