1. Jahrgang. Nr. 19 12

Mittwoch, 14. September 1921.

Sozialdemokrat

Bentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der tschechoslowakischen Republik.

Redaktion und Verwaltung: Prag II.. Havličkovo nám. 32. Telefon 6795, nachts 6797. Telegramm- Abreffe: Sozialdemokrat Prag . Postsparkassakonto 57544.

Die Mörder Erzbergers ermittelt.

Zwei Buben aus der Ehrhardt- Brigade.

Berlin , 13. September. ( Drahtbericht des Sozialdemokrat"). Nach einer Wolff- Mel­dung aus München hat die badische Staatsan­waltschaft beide Mörder Erzbergers ermittelt. Es handelt sich um den 28jährigen Kaufmann Heinrich Schulz aus Saalfeld a. d. Saale und um den 27jährigen Studenten Heinrich Zillessen aus Köln- Lindenthal , die beide der Erhardt- Brigade angehörten. Diese Er hardt- Brigade ist das berüchtigte Freikorps , das den Kapp- Putsch im März 1920 durchge führt hat, scheinbar aufgelöst ist, in Wirklich­feit aber immer noch im Geheimen weiter bes steht. Die Mörder selbst sind noch nicht ver­haftet. Man nimmt an, daß sie auch an dem Morde des unabhängigen Abge= ordneten Gareis beteiligt sind. Die Berliner Polizei hat eine ganze Familie in Berlin festgenommen, bei der sich beide Mör­ber anfangs August aufgehalten haben. Es ist bort Material beschlagnahmt worden, das so­wohl die Mörder als auch die Familie schwer elastet und aus dem hervorgeht, daß die en bis nach München zu rechtsra ifalen Kreisen reichen. Es muß noch jemerkt werden, daß die badischen Behörden jei ihren Nachforschungen in München auf den ntschiedenen Widerstand der bahri­ichen Polizeibehörden stießen. Es ist anzunehmen, daß die beiden Mörder sich auch jeht noch in Bayerr befin­

bett.

Beschlüsse des Völkerbundes.

Genf , 13. September. ( Tsch.-P.) Die dritte Kommission für Blodade und Abrü­stung setzte heute nachmittags unter dem Vor­size von Branting ( Schweden ) in öffentlicher Sigung ihre Beratungen über die praktische Durchführung sowie der Anwendung der Blok­fade gegen ein vertragsbrüchiges Mitglied des Wölferbundes fort. Die Debatte drehte fich um Auslegung und Anwendung des Artikels 16. Die meisten Redner waren sich darin einig, daß gegen den vertragsbrüchigen Staat nicht sofort triegerische Maßnahmen angewen det werden sollen, sondern der Krieg durch wirtschaftliche Maßnahmen, durch die Blockade hinausgeschoben oder verhindert wer­den soll. Zu einem Beschluß über die Vor­schläge der einzelnen Unterkommissionen lam es vorläufig nicht.

Genf , 12. September. ( Tsch.-P.) Die zweite Kommission des Völkerbundes( Verkehrswesen und Transit) beschloß: Die Versammlung nimmt davon Kenntnis, daß der beratende und technische Ausschuß für Verkehrswesen Transit einen Sachverständigen für die Eisen­bahn ernannt hat, der einen Donauufer­sta at angehört. Sie fordert die Kommission auf, einen oder mehrere Sachverständige, die den Donauuferstaaten angehören sollen, für die verschiedenen einschlägigen Fragen zu er

nennen.

Der Börsentaumel in Berlin . Berlin , 13. September. Wegen der enor­men und unter den derzeitigen Verhältnissen nicht mehr täglich zu bewältigenden Aus­dehnung des Börsengeschäftes bleibt die Fondsbörse diese Woche Mittwoch, Freitag und Samstag geschlossen. Am Donnerstag findet der Börsenverkehr statt. Die Börse wird um 10 Uhr geöffnet. Der Handel be­ginnt anstatt wie bisher um 12 Uhr bereits um 11 Uhr. Die Devisenkurse werden je­den Tag um 12 Uhr festgesetzt. Austritt der k. A. P. D. aus der 3. Internationale. Berlin , 13. September. Die Rote Fahne " meldet den Austritt der K. A. P. D.( Kommunistische Arbeiterpartei Deutsch­ lands ) aus der kommunistischen Inter­nationale,

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Einzelpreis 70 Heller. Bezugsbedingungen: Bei Zustellung ins Haus oder bei Bezug durch die Post monatlich 16-, vierteljährlich 48, halbjährig 96-, ganzjährig 192-. Für Deutschösterreich monatlich 120- öK, für Deutschland 16- Mk. Erscheint mit Ausnahme des Montag täglich früh.

