einen Angeklagten, so braucht dieser blas die beleidigenden und beschim- pfenden Ausdrücke sofort feststellen zu lassen, und— wir waren im Begriff, zu schreiben: kein Gerichtshof der Welt kann den frechen flum» xan dann freisprechen. Aber wir haben uns noch rechtzeitig besonnen, daß ja von deutschen Staatsanwälten, deutschen Richtern und deutschen Gerichten die Rede ist. Immerhin könnte der Berjuch nichts schaden— und wäre eS auch nur, um einen neuen Beweis zu liefern, daß eS in Deutschland kein Recht gibt, außer für die Vertreter und Anhänger der Herr» schendenKlasse. — Wie eS in der Aera Stöcke» mit der Heiligkeit de» vide» genommen wird, wie die Stöckerei sogar postliv unter gesetz- »chem Schuhe steht, daS zeigt unS ein intereffanter Prozeßbericht, den wir in der„Freisinnigen Zeitung" finden. Wir dringen denselben nachstehend»um Abdruck, und zwar ganz un- verändert: „Drei Wochen Gesängntß für einen Gedankenstrich! Der Redakteur der freifinnigen„EberSwalder Zeitung" hatte dem Major z. D. U l b r i ch, einem Vorstandsmitglied deS kon» fervativen Vereins, vorgeworfen, daß er in einem früheren Prozeß gegen den Redakteur zweimal unter Eid verschiedene sich wider» sprechende Auesagen gemacht hätte in Bezug auf den Werth der bei einem Sommerfest von dem Patriotischen Berein angekauften Geschenke. Die„Eberswalder Zeitung" hatte in Bezug darauf bemerkt:„Soviel scheint mir indessen klar: wer einmal l biiS und ein andermal S bis 20 Pf g. beschwört, muß mindestens einmal-- ja was denn, HerrtUbrichZ" Die Beweisaufnahme vor der Strafkammer hat ergeben, daß der angeklagte Redak- teur„den Beweis der Wahrheit seiner Behauptungen mit Erfolg geführt hat" und daß der Zeuge Ulbrich in der That zu Berlin an- der» ausgesagt als bei seiner ersten Vernehmung in EberS- Walde, und auch bezüglich deS WurstichnappenS eine thatsächlich unrichtigeAussage abgegeben hat." Die Strafkammer hat deshalb zwar den Angeklagten von der verleumderischen Beleidigung -freigesprochen, ihn ind-ssen mit drei Wochen Gefängniß bestraft,»eil der obige Satz eine Beleidigung enthalte, denn man könne die fehlenden Worte, die in obigen Gedankenstrichen ausgedrückt seien, nicht anders ergänzen, als durch„einen Falscheid geleistet habe n". Die Annahme, der Angeklagte habe stch milder ausdrücken wollen, und ge» meint;„mindestens einmal etwas Unrichtiges gesagt zu haben," erscheint dadurch ausgeschloffen, daß da» Wort„beschwört" vorhergeht. Außer» dem fand der Gerichtshof eine Beleidigung in einer Schlußbemerkung deS Artikels:„Aber wenn nun dieses Todtmachen nur erreicht werden könnte durch Lüge, Verleumdung und Dinge, wie ste oben geschildert?" Diese Worte„Lüge und Verleumdung" könnten stch nach dem Zusammen- hang nur auf den Major Ulbrich beziehen." Ausdrücklich erkannte der Gerichtshof an, daß der Angeklagte bei Abfassung des Artikels„nicht wider besseres Wissen gehandelt habe". Gleichwohl wurde unter Berück- stchiigung der Vorstrafen wegen Beleidung auf drei Wochen Gefängniß erkannt." Dies der Bericht. Man muß ihn genau ansehen. Ein— natürlich konservativer und kartellbrüderlicher— Zeuge begeht eine S t ö ck e r e i— diese Stöckerei, die dem Richter und Staatsanwalt möglicherweise entgangen sein konnte, wird von dem Redakteur eines unabhängigen Blatte» öffentlich zur Sprache gebracht, und noch obendrein in der denkbar mildesten Form. Und waS geschieht? Nicht der Nach- folger und Schüler des MeineidSpsasfen wird in Anklagestand vers-tzt, sondern der,«elcher die Stöckerei an die Oesfentlichkeit brachte. Und die Moral von der Geschicht'? Tadle keinen Meineid nicht! — eS sei denn, daß der Meineidige ein Staatsfeind sei. Der r e i ch S- treue Meineid steht unter