aufzukommen, die von einem bis zu zwei Dritteln des durchschnittlichen Jnhresmrdienstes steigt, jedoch nie unter 400 Fr. pro Jahr für einen Mann und SSV Fr. für eine Frau betragen darf. Beim Todessall des Verunglückten beträgt die Entschädigung die Begräbnißkosten(Lohn von 20 Arbeitstagen) und Renten an die Hinterlassenen, nämlich 20% des jährlichen Durchschnittsverdienstes an die Wittwe, 15 0/0 für ein, 25% für zwei, 35% für drei und 4)"/, für vier und mehr Kinder. Für mutterlose Waisen ist die Rente etwas höher, von 20—50%, fixirt, Hinterlassene in aufwärtssteigender Linie erhalten je 10 des JahreS- lohnes als Rente. Natürliche Kinder, welche der Vater aner- kannt hat, haben gleiche Rechte mit den legitimen Kindern desselben. Ist der Tod einer verheiratheten Frau durch Arbeitsunfall erfolgt, und find Kinder unter 14 Jahren vorhanden, so erhält der Bater eine Summe, die dem zweimaligen Jahresverdienst der Frau gleichkommt. Auf theil- weise Arbeitsunfähigkeit steht eine Theilrente. Der Betriebsunternehmer hat für die Kurkosten(Arzt und Medika- viente bis 100 Fr.) von Krankheiten und Verletzungen aufzukommen, welche Folgen von Arbeitsunfällen sind. Er muß außerdem drei Monate laug die Hälfte des Lohnes, j-doch nicht unter 1 Fr. und nicht über 2 Fr. 50 Cts. per Tag als Krankengeld zahlen, falls nicht bereits dauernde Arbeitsunfähigkeit kanstatirt ist. Es ist vorderhand noch offene Frage, ob neben dem Hastpflichtgesetz noch zwei Artikel des Strafgesetz- buches in Kraft bleiben sollen, welche dem Arbeiter das Recht zusprechen, den Arbeitgeber wegen Unfällen, die Schuld von dessen Unvorsichtigkeit, Nachlässigkeit ic. rc. sind, zur Verantwortung, resp. Entschädigung heran- zuziehen. Die Regierung war und ist dafür, daß neben der zivilrecht lichen Haftpflicht die flrafrechtliche Verantwortlichkeit des Betriebs- Unternehmers stehen bleibt, die Kommission der Kammer erklärte sich dagegen. Die zweite Lesung wird zeigen, wie weit sich die Kammer über die gröbsten Klasseninteressen erheben kann. Ebenfalls ist noch nicht darüber entschieden, ob die Unfallsversicherung der Betriebsunternehmer, welche der zweite Theil des Gesetzes behandelt, obligatorisch oder fakultativ sein wird. Die Regierung ist für Vcrsiche- rungSzwang, die Kammer für Verstcherungssreiheit. Die Unfalliverstche- rung der Unternehmer soll durch„Berufsgenossenschaften" geschehen, das Personal der in jeder einzelnen versicherten Unternehmer soll nicht un!er 2000 Arbeiter zusammen bötragen. Die verschiedenen Industrien sind behufs der Versicherung beziehungsweise Gründung von Berufsgenossen' fchaften in fünf Gefahrenklassen eingetheilt, in denen die VersicherungS- Prämie pro 1000 Fr. Arbeitslohn 24, 18, 12, 9 und 6 Fr. beträgt. Die zweite Lesung des Gesetzes, welche soeben begonnen, wird an seinen Hauptgrundzügen wenig ändern. Gin Großindustrieller und Kohlenberg- werkiefitzer verlangte zwar, die Rente bei Arbeitsunfähigkeit im Verhält- niß zu 5 Lohnklassen, die unterste zu 1 Fr. 40 CtS., die höchste zu 4 Fr. pro Tag, auf 50 Cts. bis 1 Fr. 50 CtS. festzusetzen, ferner die Kost-n durch departementale Sparkassen, die von Arbeitern und Unter- nehmern unterhalten würden, aufzubringen. Um seinem Antrag mehr Nachdruck zu geben, fügte er hinzu, daß die