Arbeiter und Arbeiterinnen!

Parteiger sen, Genossinnen!

Der fünfjährige blutige Krieg hat der Arbeiterklasse neben allen anderen unerhör­ten Opfern eine Ernährungsnot ge racht, wie sie in früheren Jahrhunderten kaum gekannt wurde. Um den Krieg weiterführen zu können, die Bevölkerung nicht völlig ber­hungern zu lassen, mußte der Staat die Verteilung der Lebensmittel vorzunehmen versuchen. Nach dem Kriege sind die Lebensverhältnisse der Vorkriegszeit durchaus nicht wiedergekehrt. Die Verwüstung der menschlichen Arbeitskraft und der sachlichen Produk­tionmittel haben die Ergiebigkeit des Bodens geschwächt und insbesondere in den besiegten Ländern erwies sich die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem Auslande notwendiger denn je. Zu den Transportschwierigkeiten, zur Störung des Weltmarktes kam hinzu, daß die Währungen der besiegten Staaten gewaltig entwertet wurden, diese Staaten zu arm geworden waren, um soviel Lebensmittel im Auslande laufen zu können, als notwendig gewesen wäre, um die breiten Massen vor dem Hunger zu schützen.

Die Sozialdemokratie ist seit Kriegsende mit ihrer ganzen Macht für einen geordneten, staatlichen Ernährungsdienst, für eine Uebergangswirtschaft, aus dem Krieg in den Fric­den, eingetreten. Unsere Abgeordneten haben im Parlamente den bekannten Ernäh rungsantrag Seliger verfochten, der den öffentlichen Versorgungsdienst von der bürokra­tischen Verwaltung befreien und sie auf die organisierten Produzenten und Konsumenten stellen sollte. Wir sind im Abgeordnetenhause mit diesem Plane nicht durchgedrungen, die deutschen und tschechischen Agrarier, die nur die maßlose Erhöhung ihrer Profite im Auge hatten, haben sich damit gar nicht befaßt. Wir waren mit den tschechischen Sozialdemokra­ten einer Meinung, daß wir für ein Ernährungssystem kämpfen müssen, durch das der allmähliche Abbau der staatlichen 3wangswirtschaft vollzogen, gleichzeitig aber die Ernährung der breiten Massen des arbeitenden Voltes sichergestellt wird. Wir sind im Ernährungsausschuß dafür eingetreten, daß der Kreis der zu versor genden Personen derselbe bleibe, wie bisher, was die tschechischen und deutschen bürgerlichen Parteien aller Richtungen einmütig abgelehnt hatten. Die Verhandlungen im Ernährungsausschusse des Abgeordnetenhauses standen aber bereits im Schatten der Bildung einer neuen Regierung aller tschechischer Parteien Um diese Regierung zu ermöglichen haben die tschechischen Sozialdemokraten und Natio­nalisten zu Gunsten der Agrarier darauf verzichtet, daß der Ernährungsplan erledigt wird, nach einer stillen Vereinbarung aller tschechischer Parteien im Parlamentersatz der Tschechoslowakei , in der Petka, wurde der Regierung bewilligt, den Verordnungsweg zu beschreiten.

Die Regierungsverordnung vom 30. Junisetzt die Menge des staatlich bewirtschafteten Getreides auf 40.000 Waggons fest, also ungefähr auf ein Drittel des vorjährigen Kontin­gents. Die eine Verordnung feht eine gewisse Einkommensgrenze fest, bis zu welcher Personen mit Brot und Mehl noch staatlich versorgt werden, die andere Verordnung macht die Versorgung von den bereitstehenden Vorräten abhängig. Die größere Hälfte der Bevölkerung wird aus der staatlichen Versorgung überhaupt ausgeschieden, sie muß Mehl und Brot im freien Handel laufen, eine gewaltige Verteuerung ihres Lebensunter­haltes seht ein. Die andere Hälfte der Bevölkerung erhält Brot und Mehl zu einem höheren Preise als bisher, hat also gleichfalls mit einer Verteuerung der Lebenshaltung zu rechnen. Nach den bisherigen Erfahrungen aber ist wahrscheinlich, daß auch sie den größ­ten Teil ihres Brot- und Mehlbedarfes im freien Handel wird decken müssen, sodaß auch für die Arbeiterschaft die staatliche Versorggung fast völlig aufgehoben ist.

