Der Warschauer Sozialisten Prozeß.Warschau, den 13./25. Dezember 1885.„In dem Prozeß gegen 23, der Theilnahme an der sozialrevolutio-nären Verbindung„Proletariat" Angeklagte ward gestern Abend derUrtheilsspruch gefällt. Die Angeklagten Friedensrichter Bardowski,Geniekapitän Lurie, Student Kunicki, Arbeiter Ossowski, Schmauß undPietrusinSki wurden zum Tode durch den Strang, von denübrigen Angeklagten 18 zu 1«jähriger„schwerer Arbeit" in den Berg-werken. 2 zu 10 Jahren 8 Monaten„schwerer Arbeit" mit lebensläng-licher Ansiedelung in Sibirien und 2 zu lebenslänglicher Deportationnach Sibirien verurtheilt."So lautet die amtliche Note, welche dem hiesigen und auswärtigenPublikum am 21. Dezember den Ausgang des großen, lange vorberei-teten Sozialistenprozesies mittheilte. So trocken-kühl sie lautet, besitztsie für uns polnische Sozialisten eine tiefschmerzliche Bedeutung; 28 un>serer wackeren Genoffen, die im Bordertreffen der Bewegung standen,sind den ruffischen Machthabern in die Hände gefallen und von ihnenvernichtet worden. Die ruflische Despotie sucht ihre Gegner tödtlich zutreffen; sie weiß, warum es sich handelt und ist sich klar darüber, daßder Kampf, welcher zwischen ihr und dem Sozialismus geführt wird,für sie ein Kampf auf Leben und Tod ist. Sozialismus und Despotis-mus können nicht neben einander bestehen, zwischen beiden ist jedes Par-lamentiren, jede Verständigung ausgeschloffen. Dieser Charakter des inPolen und Rußland geführten Kampfes prägt sich auch in dem gefälltenllrtheile aus, das trotz aller Abstufungen, die es scheinbar macht, dochalle Angeklagten gleich tödtlich trifft. Ob zum Tode, ob zur Bergwerks-arbeit, ob zu schwerer Arbeit, ob zu lebenslänglicher Deportation nachSibirien verurtheilt, das ist gleichbedeutend mit der Verurtheilung zumTode. Wohl mancher unserer Freunde, dem scheinbar ein günstigeresUrtheil zu Theil geworden, wird diejenigen beneiden, welchen durch dieTodesstrafe eine Zukunft voll schrecklicher und endloser Qualen erspartwird, denen auch der kräftigste Mensch schließlich erliegen muß.Der oben erwähnte Charakter des Kampfes tritt auch, wie wir nochsehen werden, in dem ganzen Prozeßverfahren zu Tage, das sich in demGerichtssaal der Warschauer Zitadelle abspielte und auf denNamen eines strasgerichtlichen Verfahrens nur insoweit Anspruch machenkann, als ein sogenanntes Gericht den Angeklagten ein in der Haupt-fache schon in Petersburg fertig gestelltes Urtheil verkündete, und zurMotivirung deffelben sich der nichtswürdigsten Mittel bediente.Will man die Bedeutung des Warschauer Prozeffes in der Geschichteder polnischen sozialistischen Bewegung verstehen, dann muß man etwazwei Jahre zurückgreisen. Im Sommer 1883 ward in Wilna ein ruffi-scher Sozialist, Namens Janczewski, Mitglied der Partei„NarodnajaWolja", verhaftet. Janczewski war durch Verfolgungen und Entbeh-rungen sehr heruntergekommen. Er war krank und nervös und befandsich in einer Gemüthsverfaffung, die es den Polizeiorganen leicht machte,verschiedene Geständnisse aus ihm herauszulocken. Welcher Mittel mansich dabei bediente, den sonst so vertrauenswürdigen Mann zur Preis-gebung dieser Geheimnisse zu veranlassen, das ist unbekannt. Sie mögenfurchtbar genug gewesen sein. Thatsache ist, daß Janczewski Alles, waser nur wußte, dem Staatsanwalt aussagte. Da er auch in Warschaulange Zeit für die russische Partei gearbeitet und viele Bekanntschaftenunter den polnischen Sozialisten hatte,.so führte sein Verrath zu Haussuchungen und mehreren Verhaftungen, die im April 1884 stattfandenund den Keim des