Kreise der Industriellen von dem Gesetz„schreck.ich entsetzt" seien; derselbe wurde aber trotz alledem verworfen. Die Sitzung führte zu einem hitzigen Duell zwischen den Christlich -(Katholische) Zozialen und den Anhängern des Manchesterthums. Erstere warfen Letzteren vor, daß Dank ihrer Theorien das Kind jedes Arbeiters mit einem Anthcil an der Staatsschuld von 1000 Fr. und mit einer Steuerverpflichtung von 100 Fr. geboren würde, daß der Arbeiter Alles 25— 80 0/0 theurer bezahlen müsse als der Besitz nde, da er nur im Detail und auf Kredit einkaufen könne, daß er der Sklave des Unternehmers und ohne alle Freiheit sei ic. Die Vorkämpfer des süßen und einträglichen Imissor faire warfen den Christlich-Sozialen wiederum die Zustände in den von ihnen gegründeten Kooperativgesell- fchaften an den Kopf, in denen daS Truck-System herrscht, so daß die Arbeiter jahrelang nicht einmal die Farbe des Geldes sehen Das Alles ist nicht neu, aber es ist gut, dies so offiziell konstatirt zu wissen. Für die relativ« Gerechtigkeit, welche die Kammer dem Nusallsgesetz gegenüber zeigt, hat sie sich bei der Behandlung der Frage der F r a u e n> und Kinderarbeit schadlos gehalten,„entsühnt". Die Fassung, welche der betreffende Entwurf nach der ersten Lesung erhalten, macht das Gesetz fast werthlos. Die wichtigsten, grundlegenden Bestimmungen der Vorlage sind verworfen, ein Paragraph hebt den vorhergehenden auf oder schränkt ihn»in. Verworfen ward der Normalarbeitstag, sowie daS Verboi der Nachtarbeit für Frauen, verworfen auch der Artikel, welcher festsetzte, daß Wöchnerinnen erst vier Wochen nach erfolgter Ge- burt eingestellt werden dürfen. Daß der Antrag Basly-Cimölinat auf Einführung eines neunstündigen Normalarbeitstages für Erwachsene (8 Stunden für Minenarbeiter und 0 Stunden für Kinder) mit großer Majorität abgelehnt werden würde, war vorauszusehen,«uße. den so- genannten Arbeiterdeputirten, die zur Gruppe der sozialistischen Radikalen gehören, sowie den Christlich-Sozialen, ist keine Partei für dieselben ein- getreten. Der bürgerlich Radikale Joes Guyot zeigte sich sogar al« dessen erbittertster und hartnäckigster Gegner. Der Einfluß der„Gesell- schaft der Wensch-n- und Bürgerrechte", die Allianz mit den Possibi- listen, hat die Radikalen nicht einmal vermocht, für ein Gesetz in die Schranken zu treten, das nur der gröbsten Ausbeutung der Arbeiter vorgebeugt hätte.— Nebenbei muß hier bemerkt werden, daß sich die Arbeiterdeputirten zwar durchaus korrekt hielten, und ehrlich und voll für die Interessen ihrer Klasse eintraten, allein sich keineswegs der Auf. gäbe gewachsen zeigten, welche die Diskussion der Frage auf ihre Schul- tern legte. Abgesehen von seinem christlich.zünstlerischen Zopf«, erwies sich nur der„Chrisilich-Soziale" De Mun auf der Höhe der Situation. Seiner sowohl inhaltlich wie formell bedeutenden Rede ist es überhaupt zum großen Theil zu verdanken, daß die Kammer wenigstens für das Prinzip der gesetzlichen Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit stimmte, das als Einbruch in die famose„Freiheit der Arbeit" bekämpft worden war. De Mun erklärte das Recht des Staates, in die Produk- ttonsverhältnisse einzugreifen, als Folge der Natur der Arbeit, die eine soziale Funktion sei, gegenseitige