Die Schuld daran, daß es soweit gekommen ist, tragen in erster Linie die bürgerlichen Parteien. Sie haben seit mehr als einem Jahre den Ruf nach dem freien San­del erhoben und erzählt, daß wenn nur die staatliche Bewirtschaftung des Getreides auf­gehoben sei, werde alles in Hülle und Fülle billig zu haben sein. Daß die Agrarier so sprechen, fann uns nicht Wunder nehmen, denn für sie bedeutet der freie Handel tatsäch lich das Paradies, in dem sie goldene Früchte pflücken. Aber nicht nur die Agrarier haben den freien Handel herbeigesehnt, sondern auch die sogenannten bürgerlichen Städ­te und Konsumentenvertreter, ob sie sich nun christlich sozial, deutsch national, nationalsozial oder demokratisch nennen. Bei der Beratung des Budgets im Abgeordnetenhause haben die bürgerlichen Parteien geschlossen für eine Resolution gestimmt, in der der Freihandel mit allen bisher staatlich bewirt­schafteten Lebensmitteln verlangt wird. Dieselben Parteien scheuen sich freilich nicht, jcht Versammlungen abzuhalten, in der sie gegen die mangelhafte Ernährungsweise Sturm laufen. Wir Sozialdemokraten haben uns durch das demagogische Geschrei der bürger­lichen Partei nicht abhalten lassen, den Kampf für die Beibehaltung der Bewirtschaftung des Getreides weiter zu führen. Wenn troßdem jetzt die Arbeiter zu Tausenden aus der öffentlichen Versorgung einfach hinausgeworfen werden, so haben sie dies den Abgeordne­ten der bürgerlichen Parteien zu danken.

Aber auch die Regierung hat sich in ihrer ganzen Arbeiterfeindlichkeit geoffenbart. Sie hat nicht einmal die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses respektiert. Der Ernährungs­ausschuß hat beschlossen, die Höchsteinkommensgrenze der noch zu Versorgenden mit 2500 Kronen zu bemessen, in der Regierungsverordnung vom 16. August ist die Einkommens grenze mit 2000 Stronen festgesetzt. Der Ernährungsausschuß hat bestimmt, der Preis des bewirtschafteten Weizenmehles soll vier Kronen betragen, die Verordnung schreibt fünf Kronen vor. Der Ernährungsausschuß hat die Regierung verpflichtet, durch Ankauf aus­ländischen Getreides dafür zu sorgen, daß die durch die Verordnung umschriebenen Per­sonen das Mehl auch wirklich erhalten, die Durchführungsverordnung vom 17. August macht jedoch die Verordnung von der erfolgten Anlieferung abhängig das heißt, die Ne gierung verpflichtet sich zu gar nichts, liefern die Bauern etwas ab, befommen die Arbeiter zu essen, wenn nicht, können die Arbeiter die Wucherpreise bezahlen.

Der Parteivorstand der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die Zentralge­werkschaftskommission des deutschen Gewerkschaftsbundes und der Vorstand des Verban­des deutscher Wirtschaftsgenossenschaften haben in einer Vorsprache den Ernährungsmi­nister noch einmal auf die drohenden Folgen der jeßigen Ernährungsanarchie aufmerksam gemacht. Die Abordnung hat verlangt, daß wenigstens für den kleinen Kreis der in staat­licher Versorgung Verbleibenden der Bezug auf die Art sichergestellt werde, daß die feh. Ienden Mengen eventuell im Auslande aufgekauft werden. Sie hat darauf hingewiesen,

Weftungarn und wir.

