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Berlorene Dörfer, verlassene Menschen..

Bilder aus dem ärmften Böhmerwald  .

II. Wassersuppen.

Kinderelend.

11. Feber 1926.

Not ohne Ende.

der reiche Großbauer des Flachlandes. In einer Zeit, wo zur Sanierung verkrachter Banken Hunderte von Millionen hinausgeworfen werden, Ausnahme. Auf dem weiteren Rundgange gab es Das Bild dieser Armutskammer war keine könnte der Staat wirklich darauf verzichten, die noch viel Trauriges zu sehen. Da war in Neu­ärmsten Leute der ganzen Republik   mit Steuer- bäuhütten die Witive eines Mannes, der Tertilfabrikanten die weiblichen Arbeitskräfte der vorschreibungen zu sektieren. totfiech aus dem Kriege heintkam und nach drei Billigkeit halber bevorzugten, während die Män­Jahren verstarb. Bis heute wartet sie um Gr. ner daheim bleiben und den Haushalt führen ledigung ihres Ansuchens um Hinterbliebenen Noch viel trauriger als das Schicksal der Er- rente und steht mit 5 Kindern allein da. Der Ein dreistündiger Fußmarsch über verschneite land, sondern ist heute noch im Böhmerwald   an- wachsenen ist das Los der Kinder der Ar- älteste 23jährige Sohn ist Musikant. Aber jest mußten. Dieser Zustand war nicht nur in Eng­Waldstraßen brachte uns am zweiten Tage zur zutreffen. In Wassersuppen existiert eine Goldbeitslofen. Sie werden durch Hunger und Not kann er nicht mehr spielen, weil er's zuerst auf in schaft ist der Mittelpunkt eines alten Notstands- Leisten- und Staniolpapierfabrik, die nicht nur der schönsten Lebensjahre beraubt, son- der Brust" hatte und jetzt im Rehlkopf schaft ist der Mittelpunkt eines alten Notstands mit wenigen Ausnahmen Frauen beschäftigt. Sie dern vielfach fürs ganze Leben ruiniert. Der jüngere, 19jährige Sohn möchte was lernen, gebietes. Es iſt nicht zum ersten Male, daß aus verdienen wöchentlich 30-45 Stronen und sind Da war in der Versammlung die Frau eines kann aber bei keinem Meister unterkommen, weil den zehn deutschen Dörfern des Tauſer Bezirkes dabei durchwegs die Ernährerinnen Bayerngängers. Daheim hatte sie se ch s kleine die Mutter kein Lehrgeld bezahlen, keine Wäsche, verzweifelte Hilferufe in die Welt hinausdringen. In den Jahrzehnten vor dem Kriege fretteten sich ganzer Familien. Die Männer sind da se i´nder, von dem Säugling in der Wiege bis feine Kleider mitgeben kann. Ein fechzehnjähriges die armen Häusler, die von dem armseligen Fels- heim, machen Hausarbeit oder gehen betteln. Ein zu einem achtjährigen Buben. Der Mann konnte schwaches Mädel geht in die Fabrik und erbal

und Moorboden des Lebens Notdurft nicht befrie­digen konnten, mit der Erzeugung von Holz­schachteln fort. Aus einem Aufruf des Ver­eines Deutsche Wacht", der im Winter 1909-10 erschien*), geht hervor, daß in der umliegenden Gegend früher einmal 1200 Familien in der Schachtelmacherei tätig waren. Sie arbeiten mei­stens für bayerische Verleger, zuletzt bestand auch cine Produktivgenossenschaft Wasser­fuppen- Haselbach. In 12 Dörfern wurden zur Zeit der Hochkonjunktur jährlich 35 Millionen Schachteln erzeugt. Mit der Einführung des Zündholzmonopols in Deutschlands   und der Ver­drängung der Schwefelhölzer sank plötzlich der Be­darf auf einige Millionen jährlich. Schon in den letzten Vorkriegsjahren mußte der größte Teil der Schachtelmacher nach Deutschland   in die Saison­arbeit gehen. Die maschinelle Erzeugung von Papier   und Blechschachteln, ferner die Holzver­teuerung nach dem Kriege haben dem Erwerbs­sweig völlig den Garaus gemacht. Die Schach­telmacherei ist tot, aber die Familien, die sich da­durch mehr schlecht als recht durchgebracht haben, leben weiter und schreien nach Brot.

Bilder der Zeit.