dem Schutz der Gesetze— Etöcker's Geist schwebt über dem Born, au» dem die deutsche Justiz das Recht„schöpst". — Eine neue Militärvorlage, da« ist in Preußen-Deutschland längst nichts NeueS mehr. Dem nationalen Reichstag ist die Ehre zugedacht,«in Gesetz gutzuheißen, nach welchem der Dienst in der Landwehr um wettere sechs Jahre(zweite Landwehr) und die Verpflichtung zum Landsturm bis zum 4S. AllerSjahr ausgedehnt wird. Die gefährdete Lage deS deutschen Reiche »— gefährdet Dank der glorreichen Art, wie seine Gründung in's Werk gesetzt wurde— erfoldert die äußerste Anspannung der Wehrfähigkeit. Natürlich wird sich der Reichstag der zugedachten Ehre würdig erweisen. Ganz abgesehen von der artigen Zugabe zur dreijährigen Dienstzeit, welche diese zweite Landwehr darstellt, wird dre Ein» richtung derselben auch das Militärbudget recht nett in Anspruch nehmen. Die sehr reichsfreundliche„Neue Zürcher Ztg." spricht von einmaligen Mehrausgaben im Belaufe von einer Viertelmtlliarde Mark und vermuthet„einen Zusammenhang zwischen der beab- fichtigten Erhöhung der Getreidezölle und den Ab änderungen der Wehrpflicht." Da darf da« Proletonat stch doppelt freuen, ei zahlt die Kosten für den patriotischen Geist der Junker im Reichstage in beiderlei Gestalt. Run, auch daS hat seine gute Seite. — Wir würden den Raum unseres Blatte» im wahren Sinne de» Wortes sündhaft verschwenden, wollten wir von jedem auf Grund des Schandgesetzes in Deutschland erfolgenden Druck- schristenverbot besonders Notiz nehmen. Wie in Bezug auf das Ber- fammlungS- und VereinSwesen herrscht auch in dieser Beziehung die krasseste Willkür. Was hier ohne Weiteres geduldet wird, wird dort unfehlbar mit einem Verbot geahndet, was heute als staatsgefährlich auf den Index gesetzt wird, wird morgen freigegeben, um übermorgen auf« Reue verboten zu werden.____. M. So ist z. B. E n g e l S'„Herrn Eugen Dührmg S Umwälzung der Wissenschaft", ein Buch, dessen wissenschaftlichen Charakter selbst Männer wie Adolph Wagner zu keiner Zeit in Abrede gestellt haben, seinerzeit, al» da» Schandgesetz zustandekam,„im Ramsch" milverboten worden. Run, daS Buch hat trotzdem seine Leser gefunden und war trotz seine« verhältnißmäßigen UmfangeS bald vergriffen. Vor etwa zwe, Iahren kam eine neue Auflage heraus— nicht etwa heimlich, nein, ste wurde wiederholt und in auffälligster Weise annonzirt, aber— o Wunder- eS erfolgte kein Verbot. Zirka ein Jahr lang konnte daS Buch öffentlich verbreitet werden, bi» plötzlich eine» TageS der Wind umschlug Und auch die zweite Auflage verboten wurde.,, ,, Diese Inkonsequenzen sind die beste Kennzeichnung der„wahrhaft gesetzgeberischen Arbeit", wie Herr Bennigsen,» seiner geschwollenen Art seinerzeit das elendeste aller Polizeigesetze titulirte. Es proklamirte die polizeiliche Laune als entscheidenden Faktor für das Schicksal aller»eußerungen de« öffentlichen Geistes. Irgend ein anderes Kriterium für daS, was erlaubt ist oder nicht,«xistirt in Deutschland nicht. Die lange Reihe der Verbote gibt davon Kunde. Kein Verbot, das einen der Ber- Hältnisse Kundigen überraschte. Die Ordnungsparteien finden Alles, waS die Polizei sich herausnimmt, in Ordnung, daher ihr Name, und die Sozialdemokraten haben aufgehört, sich über Verbote zu ereifern, sie gehen über dieselben zur Tagesordnung über. So er'ährt daS große Publikum über eine der verwerflichsten Seiten deS Schandgesetze» verhältnißmäßig wenig. Es liest die Verbote, weiß aber nicht, w a s in den verbotenen Schriften eigentlich gestanden. Nnter diesen Verhältnissen.st e« daher sehr gut, wenn Leute, die nicht unter dem Machtbereich der Bismarck'schen Polizeigewalt leben, und zu. fällig einen genauen