Rechte und Pflichten in sich schließe. Der Staat habe außerdem im Namen der Gerechtigkeit die Schwachen zu schützen, und gegenüber der Macht des Kapitals seien die Arbeiter die Schwachen, da diese sie daran hindere, ihre Lage zu verbessern. Die Freiheit der Arbeit sei nur das Recht des Starken, die Schwachen aus- zubeuten und zu unterdrücken. Der einzelne Fabrikant kann die Lage seiner Arbeiter nicht verbessern, da er sonst selbst im Konkurrenzkampfe erliegen muß. Ueberhaupt gibt ei in Folge der Konzentration der Kapi- talien fast keine einzelnen Arbeitgeber mehr, sondern Aktiengesellschaften, die nur an ihren Profit denken, den Arbeiter als ein Instrument be- trachten, Frau und Kinder in die Industrie hereinziehen. Der Staat muß da» Gleichgewicht herstellen, er muß nicht nur die Frauen und Kinderarbeit, sondern die Arbeit der Erwachsenen und all- Beschäftigung überhaupt regeln. Die Arbeit darf nicht die Entartung der Rasse her- beisühren, denn die Industrie ist um des Menschen willen da, und nicht der Mensch um der Industrie willen. De Run fügte in seiner Rede noch hinzu, daß er in seiner politischen Stellung von den Sozialisten zwar durch einen Abgrund geschieden sei, aber sich mit ihnen in dem leidenschaftlichen Wunsche begegne, den Ar- beitern Gerechtigkeit zu verschaff-n. Di- Vorkämpfer des Manchesterthum», die Herren Joes Guyot und F. Passy, welche bis zum Ueberdruß den alten Brei von der Freiheit der Arbeit, der Freiheit des Individuums wiederkauten, zeigten sich der Manschen Argumentation nicht gewachsen. Wenn man die Klagelieder dieser Pfaffen der politischen O-konomie hörte, welche in der Bourgeoisprefle mit Lust und Behagen breitgetreten wurden, so mußte man glauben, das Ende der Welt stünde bevor, die Entwicklung der Menschheit, alle Zivilisation sei mit einemmale vernichtet. Frankreich war rettungslos in dem Abgrunde des StaatssozialiSmus versunken. Sobald sich der Staat einmal herausnähme, die Arbeitszeit zu regeln, die Kinderarbeit sc. zu verbieten, so werde er— schrecklich zu sagen— sogar noch dabei ankommen, den Lohn zu regeln, ein Lohn- Minimum einzuführen! Di« Arbeit eine soziale Funktion, der Arbeiter ein gesellschaftlicher Beamter? ckoae, welche Beleidigung aller servilen Schreiberseelen, die in offiziellm»ureaux mit ihrem Hinteren die Sessel poliren! Der Staat werde durch seine Intervention den Pauperismus allgemein machen, die Tradition der Revolution sei verrathen tc. In diesen Tonarten pfiff es aus allen Löchern. Der„Temps" fand einigen Trost nur in der Erwartung, daß die Fabrikinspektoren nicht streng auf Durchführung des neuen Gesetzes halten würden, denn—„wer wird die Inspektoren überwachen?" ferner in der Thatsache, daß die Arbeiter, wie sie wiederholt bewiesen, sich selbst nicht viel um die gesetzlichen Bestimmungen kümmern werden. Der„Temps" hat mit seiner hämischen Bemerkung ins Schwarz« getroffen. Die Haltung der französischen Arbeiterschaft der Frage der Arbeiter- schutzgesetzgebung, sowie verschiedenen älteren Gesetzen gegenüber, beweist ihr geringes sozialökonomisches Verständniß, und die Schwäche der fran- zösisch-n Arbeiterorganisationen, die sozialistischen mit inbegriffen. Die Verhandlungen der besprochenen Gesetze find an der Arbeiterwelt fast spurlos