vorliegenden Prozesses bildeten. Inzwischen war imNovember 1883, leider infolge eigener Unvorsichtigkeit, ein braver Vor-kämpfe» des polnischen Sozialismus, der aus dem Krakauer Prozeß von1373 bekannte L. W a r y n s k i, auf der Straße verhaftet worden. Ob-wohl er mit mehreren später Verhafteten in enger Verbindung gestan-den, ließen weder er noch andere Verhaftete sich zu irgend welchen Ge-ständnissen über ihre Thätigkeit in der sozialistischen Bewegung herbei.Freilich kümmern sich die russischen Gewalthaber darum nicht, ob ihrOpfer sich für schuldig bekennt oder nicht. Man kerkert einfach einenjeden Verdächtigen ein, sucht Material gegen ihn zu beschaffen, so daßman zur„innern Ueberzeugung" gelangt, er sei auch unter den Sozia-listen gewesen. Und damit hat man genügenden Grund, die Verhaftetenin d.r Zitadelle sitzen zu lassen. Darauf greift man ein neues HeerVerdächtiger auf und findet dann Gelegenheit, die Einen gegen die An-dern auszuspielen und aus den Verdächtigen Schuldige zu machen.Die Spione denunzilten zahlreiche Opfer, die sich als Belastung s>Material verwerthen ließen. Außerdem fehlte es nicht an einerMenge von Flugblättern, Nummern des Parteiorgans u. f. w., um dievielen Verdächtigen anklagen zu können. Zum Unglück befanden sichunter den Verhafteten auch solche Personen, die dem Raffinement derllntersuchungsbehörde nicht gewachsen waren und unvorsichtige Aeuße-rungen machten, die später großen Schaden anrichteten.Es wurden nach Aussage des Kommandanten der Festung auf dieseWeise 12 2 Personen verhaftet, mit denen man anfänglich nichts anzu-fangen wußte. Viele Verhaftete, besonders Arbeiter, wurden nur ausdiesem Grunde wochenlang im Gesängniß gehalten, ohne verhört zuwerden.Manche Mitglieder der terroristischen Partei„Proletariat" ließen esauch an der erforderlichen Vorsicht mangeln, und so konnte man Beweisegegen einzelne Personen häufen, andere hinzu verhasten. Die Sacheverwickelte sich mit jedem Tage mehr. Einige Personen, die Protektionhalten, gab man ohne Weiteres, andere gegen Bürgschaft frei, mehrereauch ohne Protektion und Kaution, weil der Staatsanwalt die innereUeberzeugung hatte, daß sie„unschuldig" waren. So verstrich die Zeit.Leider muß man auch, wie gesagt, einige sonst tüchtige Genoffen fürdie ungeheuren Verluste, welche die Partei soeben erlitten, mitverantwort-lich machen, da sie Personen, die nicht genügend zuverlässig waren<unddies war ein offenes Geheimniß), über die wichtigsten Parteiangelegen-heiten informirten. Es kam zum Krach. Besonders zeichnete sich eingewisser Palanowski aus, der seine besten Freunde verrieth, um sichselber zu retten. Zwar wurde Niemand seinetwegen verhaftet, das kannmich aber durchaus nicht abhalten, seinen Namen der öffentlichen Ver-Achtung preiszugeben.Es ward nun nach dem jesuitischen Rezept„der Zweck heiligt die Mittel"ein eigenthümliches Verfahren eingeleitet. Man schleppte dazu Verdäch-tige aus Lodz, Zgierz, sogar aus Kiew und Krakau herbei. Die öfter-reichische Regierung hat noch nie der feelen- oder systemverwandtenrussischen einen Liebesdienst abgeschlagen. Auch ohne einen speziellenAuslieferungsvertrag hat sie so manchen unserer Gesinnungsgenossen,der in den österreichischen Ländern vor den russischen Hetzern Schutzsuchte, wieder ausgeliefert, vielleicht in der Ueberzeugung, daß wenn dierufflsche Despotie zusammenbricht, der Despotismus in M'tteleuropasich keinen Ta i länger halten kann. Uebrigens werden die Liebesdienste,die man in Wien und Berlin dem vor Angst schlotternden Zaren leistet,von diesem hoch