Einblick in das Preß-Meuchelungsversahren erhalt-n, den Empfindungen, die dasselbe in ihnen hervorruft, ungeschminkten Ausdruck geben. Solche Zeugnisse wiegen dann doppelt schwer, denn m Deut'chland hat man unter der korrumpirenden Wirkung de» Bismarck scher , Polizeiiystems daS rechte Maß für dat. waS Preßfreihett ,st. längst �"llen Veriaa de« Berichte« über die Verhandlungen d e« et. S° jier Parteitages hatte Herr T h. W i r t h. Her- auSgeber deS„St. Galler Stadt-Anz-iger". übernommen. Natürlich ist der Bericht verboten worden— wengsien» schänt da« jedem Deutschen natürlich. Dem Schweizer ale konmt das Verbot gar dicht natürlich �or, und er sieht sich daher veranlaßt, se.ne- Ver- ftunbeninn iih,r dasselbe unumwunden auszuspr.chen. Gr zählt aus, wa» dieser Bericht enthält, und fährt dann fort: „DaS ist der Inhalt der Schrift, lauter Dinge, welche bei unS und in jedem Land der Welt, wo das freie Wort nicht siebenfach geknebelt und die Mannes- und Menschenwürde nicht systematisch mit Füßen ge- treten wird, ruhig im öffentlichen Rathssaal und auf der offenen Straße verhandelt werden dürfen. Ist eS nicht himmeltraurig, daß die Regierung eines zivilisirten Staates sich nicht schämt, solche Schriften als staat»- gefährlich zu erklären und die Bürger des eigenen Landes, die sie lesen oder verbreiten, mit Acht und Bann zu belegen?! Ist es anders mög- lich, als daß ein Regiment, das solche Saat ausstreut, Fluch und Ver» derben ernten muß? „Die schauerliche Druckschrift, vor der das deutsche Kaiserreich erzittert, kann zum Preise von 40 Cts. auf unserm Bureau an der Neugasse und in der Expedition unseres Blattes bezogen werden. Gegen tö CtS. in Briefmarken erfolgt Frankozusendung. „Lese ste jeder; so wird er Hochachtung bekommen vor der— beut- s ch e n F r e i h e i t!" DaS ist kernig gesprochen, und sollte gewisse Leute, wenn sie noch etwas lernen könnten, zum Nachdenken über ihre StaatSweiSheit bringen. Aber ste können und wollen auch nichts lernen, und auf sie wird die Notiz höchstens die Wirkung haben, daß ste finden, in der betreffen» den Nummer deS„St. Galler Stadtanzeigers" kommen sozialistische, kommunistische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesell- schastSordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht unter den Bezölkerungsklassen gefährdenden Weise zum Ausdruck, und sie daher aus Grund deS gemeingefährlichen Gesetzes für daS deutsche Reich verbieten. Ja, Bismarck ist groß, und wer eS nicht glaubt, der muß— zahlen. — AuS der verkehrte» Welt. Im bayerischen Landtage spielte stch kürzlich bei der Berathung des Etats des Staatsministeriums, als eS zur Position Statistik kam, eine Debatte ab, welche in mehr als einer Beziehung charakteristisch genannt werden kann. Ein Abgeordneter— wir wollen vorerst weder seinen Namen, noch den seiner Partei nennen— hatte Vorschläge auf einen weiteren Aus- bau der landwirthschastlich«», GrundschuldS-, Spar- t a f s e n- tc. Statistik gemacht. Mit Bezug auf die Letztere hatte er u. A. bemerkt(wir jitiren nach der„Allgemeinen Zeitung ): „Im Reichstage sei vor einigen Monaten von einem Hauptredner für die Milttärvorlage darauf hingewiesen worden, daß man sich über Volks- armuth nicht beklagen könne, da daS S p a r k a s s e n w e s e n bedeutend im Wachsthum begriffen sei. DieS sei zwar richtig, allein auS der Sta- tistik sei zur Zeit nicht ersichtlich, aus welchen Schichten der Bevölkerung sich jene Millionen herleiten, über welche die Spar- lassen verfügen. Von konservativer Seite habe man vor Kurzem den Satz aufgestellt, daß einerseits die Zahl der Reichen abnehme, während der Reichthum wachse, andrerseits aber auch die Zahl der Armen