vorübergegangen. Der hohe agitatorische und erzieherische Werth, welcher der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung, abgesehen von ihren realen Bortheilen für die Arbeiterklaffe, innewohnt, ist den Arbeiter- Organisationen entgangen. Die so günstige Gelegenheit fü. Agitation und Propaganda unter der indifferenten Masse mittels eines Themas. das deren strikte Interessen berührt, ist nicht ergriffen, nicht ausgenutzt worden. Welches Leben, welche Energie haben nicht unter den gleichen Umständen die englischen Arbeiterorganisationen gezeigt, welche imposante Bewegung inszenirten ihre amerikanischen Schwestern zu Gunsten des achtstündigen Normalarbeitstags? Hier herrscht Stille über den Ge- wässern. Sämmtliche Arbeiterkongresse, gewerkschaftliche wie sozialistische, glauben ihrer Pflicht damit genügt zu haben, daß sie in ihren Resolu- tionen prinzipiell Stellung zu den betreffenden Fragen nahmen. Der gegenwärtig tagende Regionalkongreß des Zentrums z. B. hat die Frage der Arbeiterschutzzesetzgebung auf seinem Programm stehen, es find sehr schätz nSwerthe Berichte über das Thema verlesen worden, und damit ist der Pflicht genügt. Die hohe Politik nimmt alle Kräfte in Anspruch, der„Anliboulanzismus" macht eben eine vielseitige Agitation durch das ganze Land nöthig. Was sollte auch sonst aus der rep iblikanischen Konzentration, dem Kabinet Floq.ret und der R-publik werden? Auch die Arbeiter- und sozialistische Presse hat die Fragen in durchaus oberflächlicher und ungenügmder Weise behandelt. Die Arbeiterorganisationen hä ten bei dieser Gelegenheit nicht nur ihr Verständniß, sondern auch ihre Kraft, ihren Einstuß zeigen können. Bei dem geringsten Nachdruck, den sie dem Gesetz durch eine Bewegung der Masse, durch ihr eigenes Auftreten gegeben, hä t« die Kammer viel weiter- gehend« Bestimmungen als die jetzt beschlossenen annehmen müssen. Die Wirkung ihrer Thätigkeit wäre eine um so größere gewesen, als die aktuelle politische Situation der Haltung der Arbeiterschaft großen Werth beilegt, j-de politische Partei im Interesse ihrer Selbsierhaltung gezwun- gen ist, die eventuelle Bundesgenoss nschaft der Arbeiter durch Kon- Zessionen zu erkaufen.— Heber den erwähnten Kongreß und die skandalöse Aufführung der Kohlenbarone von RiveS-de-GierS daS nächste Mal. O-n. Sozialpolitische Rundschau. Zürich , 26. Juni 1883. — Die Thronrede Wilhelm II. Vergangenen Montag waren die „Vertreter Deutschland»", d. h. der vermittelst Bismarck-Puttkamer'schen Wahlerlasse, Melinitbomben, Holzbaracken und Kriegsfurcht zu Stande gekommene Reichstag im Weißen Saal zu Berlin versammelt, um den Worten des neuen Kaisers zu lauschen. Die Vertreter des Proletariats, die Bevollmächtigten des arbeitenden, dafür aber geknechteten und ausgebeuteten Volkes, die sozialdemokrati- schen Abgeordneten, hielten sich selbstverständlich für zu gut, diese Ko- mödie mitzumachen. Und eine richtige Komödie war eS; nachdem das gesammte Reptil- gesindel auf höheren Befehl der Welt das ihr bevorstehende Heil mit Pauken und Trompeten angekündigt, erschien der junge Mann, umgeben von seinen Vasallen, pardon den sogenannten Verbündeten, um dem Reichstage, resp. der Welt zu erzählen, daß er in die Fußtapfen seines Großvaters treten werde. Als ob irgend