Wieder ein übervoller Versammlungssaal. Grauhaarige Männer, verhärmte Frauen, hohl­wangige junge Burschen harren in banger Er­wartung. Die Versammlung nahm einen geradezu dramatischen Verlauf. Wie Urlaute der gepeinig­ten Kreatur gurgelte es aus den Menschen her­aus. Ein hagerer Mann mit eingefallenen Augen erhebt den Knotenstock und schreit in größter Be­

wegung:

,, Dreinschlagen müßte man auf die Groß­schädeln! Früher wird es nicht besser werden!"

Es scheint, als ob Tolkers Maschinenstür­mer" oder Hauptmanns Weber" wieder auf­erstanden wären, um ein Stück aus der Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu spic len. Immer wieder dieselbe Klage: Wir haben Hunger, wir haben keinen Kartoffel mehr im Sause, wir müssen die Kinder auf den Bettel schiden. Da ist eine Familie in Haselbach, die im Stalle wohnt, weil sie fein Quartier mehr bezahlen kann. Eine zweite fünftöpfige Familie in demselben Orte hat die ganze Woche über nichts zu essen, hie und da wird von den wenigen organi­fierten Glasarbeitern für sie gesammelt. Da er­zählt ein Arbeitsloser aus Neubäuhütten, daß er nicht mehr weiß, wie er seine zwei Kinder von sechs Wochen und eineinhalb Jahren fortbrin­gen soll. Sie haben keine Ziege.

,, Habt Ihr wenigstens Kartoffel?" -Gar fui!"

Ein nettes, junges Weib, die Mutter eines unehelichen 8jährigen Buben, jammert, sie befinde sich nach einer Gallensteinoperation, solle diät leben und müsse dabei den armen Eltern zur Last fallen. Sie würde überall jede Stellung anneh men, wenn sie nur für ihre Ernährungsweise Rücksicht fände. Sie hat schon auf einem Straßen­bau Notstandsarbeiten berrichtet.

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so

Arbeitsloſengruppe aus dem Gebiet von Wasserfuvpen.

junger Bursche aus Neubäuhütten erzählte: Wir den Jammer nicht mehr ansehen und ging vor sind fünf große Leute in der Familie. Die alte Weihnachten zu Fuß nach Deutschland   auf Ar­Mutter muß in die Fabrit gehen und uns vier beitsuche. Irgendwo ist er bei einer Notstands­großen Burschen aushalten." Zu allem lleberfluß arbeit untergekommen und schickt hie und da soll sie jetzt für das fleine Anwesen noch 600 Keinige Kronen Ersparnis. Wir besichtigten dann Steuern zahlen. Da muß man ein Ver- die einfenstrige dumpfe Kammer, wo diese Familie brecher werden!"

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mit ihrem Lohn die ganze Familie. Sie ist blut arm und war gerade vier Wochen krank. Während des Gespräches brachte der Postbote einen Brief - vom Steueramt. 43 Kronen in irgend einer Gebührensache sind zu bezahlen. Ein Sched war auch dabei doch wo ist das Geld? In ihrem Unglück denkt die Frau noch an andere, ärmere. Sie bittet mich, ob ich den Säugling eines schwerhörigen arbeitslosen Mannes nicht irgendwo unterbringen könnte. dem vor drei Wo. chen die Frau starb. Er wohnt in einer selbst. erbauten Blockhütte, durch deren Wände der Wind pfeift und weiß sich mit den 5 Kleinen nichts an zufangen. Nach dem Begräbnis der Mutter war der Pfarrer da, sah sich den ganzen Jammer an, meinte, das ist die ärmste Familie im ganzen Ort", und ging winder fort. So hilft die Kirche den Armen...

Indessen meine Begleiter noch photographi. sche Aufnahmen machten, wanderte ich zur näch sten Versammlung nach Frohnau  . Der falte Winternebel, der morgens unser Weggefährte war, hatte sich verzogen. Hell leuchtete die Sonne auf tiefgrüne Waldhänge des Hirschsteins und seiner Nachbarhügeln. Zu jeder anderen Stunde hätte mich dieser Anblick begeistert. Diesmal fonnte er aber die tödliche Traurigkeit nicht ban nen, die mich nach den letzten Erlebnissen er füllte. Soviel Unglück, soviel Elend zu sehen und nicht helfen, ja nicht einmal sichere Hilfe verspre chen zu können das liegt noch durch Tage und Nächte wie ein Bleigewicht auf der Seele. W. J. ( Fortsetzung folgt.)

hauſt. In den Wohnraum greift noch der Holz- Erwachendes religiöses Reben in- Sowjetrußland.