aufgenommen. Sie bilden den eigenllichen Kitt derheuchlerischen Freundschaft zwischen den drei Kaisern.Endlich hatte man gegen alle Angeklagten so viel Material beisammen,um die Orgie anfangen zu können. Die Einen wurden angeklagt alsMitglieder der sozialistischen Partei„Solidarnosz", Andere als Partei-gänger des terroristischen„Proletariat", noch Andere als Mitgliederdes soiialistischen Komites des„Rothen Kreuzes", oder als Mitgliederder„Narodnaja Wolja". Einigen wollte man nachweisen, daß sie ander Hinrichtung Sudejkins theilgenommen, Andeie wurden beschuldigt,ein Attentat gegen den Zar geplant zu haben. Verschiedenen konnte manbeweisen, daß sie Spione getödtet oder verwundet. Andere hatten selbstzugestanden, daß sie als Mitglieder des ZentralkomitcS des„Proletariats"verschiedene Spione zum Tobe verurtheilt. Bei einzelnen Angeklagtenhatte man Drucksachen gefunden, bei anderen Broschüren, Zeitungen,Flugblätter, Schriften, oder wichtigeres Anklagematerial, wie Pläne,bei Einigen sogar— angeblich— Dynamit!—Die Untersuchung wurde nunmehr geschloffen. Die geheime Polizeikonnte nichis mehr erschnüffeln, es schien, als ob der Sozialismus aus-gerottet wäre. Dennoch schob man die Entscheidung über das Schicksalder Unglücklichen immer wieder hinaus, unbekümmert darum, daß dietrostlosen nächsten Angehörigen derselben täglich den Prokurator mit derFrage bestürmten, wann das Verfahren endlich zu Ende sein werde.Wochen über Wochen vergingen, bis am 23. August d.J auf der Gens-darinerie den Angehörigen einer großen Zahl männlicher Gefangenensdie Frauen und Mädchen haben keine so nahestehe, den Verwandten)angezeigt wurde, daß ihre Männer und Söhne noch au demselbenTage nach dem Osten verschickt werden würden. Nur eine Frau wareinen Tag vorher benachrichtigt worden.So waren fast Alle außer Stande, die unglücklichen Verbannten mitGeld oder Kleidern auszurüsten. Der sozialistische Verein„das rotheKreuz", der seine Pappenheimer kannte und seine Kasse rechtzeitig bereitgehalten hatte, that zwar sein Möglichstes und rüstete mehrere Verbanntemit Geld und Kleidern aus, aber seine Mittel waren beschränkt, und somußten viele unserer Freunde leer ansgehen.Die Zahl der auf administrativem Wege Verschickten betrug 24, wieimmer, aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten: aus der Intelligenzund der Arbeiterklaffe. Je nachdem es den Schergen des Zaren beliebthatte, wurden sie auf 4—5 Jahre nach Ost- und Westsibirien verbannt.Einiger dieser wackeren Genossen mag an dieser Stelle Erwähnunggeschehen.Zunächst sei hervorgehoben, daß einer der hervorragendsten Leiter derBewegung, Genosse P u ch e w i c z, schon in der Zitadelle seinen qual-vollen Leiden— nach meinem Dafürhalten zu seinem Glück— erlegenwar. Außerdem waren noch mehrere Personen erkrankt, fast alle littenan den Augen! Verbannt wurden die Genossin Frl. Jentys und dieGenossen Slawicki, Handelsman, PaSzhe, Onufrowicz, Byk, Plaschinskiu. s. w. Ueber 10 Personen verhängte man(ohne gerichtliches Urtheil!)Festungsstrafe von 4—1« Monaten.Und wieder warten wir Wochen und Monate darauf, was die hoheRegierung mit den anderen Opfern anfangen werde. Das Endergebnißhat alle unsere Befürchtungen weit hinter sich gelaffen. Kein Mittelwar den zarischen Handlangern zu schlecht gewesen, um zu ihrem Ziel:Befriedigung ihrer rohen Mordgelüste, zu gelangen. Man berauschteeinen Theil der Verhasteten, damit sie in diesem Zustande gegen dieandern aussagten. Nach dem ruffischen Gesetz, das noch aus einer Zeitstammt, wo man in Rußland darauf hielt, als ein europäischer