Der Streit ums Burgenland weckt schwer lastende Erinnerungen. Der unselige Juli 1914 steht allzuleicht wieder vor unserer Seele. Auch damals war es ähnlich. Eine grausige Tat war geschehen, ein Mord, der, begriff man, die Näherstehenden erschüttern mußte. Aber was man nicht begreifen wollte und was den­noch lam, war, daß diese Tat eine ganze Welt in ihren furchtbaren Bann zog, weil niemand das rechte Mittel fand, ihre Wirkungen auf den Kreis der unmitetlbar Beteiligten zu be schränken. Wie eine schwürende Wunde fraß damals der Brand um sich. Volk um Volk wurde, es wußte selbst nicht, wie, hineinge­zogen und mußte die Straft seiner besten Ju­gend im Scheiterhaufen der Kriegsfurie auf­lodern sehen. Solch ein verhängnisvoller Atem des Schicksals scheint auch den Streit um West­ungarn zu umwittern. Neben Deutschösterreich und Magyarien reden sich nunmehr auch schon Italien , die Tschechoslowakei und der südslawi­sche Staat drohend auf, ein frech provozierter Grenzkonflikt wird zum Zankapfel zwischen waffenstarrenden Mächtegruppen. Wir wollen und können nicht an die Gefahr eines unnittel­bar drohenden Krieges glauben. Aber die Ge-, witterschwüle, die heute darum nicht weniger drückend über Europa liegt, verdammt schon zur Genüge das Hortysche System der Lüge, der Gewalt und der Hinterlist und verdammt ebenso die zweischneidige Politik der Entente, die erst Horthys Vorgehen ermöglicht hat. Die Magyaren beugten sich dem Frieden von Tria­non, weil sie überzeugt waren, ihn nie ganz hal­ten zu müssen. Ist doch der stärkste Exponent der Entente auf dem Festland Frankreich und im Kampf gegen den Bolschewismus weiß sich, Horthy als Briands verläßlichsten Bruder. Sollte dieser selbe Briand ihn ernstlich zwin­gen, das Burgenland dem sozialistisch verseuch­ten Deutschösterreich abzutreten? Das war nicht zu befürchten und so wurden Stefan Friedrich und Hejas beauftragt ,,, auf eigene Faust" die Geschäfte Horthys zu besorgen und, die Uebergabe des Burgenlandes zu verhin dern. Eine verdammt fluge Rechnung, und sie hätte auch gestimmt, wenn es nur auf Frank­ reichs Willen angekommen wäre. Beweis da­für der Auftrag an Deutschösterreich, das von Ungarn geräumte Land nur mit Gendarmen zu besetzen; Beweis dafür das Verbot, mit der Bundeswehr den Widerstand der Magyaren zu brechen, und ebenso die vielen großen Worte der Entente, denen auch nicht eine ein­zige Tat folgte. Dem hochverdienten Vertilger Bela Kuns mit Energie entgegenzutreten, scheint fein ernster Wille vorgelegen zu haben, aber man scheint sich im Kreise der Entente seltsamer Weise auch darüber nicht im Selaren gewesen zu sein, daß die Nachbarn der Macht erweiterung der gewalttägigen Betharen nicht ruhig würden zusehen können. Jeder Erfolg. Horthys bedeutet ja auch einen Erfolg der habsburgischen Staatsidee und damit einen Nagel zum Sarge der selbständigen Nachfolger­Staaten. So rief das Versagen der großen au­tomatisch die fleine Entente auf den Plan, mit einer zögernden Note Banffys kreuzt sich eine vorwärts drängende Note des Außenministers Benesch. An beiden Schriftstüden ist nicht der Wortlaut das Wichtigste. Banffys Lügen wol­len bloß beschwichtigen und Zeit gewinnen, weil der Sturm der Ereignisse, hofft er, in wenigen Tagen eine Situation schaffen kann, die es ermöglicht, den Raub zwischen den gie­igen Zähnen zu behalten. Und für Benesch mag es das Wichtigste sein, die Fühler aus­zustrecken und zu prüfen, wie seine im Tone energischen, im Ziele absichtlich unklar gehalte­nen Beschwerden und Mahnungen im eigenen Land, von den Brüdern der fleinen Entente und namentlich von Italien aufgenommen werden. Denn Italien hat deutlich zu verste hen gegeben, daß das Burgenland nicht für die