Jemand daran gezweifelt hätte. Die Betheuerung seiner Friedensliebe tönt aus j-der Zeile der Wil- helm'schen Kundgebung heraus, natürlich fehlt jedoch die abgenutzte Ein- fchränkung nicht, wenn wir nicht durch einen„unchristlichen Angriff" genöthigt werden, daS Schwert zu ziehen. Nun, man weiß, wie leicht sich„Angriff." fabriziren lassen, du- preußisch-deutsche Geschichte ist nicht arm an, durch„Angriffs", erzwungenen VertheidigungSkriegen mit obli- gater Vermehrung des Besitzes. Auch die„Sozialreform" des alten Wilhelm, oder vielmehr seines Hausmeiers, soll fortgesetzt werden, so steht's in der Thronrede. Die„hundert Tage" Friedrich's-III. sollen fo schnell als möglich aus dem Gedächtniß des Volkes getilgt werden und, anknüpfend an die Re- gierung des Großvaters, stützt sich der Enkel auf die Macht der Bajo- nette, gleich ihm fördert er militärische Großmannssucht und christliche ScheinhMgkeit. Der Bismarck 'fche Schwindel mit der„Sozialreform" wird weiter ge- trieben,„die Ausgleichung der gesellschaftlichen Gegensätze" zwar ver< sprachen, aber durch die brutalsten Maßnahmen gegen die arbeitenden Rassen gewaltsam verhindert, und j-der Versuch, die Lage der Volks- massen zu verbessern, durch den vollständig im Banne der kapitalistischen Produktionsweise stehenden und aus ihr seine Millionen zusammen- scharrenden„eisernen Kanzler" im Keime erstickt. Nach dieser Richtung hin lassen die dem deutschen Volke von seinem neuen Kaiser verkündeten Regierungsgrundsätze an Offenheit nichts zu wünschen übrig. Wilhelm II. hält es für geboten, die staatlich« und gesellschaftliche Entwicklung in den Bahnen der Gesetzlichkeit zu erhalten, und allen Be- strebungen, welche den Zweck und die Wirkung haben, die staatliche Ocd - nunz zu untergraben, mit Festigkeit entgegenzutreten. Gut gebrüllt, Löwe! Aber in einfaches verständliches Deutsch übersetzt, heißt das nichts weiter, als die bestehenden Zustände werden verewigt und der Ausbeutung der Millionen durch die Einzelnen wird die feier- lichste Sanktion ertheilt. Wie könnte es auch anders sein; ruht doch die Möglichkeit der dynastischen Herrschaft auf der Willfährigkeit der Bour- goisie, und diese wieder opfert einen Theil ihres Raubei, welchen sie aus dem Mark des Proletariat» saugt, einzig nur deswegen, um unter den schützenden Fittigen des kaiserlichen AarL ungestört weiter brand- schätzen zu können. Deshalb muß die„staatliche Ordnung" ausrecht erhalten werden, und deshalb wird der einzigen prinzipiellen, das geschundene und verrathene Volk vertretenden, oppositionellen Partei in Deutschland , der Sozial- demokratie, schon in den ersten Worten des jugendlichen Hohen« zollern die Verschärfung de» infamsten aller Gesetze angekündigt. Uns überrascht dies nicht; es war nach dem bisherige» Austreten desselben vorauszusehen. Auf der einen Seite Frömmelei, auf der andern Brutalität— dies ist die Signatur, unter der sich die Regierung Wilhelm II. ankündigt. In den Reihen der Sozialdemokratie hat man nichts Anderes erwartet, eS wird also auch keine Enttäuschungen geben und je ärger e» der 29- jährige Herrscher von Gottes Gnaden treibt, je schneller wird er die Katastrophe herbeiführen. — Bei der ersten Kahrt«ach verlin, die Wilhelm II. mit seiner Frau machte, fand sich