Staatzu gelten, darf kein Angeklagter Zeuge sein. In Ermangelung andererbesserer Zeugen scheute man sich aber nicht, wider das Gesetz zu han.dein, und theilte, um dem schmachvollen Versahren ein beschönigendesMäntelchen umzuhängen, an dem Tag der Komödie— pardon, desKriegsgerichts, den Rest der Verhafteten in Angeklagte und Zeugen ein.Dem Gericht selbst wohnten, wie vorauszusehen, nur die„Richter", dieStaatsanwälte, die Advokaten und die zur Ueberwachung komman-dirten Gensdarmen bei. Freilich auch die Angeklagten und— sobaldman sie brauchte— die Zeugen.Gegen die 28, die man dieses Mal auswählte, hatte man 100 Zeugengesammelt, darunter neben zahlreichen Spitzeln mehrere Sozialisten.Der Anklageakt umfaßte 200 Bogen in Folio und war selbstverständlichkein einheitliches Ganze, sondern bestand aus einer Anhäufung von angeblichen und wirklichen„Verbrechen" einzelner Personen, die gleichzeitigzu verschiedenen revolutionären Parteien gehören sollten. Allerdingswar Mehreres im Anklageakt wahr, aber leider in Bezug auf ganz an-dere Leute, als die Angeklagten. Der Staatsanwalt sprach zwei Tage,um die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Er hätte sich die Müheersparen können, da das Urtheil schon vorher in Petersburg festgesetztwar. Er verlangte 2« Todesurtheile— eine Kleinigkeit füreinen strebsamen Staatsretter. Nach ihm gaben sich die polnischen Ad-vokaten große Mühe, die Richter davon zu überzeugen, daß es keinenpolnischen Sozialismus gebe, sondern daß es sich um ruffische Um-triebe handle. Verlorene Zeit! Weder die Richter wollten, noch dieWelt kann davon überzeugt werden. Man muß aber gestehen, daß dieAdvokaten insofern ihre Pflicht gethan haben, als sie während des Pro-zeffes wiederholt dem willkürlichen und schamlosen Handeln der Unter-suchungsbehörden wie des GerichtSprästvent-n den Heuchlermantel her-untergeriffen haben. Es wurde im Verlauf der Verhandlungen denAdvokaten klar und ist jetzt für das ausländisch- Publikum festgestellt,daß mehrere Angaben mit Gewalt erpreßt worden, daß einigeVerhaftete, die wahnsinnig geworden, dennoch als Zeugen benutzt wordensind u. s. w.Ein förmliches Gewebe der beispiellosesten Niedertracht, der schäm-losesten Justizkorruption war es, was bei diesem Prozeß zu Tage trat.Die Angekla..ten verhielten sich durchweg musterhaft. Man kann ihnenfür ihr Verhalten vor Gericht nur volle Anerkennung rollen. So müffenwir über den Muth und die Klarheit staunen, mit welchen W ary nski,einer unserer wackersten und edelsten Genoffen, sich mit den ä derenAngeklagten solidarisch erklärte und deren Schuld auf sich zu nehmenversuchte.„Ich bekenne mich nicht für schuldig," sagte er in der Sitzung vom14. Dezember,„denn in meinen lleberzeugungen kann ich keine Schuldsehen. Die soziale Revolution Jjetrachte ich als Folge der Geschichte.Unsere Partei beabsichtigte nicht, diese Revolution hervorzurufen; ihrZiel war, die Arbeiterklaffe auf ihr Kommen vorzubereiten. Der Vor-wurf einiger Tödtungen lastet wohl auf uns, es waren dies aber keinegemeinen Morde, keine Ermordung politischer Gegner, sondern Todes-strafen, zu denen wir Verräther verurtheilten. Es schmerzt mich dies,wie mich jeder Todesfall überhaupt, sei es eines Soldalen auf demSchlachtfelde, oder eines Arbeiters unter dem Rade der Fabrikmaschineschmerzt. Und ist es unsere Schuld, daß, wie die Statistik des Gou-vernements Mittel Rußlands, die nach dem Orientkriege aufgestellt wurde,zeigt,— daß in den Fabriken des Gouvernements zweimal so viel Ver-letzungsunsälle vorkamen, als in der blutreichsten Schlacht