zunehme, während bei dem mittleren Erwerbsstande von Vermögen wenig bemerklich sei. Dieser Satz werde allmälig anerkannt. Er erinnere nur an die Eingaben der Arbeiterkolonien und einen Artikel der«All- gemeinen Zeitung", der besage,„daß das lawinenartige Anwachsen des Pauperismus eine Hauptschuld des Vagabundenwesens sei. Diesen letz- teren Satz unterschreibe Redner voll und ganz. Ein Brief, den er von einem Freunde aus Sachlen erhalten, beweise neuesten», daß die Städte Leipzig und Dresden von den 2K Sleuerbezirien allein 87 Prozent des ganzen Volkseinkommens in Sachsen bezahlen, ja er glaube deßhalb, daß die Sparkassestatistik die Anlage der Kapitalien nach Berufs- und Erwerbs st änden zu veröffentlichen haben werde. In dieser Beziehung verweise er auf die Statistik der Genossenschaften, die über die sozialpolitische Bedeutung derselben die besten Ausschlüsse gebe. Die Arbeit der Verwaltungsbehörden würde dadurch nicht stark erhöht, da sich die Beamten weniger um das Wohl und Wehe der Sparkassen, als v elmehr um daS des Landes zu kümmern hätten. Durch diese Publika- tionen würde der Satz mehr Beweiskraft erhalten, daß sich die Vermögen mehr konzentriren, und dann werde in der Gesetzgebung vielleicht ander» vorgegangen werden als bisher; denn e s sei Aufgabe der Sta- tistik, der sozialpolitischenGesetzgebung an dieHand zu gehen. Die Statistik über die Ersatzgeschäfte, welche vom Krieg»- Ministerium geliefert werde, leide an dem großen Mangel, daß der Grund der Untauglichkeit der Bevölkerung in den Industrie- b-zirken nicht hervortrete, daraus möchte R-dner die Aufmerksamkeit des Hause» und der Militärbehörden lenken. Ja Oesterreich habe man bereits Erhebungen in dieser Beziehung angestellt und gefunden, daß daS Volk der Jndustriebezirke durch Nacht- und Ueberarbeit, Frauen- und Kinder- arbeit, die oft noch sehr geringen Löhne in ganzen Generationen ausge zehrt und entnervt wird an Kraft, Gesundheit und Marschiähigkeit. so daß es untauglich wird für die Vertheidigung des Vaterlandes, zu dessen Schutz und Dienst es berufen ist und sein muß. Wenn dies auch bei uns geschähe, würde vielleicht mehr Einsicht zur Arbeiterschutzgesetzgebung bestehen im Interesse des ganzen Volke»." Gegen diesen Redner wendet sich nun ein Vertreter einer anderen Parteirichtung und erklärt: Man habe sich darüber beschwert, daß seine Partei den Ausführungen des Vorredners zu wenig Aufmerksamkeit schenke. Allein(man höre!) was soll man hier mit Ausführungen ,. B. über französische Zustände stch beschäftigen? Aufmerksamkeit seiner Partei wäre nur am Platze, wenn Vorredner nachweisen wollte, daß die französtsche Armee stärker wäre als die unsrige, daß wir noch mehr gerüstet sein müssen, damit die Pfalz nicht wieder Raubzügen ausgesetzt sei.(Beifall.) Die Statistik dürfe über gewisse Verhältnisse nicht auSge- dehnt werden. Der Vorredner hat eine Statistik auch über die Spar- kussen-Einleger verlangt. Wollte die Regierung seinen Wünschen Folge geben, dann würde die Axt an dieses wohlthätige Institut gelegt(Bei- fall), denn die Einleger, welche fast ausschließlich dem kleinen GewerbS- stand und ArbeilSstand angehören, würden ihre mit Fleiß errungenen kleinen Ersparnisse sofort kündigen, wenn man diese Leute vorladen würde, um herauszufinden, ob ihre Einlagen kapitalrentensteuerfähig sind. Die Zwecke de« SparkassenwesenS würden durch die Folgen der Statistik vollständig vereitelt. Der Vorredner wünscht ferner eine En- quete und Statistik über die Rekrutirung. Dazu besteht gar keine Ver- anlassung. Der Vorredner will doch nicht behaupten, daß Bayern seine Mannschaft nicht mehr stelle. Di- letzte Heeresergänzung hat sich mit majestätischer Ruhe