aus der Charlottenburger Chaussee, beim großen Stern, an einem Baum, ein in tiefe Trauer gehüllter, mit Crepe- Schleifen dekorirter todter Kater aufgehängt, an dessen Halse sich ein Paar papierner Psaffen-Bässchen mit folgender Inschrift befanden: „Ich bin Dem Berather! „Rezierst Du wie Dein Vater; „Hängst Du wie dieser Kater!" Vielleicht S t ö ck e r der Verfasser? —„Frömmigkeit und Gottesfurcht zu pflegen"— das hat, laut seinem Erlaß an daS preußische Volk, Wilhelm II. „Gott gelobt", und demgemäß eine Deputation der Behörden Berlins darauf aufmerk- sam gemacht, daß man„neben den schönen Gebäuden für Schul- und Krankenhauszwecke auch den Bau von Gotteshäusern in» Auge fassen sollte". Auch diese seien„eine Zierde der Stadt". So werden wir wohl bald die Kirchen wie Pilze aus der Erde schießen und die Errichtung von„Schulpalästen" entsprechend abnehmen sehen. Was stützt auch alle Bildung, alles Wissen, wenn die wahre Gottes- surcht fehlt l Diese ist die Hauptsache, nur sie macht gute Menschen und nützliche Staatsbürger. Biel wichtiger, als dem Volk die Elemente der Natur- Wissenschaft, die Kenntniß der physikalischen Gesetze rc. beizubringen, ist, «hm immer und immer wieder die zehn Gebote einzup ruken. Nur so wirkt man der eingerissenen Sittenverderbniß entgegen. Da ist zum Beispiel das vierte Gebot:„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es Dir wohlergeht und Du lange lebest auf Erden." Man sollte es gar nicht glauben, aber es ist Thatsache, daß in manchen Schichten der Bevölkerung dasselbe vollständig vergessen zu sein scheint. Erst in jüngster Zeit ist uns in dieser Hinsicht von durchaus zuverlässiger Seite eine Geschichte berichtet worden, die geradezu als klassischer Beleg dafür dienen kann. Wir wollen sie daher im Interesse der guten Sache hier weiter mittheilen. In einer ziemlich gut situirten Familie— nennen wir sie, um Nie- mand zu nahe zutreten, mit dem möglichst allgemeinen Namen Schmidt— war der Vater schwer erkrankt und wellte fernab von der Heimath in einem Kurort. Immer trübere Berichte liefen über seinen Zustand von den Aerzten ein, so daß die Angehörigen auf das Schlimmste gefaßt sein mußten. Meinungsverschiedenhellen herrschten eigentlich nur darüber, ob die Katastrophe unmittelbar bevorstehe, oder ob sich das Leben de« Vaters noch durch sorgsame Pflege um etliche Monats werde verlängern lassen. Als eines Tages wieder ganz besonders schlimme Nachrichten eintrafen, reiste der ä.'teste Sohn per Extrazuz zu seinem Vater. Es handelte sich darum, geschäftliche Angelegenheiten, über die wir hier schweigen wollen, zum Austrag zu bringen. Man hätte aber auch meinen dürfen, die natürliche Liebe des Kindes zu seinem Vater habe den Sohn dazu ge- trieben, seinen Bater noch auf dem Sterbelager zu besuchen. Wirklich« Trauer, tiefempfundenes Mitgefühl veredeln ja selbst Barbaren. Auf seiner Rüse berührte der Sohn ein- Stadt, in der ein Arzt wohnte, der für die Behandlung der Krankheit, an der der Vater litt, einen be« sondern Ruf genoß und der deshalb auch an das Krankenbett gerufen wurde. Er sollte den Sohn auf der Reise begleiten. Ernsten SinneS betrat der Jünger AeSkulap's— nennen wir ihn L e h m a n n— zur festgesetzten Zeit den Salonwagen, mußte er doch annehmen, einen vo« Schmerz