an derDonau! Ich weiß, daß Sie eine Strafe über mich verhängen werden,obwohl ich weiß, daß es eine unverdiente ist,— ich bitte Sie auch nurum Eines, meine Herren Richter: daß diese Strafe nicht geringer seinmöge als diejenige, die Sie gegen irgend einen meiner Genoffen be-schließen werden."In ähnlicher Art sprach Janowicz, der als Vertreter der Jntelli-genz von den Richtern verlangte, sie sollten die Intelligenz schwerer be-strafen als die Arbeiter.Vorzüglich aber verdient der Heldenmuth des Arbeiters AntonP o p I a w s k i rühmendste Anerkennung,' der sich die Schuld der Tod-tung eines Spions zuschrieb, um einige Genoffen zu retten, obwohl dieAnklage ihn gar nicht damit in Verbindung gebracht hatte.So war, obwohl während der Untersuchungshaft sich nicht alle Ge-fangenen so tapser gehalten als während der Verhandlung, was Nie-manden Wunder nimmt, der die ruffische Untersuchungehaft kennt, derGesammteindruck des Prozesses ein im höchsten Grade erhebender fürdie Angeklagten.Ihr Brüder und Genoffen, die ihr in den Tod und die Verbannunggeht, E ch begleiten die heißesten Grüße der Zurückbleibenden. Sie ge-loben Euch, in Eure Fußstapfen zu treten und ihre ganze Lebenskraftder Sache zu widmen, für die Ihr gefallen. Euch hat ein brutalerGegner niedergeschlagen in dem Wahn, mit Euch die Sache der Unter-drückten und Ausgebeuteten niedergeschlagen zu haben. Er weiß nicht,daß sie unbesiegbar ist, und daß aus dem Blute, in dem er sie zu er-sticken sucht, neue Kämpfer erwachsen werden. Feige Sklaven nur kannEuer Schicksal abschrecken, die bewußten Streiter der Zukunft verpflichtetes zu unerbittlichem Kampfe,'bis der Sieg errungen, bis Euer Laosgesühnt. Alexander.Ein Vorschlag zur Abänderung unseres' Programms.(Eingesandt.)Vor mehreren Monaten fordert- das Parteiorgan die Genossen dazuauf, ihre Meinung über unser Programm und m Bezug auf eine oderdie andere Abänderung auszusprechen. Nichts kann gerechter sein alsdies; denn wir wollen keine ewig feststehenden Glaubensartikel, sondernunser Programm soll der Ausdruck des frisch pulsirenden Lebens derMenschheit sein-Die schweizerischen Bundesgesetze schreiben vor, daß keine Verfassungeines schweizerischen Einzelstaates Anerkennung finden soll, welche nichtd ie Bestimmung enthält, daß sie, wenn die Mehrheit der Einwohnerdes betreffenden Kantons dies zu erkennen gibt, abgeändert werdenkann.Unser Programm ist gewiß eines der radikalsten, welche es gibt—bis auf einen Punkt, welcher nach meiner Meinung eine nicht zurechtfertigende Schwäche verräth.Dies ist der Abschnitt, welcher sich auf die Religion bezieht und welcherlautet:„Erklärung der Religion zur Privatsache."Ich kann mir wohl vorstellen, was die Genoffen bei Aufstellung desProgramms damit bezwecken wollten. Sie sagten sich: Bei dem Kampfauf dem politischen und wirthschastlichen Gebiete sind uns auch Diejenigen willkommen, die noch an dem alten Glauben hängen, denn es istnicht ausgeschloffen, daß Jemand ein guter Sozialdemokrat sein kann,der noch an die Einwirkung eineL höheren Wesens glaubt u. s. w.I. I. Rousseau war ein Sozialdemokrat(?) und glaubte doch noch anGott, allerdings nicht an den der Priester.Andererseits hat man radikale Freidenker gehabt wie Strauß, welcheauf politischem und wirthschaftlichem Gebiete Reaktionäre der schlimmstenSorte waren.Viele von unseren Freunden mögen auch wohl aus dem Standpunkt«Ludwig Feuerbach' s stehen, welcher, obgleich nie ein Mensch mehr alser die Säulen des Kirchenglaubens erschüttert, dennoch nicht aus derKirchengemeinde ausschied, weil er sagte: Der