vollzogen und das Volk habe die Mehreinstellung der 1800 Mann auch nicht bemerkt. Eine weitere Einschränkung der Fabrikarbeit sei nicht veranlaßt im Hinblick auf die Befugnisse der Fabrik- inspettoren, und insbesondere Industrie und Bevölkerung der Pfalz würden dem Vorredner wenig Dank wissen. Im Bezirke des Redners habe vor 80 Jahren Armuth und Elend geherrscht, heute sei Wohlhaben. heit zu verzeichnen und ein großer Theil der Bevölkerung seien Fabrik- arbeiter. Der Vorredner habe in seiner Erörterung über die Belastung von Grund und Boden in Bayern von etwa einer Milliarde Grund- Verschuldung gesprochen. Man gebe der Landwirthschaft lieber da» Geld für die«nschaffungskosten der Statistik, damit werde dem Lande gewiß mehr gedient, als wenn man den gelehrten Ausführungen de» Borred- ners entspricht.(Beifall.) Der Gegensatz zwischen beiden Reden springt in die Augen. Hier da« Bestreben, den wirthschafilich-n Erscheinungen ernsthaft auf den Grund zu gehen, dort die Veradscheuung jeder Untersuchung„über gewisse Ver- hälinisse hinaus", hier das Streben nach Aufdeckung, da Streben nach Vertuschung, hier der Wun ch, eine wissenschaftliche Grundlage für die Sozialgesetzgebung zu schaffen, dort knotcnhaste Verhöhnung de« wissen« schastlichen Standpunktes und Proklamirung der Politik des von der Hand in den Mund, d. h. des seichtesten Eklektizismus, und alberneS Hineinziehen des Mordspatriotismus, um die kompromittirende Gleich- gültigkeit zu bemänteln— mit einem Wort, hier der Gesichtspunkt eines wirklichen Politikers und dort der bornirteste Spießbürgerstandpunkt. Und welchen Parteien gehörten die beiden Redner an? Der Erst-Ln- geführte ist der bekannte Sozrnlpoliliker Dr. Jäger, der politisch der Zentrum«? arte i angehört, in sozialen Fragen allerdings weit Uder dte meisten seiner eign.n Parteigenossen hinausgeht. Der Zwe-te aber, der Vertreter des krassen Knotenthums, ist eine Zierde der libe- V 1 e" �at,!ei' b<e füt le'ne„gesunden" Ausführungen mit threm Betfall belohnte. Keine Stimme erhob stch in der Partei der „Ausklärung", um Herrn Bürgermeister Märker, dies der Name de» Herrn, zu widerlegen. Man sand seine Redensarten vollständig in der Ordnung. Keine genaue Statistik der Sparkassen-Ginleger nach Berufen, wie re rn man den Sparkassen-Einlagen weiter flunkern! Keine Feststellung der degenerirenden Wirkungen der Fabrikarbeit, keine Aus- dehnung der Fabrikgesetzgebung und des Arbeiterschutzes, aber dafür Sol» baten, Soldaten und wiederum Soldaten, das ist die Weisheit der Partei, die sich bei jeder Gelegenheit als die alleinige Trägerin de« kulturellen Fortschritts aufspielt. „."T,®1* Vernrth-ilung Johann Most » zu einem Iah» Gefängniß für eine Rede, die er am Tage nach der Hinrichtung der Chicagoer Anarchisten gehalten, ist ein T e n d e n z u r t h e i l in de« Wortes schlimmster Bedeutung. Für Jeden, der in den Zeitungen die Worte la«, die die Anklage Most in den Mund legt, stand von vorn- herein fest, daß Most bei aller Exaltirtheit seines Temperaments so blödsinnig nicht gesprochen haben konnte, und in der Gerichtsverhandlung erwie« eS stch auch, daß die Belastungszeugen(zwei daS Deutsche noch» dürftig radebrechende Polizisten und ein versoffener, eingestandenermaßen bereits wegen Trunkenheit entlassener Reporter) in jederBeziehuna unglaubwürdig waren. Nahmen doch die Polizisten keinen An« stand, ausdrücklich zu erklären, der betreffenden Versammlung habe der Anarchist Schenk prästdirt, während thatsächlich sich dieser um die an- gegebene Zeit auf der Fahrt nach der vor New-York liegenden Insel State» Island befand, und elf Theilnehmer der Versammlung, darunter mehrere Richt-Anarchisten, bezeugten, daß