tiefgebeugten Jüngling anzutreff-n. Er bereitete sich vor, zu trösten, soweit ihm sein medizinisches Gewissen es gestatten würde. Wer schildert daher sein Erstaunen, als er den Sohn des hoffnungslos Kranken, statt in Schmerz versunken, mit zwei Begleitern in aller Ge- müthsruhe das Lieblingsspiel aller KriegSbrüder— Skat spielen sah? Und die erste Anrede, die der Sohn des Todtkranken an den Arzt seines Vaters richtete, war nicht etwa, wie man meinen sollte:„Ist noch Hoff- nung, meinen Vater zu erhalten?" sondern die mit großer Seelenruhe hingeworfene Frage:„Spielen Sie auch Skat? " Und da der Arzt die Frage bejahen konnte— welcher Besucher deutscher Universitäten vermag es nicht?— wurde er eingeladen, in die Partte einzutreten. So Sußerte sich die Besorgniß um das Leben des VaterS. Aber noch mehr. Im Verlauf der Weiterfahrt setzte der Sohn dem Arzt auseinander, um was eS sich eigentlich noch handle. Es komme darauf an, auf Grund ärzllicher Zeugnisse den Vater zu Schritten zu veranlassen, die darauf hinausliefen, den Sohn in Stand zu setzen, unter gewissen Boraus- fetzungen das Erbe seines Vaters schon zu dessen Lebzeiten anzutrete«, diesen noch vor seinem Ende zum tobten Mann zu machen Der Vater aber, und ganz besonders die Mutter, wollten davon absolut nichts wissen, die letzter- gebe die Hoffnung noch immer nicht auf, ihren Mann zu retten, und müsse unbedingt zur Raison gebracht werden.„Vor allem, Dr. Lehmann, bitte ich Sie," sagte Schmidt junior,„retten Sie mich vor der Wuth meiner Mutter." Der gute Sohn hatte nämlich so sehr die kommenden Ereignisse vorweg genommen, daß er kurz zuvor demon- strativ mit einem Mann fraternistrt hatte, von dem er wußte, daß er den Eltern im Innersten verhaßt war. Ist ein solches Benehmen nicht ein wahrer Hohn auf das vierte Ge- bot? Wünschen wir daher Wilhelm II. Glück dazu, daß er sich entschlossen, in dieser Hinsicht bessernd« Hand anzulegen. — Auf dem Gebiete der Genialität gibt eS jetzt Ko«- kurrenz. Wir haben jetzt neben, oben und unter unserem„genialen" Kanzler auch einen„genialen" Kaiser. E« ist natürlich der „neue-alte Fritz". Er wif. gleich diesen-„der erste Dimer des Staat»* sein(ein Citat, das beiläufig die Herren Fortschrittler ganz entzückt hat); er hat entdeckt, daß„Berlin die erste Stadt der Welt ist"— also auch berufen, die Hauptstadt der Welt zu werden— die nur eine» Fehler hat: nicht genug Kirchen zu besitzen; und wer nach diesen er- staunlichen Leistungen noch zweifeln wollte, daß der„alte Fritz" in ver« jüngtem— Maaßstab hätten wir fast gesagt— in verjüngtem Leibe und verbesserter Auflage auf dem preußifch-deutschen Thron sitzt, dem muß es dieser Tage klar geworden sein— seit der Kaiserlich-Königlich« Hosmarschall es feierlichst der Welt verkündet hat, daß der neue Kaiser gar keine Blume bevorzugt, und gar kein Blumenfreund ist. Wir sprechen selbstverständlich nicht von figürlichen Blumen. Kein Blumenfreund! Nun ist die Sehnlichkeit perfekt! Der alte Fritz schnupfte entsetzlich und hatte keine Spur von Geruch. Zwischen dem Gestank einer Kaserne oder eines Pferdestalles und dem Duft eine« thauigen JunimorgenS konnte er keinen Unterschied machen. Und de« neuesten Kaiser ergeht es ganz ebenso. Kurz— Friedrich der Groß« sitzt wieder auf dem