ganze Plunder hat ja zuwenig Bedeutung für mich.Ein anderer Th-il von uns mag vielleicht gedacht haben: Wir habendie Inhaber aller Privilegien nnd Vorrechte zu unseren Gegnern, ladenwir uns also nicht auch noch die Pfaffen auf den Hals; und oftmals,wenn man einen oder den andern von uns bei der.Agitation auf dieHühneraugen trat, wegen unserer Verachtung des Glattbens. antworteteder Agitator: Der Herr Pastor iit vollständig im Unrecht— unser-!Partei läßt Jedem seinen freien Willen in Bezug auf seinen Glauben,Religion ist Privatsache jedes Einzelnen bei uns, so besagen unsereStatuten. Unsere Partei ist also keine kirchenfeindliche Partei. Nochmehr in die Enge getrieben, sagte unsereiner dann wohl noch: Ja, i challerdings— i ch bekenne aufrichtig, daß ich an gar nichts glaube, aberich mache hier keine Bekehrungsversuche für meine Glaubenslofigkeit,fondern für meine Partei.Das hilft uns doch Alles nichts, liebe Genoffen, wir werden dochals Träger des Unglaubens und der Religwnslosigkeit angesehen, undich kann's unseren Gegnern nicht verdenken, daß sie sich durch unserschwächliches Mäntelchen:„Religion— Privatsache" nicht davon abhaltenlaffen, uns als Genossen des Teufels hinzustellen.Beiläufig gesagt, ist mir persönlich das ganz recht, denn der Teufelist die einzige anständige Person in der ganzen christlichen Kirche. Lesetdie B.bel durch— ihr müßt sie aber ganz durchlesen— wenn ihr esnicht glauben wollt.Wer solche Befehle geben kann, wie Gott der Vater 2 Mos. Cap. llV. 2; 1 Samuel. Cap. 15 V. 3 u. s. w., kann auf unsere Achtung keinenAnspruch machen, und wer wie Jesus(Lukas 13 V. 27) anordnet:„Doch jene meine Feinde, die nicht wollen, daß ich über fie herrschensolle, bringet her und erwürget sie vor mir", und siiy dann hinterherso feige vor Gericht benimmt, hat ebenfalls keinen Anspruch aus unsereAchtung, sondern er würde, wenn er Sozialdemokrat gewesen wäre,wegen überspannter Herrschsucht und feigen Verhaltens vor Gericht ausder Partei ausgestoßen worden sein.Ueber das Lumpengesindel, was sich Erzväter u. f. w. nennt, kannich nur sagen: größere Hallunken hat nie die Sonne beschienen; uud derGott Abrahams, Isaaks und Jakobs freute sich stets über ihre Ver-brechen, gemein und zahllos wie dec Sand am Meer.Solche Schandthaten hat der Teufel laut Bibel nie begangen, sonderner wollte nur die Alleinherrschaft des Gottes Zebaot nicht anerlennen,im Uebrigen scheinen die beiden Herren laut Hiob Kap. 1 gar nicht aufso gespanntem Fuße zu leben.Also meine ich— da wir doch einmal Teufelsbraten sind— wollenwir solches auch frei bekennen, und beantrage ich, statt des obigen„Er-klärung der Religion zur Privatsache" zu setzen:„Die Sozialdemokratie betrachtet es als iyre Pflicht, Ausklärung ausallen Gebieten des Wissens, einschließlich der Religion, im Volke zuverbreiten und den Aberglauben in jeder Form und nach jeder Richtunghin zu bekämpfen."Damit würde eine feste Stellung auch auf diesem Gebiete erlangtsein.Vor einem Jahre hatte ich mit einem mir befreundeten, in weitenKreisen bekannten Gelehrten— einem Quellenforscher des christlichenWahnglaubens— eine Unterredung, bei welcher sich dieser über unserenGegenstand wie folgt ausließ:„Mir scheint es fast, als wenn Ihr Euch um diesen Theil EurerAufgabe herumdrücken wollt. Kann ein Volk frei sein, welches in de»Banden der Priester schmachtet? Krone und Altar! das ist noch heute da,Feldgeschrei der Reaktion, das Volk auszuquetschen und dann es nochso in der Abhängigkeit und Unwissenheit zu erhalten, daß es seine Kette«als Ehrenzeichen und seine Erniedrigung