der Schriftsetzer M Schulze die Versammlung leitete. Aber das Zeugniß dieser elf Männer war für den Herrn Ankläger„unerheblich", weil zehn von ihnen keinen Glauben an eine Bestrafung de« Meineids im Jenseits— heuchelten. Aus den- selben Gründen fielen auch ihre Aussagen in Bezug auf daS, was Most wirklich gesagt,„nicht in Betracht". Man sieht, die preußische Polizei- Praxis macht Schule. Immerhin brauchten die Geschworenen fünf Stunden, um stch über das Schuldig zu einigen. Anfang« waren 7 für nichtschuldig und S für lchuldig, da nun aber nach amerikanischem Recht bei Geschworenen» Erkenntnissen Einstimmigkeit verlangt wird, bevor die Geschworenen aus» einandergehen dürfen, und die für schuldig Stimmenden hartnäckig fest- hielten, so fielen nach und nach die ganzen sieben von der Nichtschuld Moft's Ueberzeugten um und— die„Ordnung" hatte gesiegt. Die beste Kritik dieses Erkenntniffe» liegt in der Ansprache, mit der der Vorsitzende Richter Cowing die Geschworenen zur Berathung entließ. In derselben heißt es u. A.: „Die Gesetze dieses Lande« erlauben nicht nur die freie Rede und Schrift, sie e r m u t h i g e n dieselbe bis aufs Aeußerste. DaS Recht der Kritik der öffentlichen Gewalten ist die Seele unserer Jnstitu- tionen. „Unsere Institutionen sind auf Freiheit gegründet. Eine freie Regie« rung, freie Schulen, vollkommene Religionsfreiheit sind einige ihrer Pfeiler. Erst vor einigen Jahren haben die Bürger dieses Landes Millionen schwarzer Sklaven befreit, und der Bürger diese« Landes fühlt sich im Besitz seiner Rechte größer als ein König. Die Regierung dieses Landes ruht nicht auf den Spitzen der Bajonnette, sondern auf der Ge- fetzlichkeit und dem Patriotismus seiner Bürger. Wir strecken unsere Arme jedem Unterdrückten entgegen und laden jeden Vertriebenen ein, seinen Fuß auf unser» gastlichen Boden zu setzen. Nur der Unterdrücker findet hier keine Freistatt . Nur für ihn haben wir keinen Raum." Der R chter fuhr noch eine Zeitlang fort, in den brillantesten Farben die Institutionen der Union und deren Prosperität, als eine Folge derselben, zu malen. Dann auf die Zukunftsideen der Anarchisten ein» gehend, erklärte er, dieselben seien keineswegs ungesetzlich, nur seien sie unlogisch. Wie es in der Natur Regeln und Gesetze gebe, so könnte auch eine menschliche Gesellschaft, wie immer dieselbe auch eingerichtet sein mag, ohne Regeln oder Gesetze und ohne eine Macht, dieselben zur Ausführung zu bringen, sowie ohne Strafbesttm« mungen gegen Uebertreter der Gesetze nicht bestehen. „Um auf den Fall zurückzukommen," sagte er dann,„muß ich Sie nochmals daran erinnern, daß es hier nur darauf ankommt, festzustellen, ob der Angeklagte der in der Klageschrift bezeichneten ungesetzlichen Hand« lung schuldig ist oder nicht. Das Gericht ist nicht dazu da, selbst den schlechtesten Menschen unter falschen Borwände» ins Gefängniß zu schicken." ...„Haben die Zeugen der Vertheidigung recht, so müßten Sie dm Angeklagten freisprechen, denn selbst die einzelnen Widersprüche d rielben berechtigen nicht zu einer Schuldigsvrechung. Keiner derselben gibt irgend einen der beiden inkriminirenden Punkte in der Rede Most's, wie die Anklage sie zu beweisen sucht, zu. Haben die Zeugen der An- klage hingegen die Wahrheit gesagt, und finden Sie, daß der Angeklagte jene beiden Aussprüche wirklich that, dann müßten Sie den Angeklagten schuldig finden. Doch haben Sie sich auch in der Entscheidung dieser Punkte streng an die am 12. November gehaltene Rede zu halten. Was Most früher gesagt oder gethan, hat mit der Sache nichts zu thun. «Ebenso wenig haben die Theorien Most's und der Anarchisten mit der Sache gemein. Die Absurdität derselben