Thron! Fridericus magnas Redi virus. Was kann aber auch ein„Soldat" für Vergnügen an Blumen haben? Mit Blumen kann man kein« Kanonen loßschießen, und keine Flinten laden. Mit Blumen kann man Niemand todtschlagen— hoch- fienS Jemanden ersticken, wie es weiland dem alten Voltaire bei- nahe passirt wäre, als er— bei seiner letzten Triumphfahrt durch Pari« so mit Rosen bombardirt wurde, daß er abwehrend ausrief: Von» m'ötouffer sous des roses! Ihr erstickt mich unter Rosen! Auch nicht einmal Kommißbrod kann man von Blumen backe». Da sind die figürlichen Blumen doch nützlicher. Sie sind zur Soldatenfabrikation unentbehrlich; sie liefern wenigstens das„Roh- Material" für die Kaserne. Apropos, die Thronrede am Landtag war etwas zivilifirter al» der dem Reichstag verlesene Ukas. Wenn auch der neueste Kaiser kaum in der Lage gewesen fem wird, zu begreifen, welch miserabler Eindruck sein« früheren„Aussprachen" gemacht haben, so wird eS ihm wohl von seinem Hausmeier und Hofmarschall begreiflich gemacht worden sein. Inzwischen wird lustig gegen Frankreich gehetzt. Kein Tag vergeht, ohne daß deutsche Gensdarmen oder Soldaten die Grenze verletzen. Durch solche Nadelstiche sollen die Franzosen gereizt werden. Dazu kommen noch die Studenten-Rüpeleien in Freiburg und München — die Ausweisung französischer Journalisten und last not least der LandeSverrathSprozeß, der nächste Woche bei vollster O e f f e n t l i ch k e i t, in obligater jouvenistiicher Zubereitung vom Leipziger Reichsgericht verhandelt werden wird, um den Deutschen zu zeigen, welches Gesindel diese Franzosen sind, und wie wunderbar friedlich der deutsche Reichskanzler ist, daß er dem Ge- sindel nicht schon längst„die Hosen ausgeklopft" hat. Und wenn nun die biederen Lock- Spitzel in Frankreich gute Ar- bell verrichten und ein paar deutsche Patrioten von Franzosen — durch- prügeln lassen— dann kommt allmälig die richtige Stimmung! So wird'S gemacht. —„Der erste Schritt ans einer abschüssigen«ahn, deren Endpunkt den Verlust der Freiheit bedeutet"— so nannten unsere vier Ausgewiesenen in ihrem Abschiedswort den G-waltstreich, der sie au« der Schweiz getrieben. Dem ersten Schritt folgen naturgemäß weiter«. Da» System der preußisch-deutschen Polizeikorruptton, da» seine Blüthe in den Bismarck-Puttkamer'schen Krüger, Jhring-Rahlo«, Raporra, Schröder, Haupt, Heinrich, Ehrenberg und tutti quanti treibt, lebt sich auch in der Schweiz allmälig recht hübsch ein. Die„polllische Polizei", die angeblich zur Ueberwachung der Spitzel votirt wurde, wuchert, wie alle Schmarotzerpflanzen, nicht blos auf dem Mistbeete der preußischen Lockspitzel, fondern gedeiht auch recht üppig auf dem offenen, freien Felde der Arbeiterpropaganda. Man steht da« wieder aus einer Korrespondenz, die der„Schweizerische Sozialdemokrat" in seiner neuesten Rummer veröffentlicht: „Als der Bundesrath gegen die Anarchisten und Polizeispitzel ew- schritt, hatte er unbestritten die große Mehrheit des SchweizervolkeS auf femer Seite; als er gegen Redaktion und Verlag de»„Sozialdemokrat" vorging, waren die Meinungen getheilt. Man hätte ein weniger schroffe« Snd mehr gerechte« Bersahren gewünscht, entschuldigte aber Manches mit
Ausgabe
10 (8.7.1888) 28
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