als Religion betrachtet, seineFreunde und Erlöser aber zerreißt, wenn es wie der Kettenhund ausuns gehetzt wird. Das ist eben das Ergebniß der Religion, die Kunstder Kirche vereint mit der Macht der volksfeindlichen Regierung."Mein Freund hat Recht.Hört doch, was der Hofprediger sagt:Die Lage des Arbeiterfiandes muß gehoben werden, aber wodurch: idurch Besserung der materiellen Lage, nämlich durch Entlastung vondirekten Steuern und Einführung von indirekten auf allgemeineGebrauchsartikel, Entlastung von der Pflicht, Abgeordnete wählen zumüffen, und durch Wiederbelebung des Glaubens.Was sagt das Zentrum?Die Lage des Abeiterstandes muß gebeffert werdm. Die Mittel sinddieselben wie beim Hofprediger, nur das Wahlrecht des Volkes haltensie, solange dasselbe noch großentheils unter ihrer Führung marschirt,fefi. Und wie halten diese das Volk in der Gewalt?«Dafür nur einen Spaß.Zwei sozialdemokratische Agitatoren hatten in der letzten Wahlkam-pagne in Westfalen in einem katholischen Dorfe, in welchem fast nurIndustriearbeiter wohnen, eine Versammlung abgehalten. Der Erfolgwar geradezu verblüffend, die Masse der Arbeiter gerieth bei den Aus-sührungen unserer Redner in eine selten gesehene Begeisterung und sieforderten letzter- auf, in einiger Zeit eine zweite Versammlung abzu-halten, was auch geschah.Als die zweite Versammlung bei überfülltem Lokale begann, bat derHerr Pfarrer ums Wort. Als ihm geantwortet wurde, daß die Versamm,lung erst konstituirt werden müsse, meinte er, ein Bureau sei unnöthig;er wolle zu seinen Pfarrkindern sprechen, wer damit einverstanden fei,daß er vor Beginn der Versammlung sprechen dürfe, solle sich erheben.Alles stand auf wie ein Mann. Er hielt nun eine Predigt, daß wir dasVolk nur von seinem Glauben abspenstig machen wollten, das Gute,was wir wollten, wollte die Kirche erst recht, wir hätten's ihnen nurabgeguckt u. s. w.Die Arbeitermaffe saß so still wie in der Kirche. Zum Schluß sagteer wörtlich:„Wollt Ihr auch ferner unter der Leitung Eurer heiligen christlichenKirche zur Wahl gehen und Euch nicht von fremden Eindringlingen vonunserem heiligen Glauben abwendig machen laffen, so stehet auf undantwortet mit Ja!"Alle standen auf und antworteten stehend, mit niedergeschlagenenAugen:„Ja!"„Wollt Ihr mir als Eurem Seelsorger auch serner vertrauen undwir glauben, daß ich auch Euer irdisches Wohl beabsichtige, so antwortetabermals mit Ja!"„Seid Ihr schließlich damit einverstanden, daß ich diesen beiden Volks-Verführern sage, daß sie sich sofort auS unserem friedlichen Dorfe ent-fernen und sich hier nimmermehr wiedersehen laffen, so antwortet aber-mals mit Ja!"Wieder und wieder ertönte das Ja aus aller Mund, feierlich, wie esihnen in der Kirche gelehrt worden.Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß wir dort keine Stimmeerhielten.Mit der Erzählung dieses Vorganges will ich nur beweisen, daß eSnöthig ist, daß wir die Kirche und den christlichen Aberglauben offen undunumwunden angreifen und den Jahrtausende alten Bau einzureißenversuchen— erst dann dürfen wir hoffen, dem Volke auch Verständnitzfür seine irdische Lage beibringen zu können, wenn es diese Erde unddas Dasein auf derselben als einzigen Zweck des Lebens ansieht, nichtaber das Leben als eine Vorschule des Himmels bettachtet uud sich da-her von Junkern und Pfaffen alle irdischen Freuden vor der Nase fort-nehmen läßt. Haß.Sozialpolttischt Rundschau.Zürich, 1». Januar 188«.x. In deutschen Blättern, die für demokratisch gelten,und namentlich auch in solchen, welche die Interessen der Arbeiter zu