nachzuweisen ist nicht die Sache des Gerichts und der Geschworenen. „Es gibt Leute, die in Bezug aus gewisse Personen, Parteim und Anschauungen die Anwendung des Lynchgesetzes empfehlen. DieS wäre Anarchie. Ich will nicht sagen, daß es Anarchismus wäre, wie Most und seine Freunde ihn stch vorstellen, aber e» wäre eine Konfusion und meine Definition von Anarchie und Konfusion sind dieselben, und ich glaube, ein Recht zu einer solchen Definition zu haben. „Denken Sie nicht, der Angeklagte ist vielleicht der schlechteste Mensch im Lande, und greisen Sie nicht aus sein Vorleben zurück. DieS Alles gehört nicht zu dem Ihnen vorliegenden Falle. „Ferner ist e» meine Pflicht, Sie daraus hinzuweisen, daß jeder ver» nünstige Zweifel dem Angeklagten zu Gute kommen sollte. Finden Sie, daß«in solcher Zweifel vorliegt, dann haben Sie den Angeklagten frei« zulassen." Würden diese Grundsätze innegehalten worden sein, so hätte Frei« sprechung erfolgen müssen. Aber das Gegentheil war der Fall. Most wurde verurtheilt, weil er Most war. Der Ankläger hatte es stch nicht nehmen lassen, die„revolutionäre KriegSwissenfchaft", auf Grund deren Most schon einmal verurtheilt worden, in die Verhandlung hineinzuziehen, und so die Geschworenen gehörig bearbeitet. Wahrscheinlich auf diese unzulässige Benutzung einer vor Jahren von ihm versaßlen Schrift dürfte sich die von Most, wie der Telegraph meldet, eingelegte Berufung stützen. Run hat das Appellationsgericht des Staate» New Jork soeben in dem Prozeß wider den Millionär Sharp wegen erwiesener Bestechung zu„R-cht erkannt", daß es ungesetzlich ist, gegen einen Angeklagten eine ihn belastende Aussage, die er früher einmal gemacht, inS Feld zu führen. Wenn das, was für den gaunerischen Spekulanten recht, für den proletarischen Bgttator billig wäre, so müßte demnach die Berufung Erfolg haben. Wenn l Wenn nur das Wörtchen„wenn" nicht wäre. — I« Paris hat am 10. Dezember ein gewisser Aubertin, halb auS Ueberspannthett, halb aus Geschästsspekulation, ein Attentat auf Jules Ferry gemacht. Sosort ist der reaktionäre Troß bei der Hand und verlangt Beschränkung der Preß- und Redefreiheit. Natürlich nur für die Presse und die Versammlungen der Opposition. Die Soldschreiber und Agitatoren der herrschenden Klasse dürfen reden und schreiben was sie wollen, soviel schimpfen und verläumden wie ste willen.„An dem Attentat gegen Ferry sind die maßlosen Angriffe der radikalen Presse aus denselben schuld," brüllt sofort der ganze ChoruS. Leider stellte stch bald darauf heraus, daß der Attentäter nichts weniger als ein Radikaler, sondern ein politisch sehr gemäßigter Bourgeois ist. Thut nichts, der Jude(d. h. die Presse) wird trotzdem verbrannt. — Inder demokratischen— wohlgemerkt, in der de«»- kratischen„Frankfurter Ztg." lesen wir wörtlich: „Das Attentat(auf Ferry) hat glücklicher Weise keinen vollen Erfolg gehabt, aber seine Wirkungen werden wahrscheinlich in politischer Be- ziehung sehr gut sein. Man wird wahrgenommen haben, zu waS die Hetzerei führt, und alle eh baren und billig denkenden Männer«erden sich einig finden in dem Bestreben, die Hetze einzuschränken und einzudämmen. Vielleicht verliert Jule» Ferry durch daS Attentat seine llnpopularitäi vollständig; heute Abend berei.s haben Männer aller Parteien, von der Lußeisten R chten bis zur äußersten Linken, ihn zu seiner glücklichen R-ttung beglück rünscht. Wen der Anarchismus so haßt, der muß in derTyat ein furchtbarer Feind der Anarchie, ein tresslicher Berthei» diger der Ordnung und Gesetzmäßigkeit sein. Wenn das keine Ermunterung zu Attentaten auf die Preßfreihett ist,
Ausgabe
9 (16.12.1887) 51
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