Eine Mutter und sechs Kinder- ohne Brot.

Steuerwahnsinn.

( Siche Text.)-

verschlag eines Ziegenstalles hinein. Dieser Ein­druck war der Erschütterndste von allen, Als wir die mitgebrachten Semmeln aus dem Rucksad packen und verteilen wollten, streckten sich gleich zeitig acht magere Aermchen aus: Mir!" Mir!" Mir!"

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Wenn man die kommunistischen   Agitatoren hört, muß man meinen, in Rußland   wäre mit allen Einrichtungen des fapitalistischen Klassen­staates gründlich aufgeräumt worden. Zu den besten Stüßen des Kapitalismus zählt man die religiösen Gemeinschaften. Nach dem Willen der tommunistischen Schreier soll die Religion dem Volke gründlich ausgetrieben werden. Wo anders follte nun die Religion dem Volfe mit mehr Erfolg aus dem Herzen gerissen" werden, als in Sowjetrußland.

Wie aber steht es damit in Wirklichkeit? Es ist wohl wahr, daß die antiklerikale Propaganda dort rücksichtslos arbeitet, daß die Trennung der Stirche vom Staate praftisch durchgeführt wurde

aber deswegen ist das religiöse Leben nicht erstorben, sind die Kirchengemeinschaften nicht verschwunden. Ja, das religiöse Leben nimmt zu. Wir stüßen uns bei dieser Behauptung auf einen Vortrag, den der deutsche evangelische Bischof Malmgren aus Petersburg   bei der 69. Haupt­versammlung des Gustav- Adolf- Vereins in Braun schweig am 23. September 1924 hielt. Redner schilderte eingehend die geschichtliche Entwicklung der deutschen   evangelischen Kirche Rußlands  , die zwei Millionen Menschen vor dem Umsturz um faßte. Als das Jahr 1920 anbrach, sah die lu he rische Kirche in Rußland   aus, wie ein weites Feld, über das die Springflut verheerend hinweg­gebraust ist". Bischof Malmgren schilderte dann die Wiederaufbauarbeit. Vom 21. bis 26. Juni 1924 fand mit obrigkeitlicher Bewilligung die Tagung der Generalsynode, der ersten in Ruß­ land   seit eine lutherische Stirche besteht, unge hindert statt. Es waren im ganzen 57 Delegierte aus 27 Wahlkreisen erschienen, außer zwei Gästen aus den transkaukasischen oder grusinischen Kolo­

Ein Arbeitsscheuer" spricht: ,, Bitte einmal um ein wenig Ruhe", beginnt ein rüstiger Mann in besten Jahren,- ,, damit ich dem Herrn Referenten erzählen kann, wie es uns geht, wenn wir arbeiten wollen. Bei unserer Gemeinde Mauthaus waren Steine für einen Straßenbau zu brechen. Wir bewarben uns beim Herrn Straßenmeister   um diese Arbeit. Unglaublich, aber wahr: Menschen, die am Als Lohn wurde uns 8 K für den Kubikmeter Hungertuche nagen, die kein Geld auf Salz und mittlere Straßenbausteine, 25 K für Schotter- Zündhölzer haben, sollen jährlich Hunderte von steine versprochen. Wir haben probiert, ob wir Seronen Steuern zahlen. Das kommt teils von bamit auskommen können. Alle, die da sind, den staatlichen Realsteuern auf das kleine Häus- Meinem Begleiter stürzten Tränen hervor. nien, die bisher eine Sonderstellung eingenommen wissen, daß ich arbeiten kann und daß ich es mit chen und das dazu gehörige Stück Waldäckerlein Wer könnte angesichts solchen ungeheuren Jam- batten. Einmütig wurde die neue Verfassung der jedem aufnehme. Also haben wir zwei Mann oder Moortviese, teils von den schrecklich hohen Ge- mers ungerührt bleiben? Während der photogra- Stirche angenommen, die einen dreistufigen Auf­zwei Tage gearbeitet nein, geschuftet wie meindeumlagen. Wenn ein Ort, wie die Ge- phischen Aufnahme klagt das Weib ihr grenzen- bau vorsicht. Und Bischof Malmgren erklärte die Narren. In den zwei Tagen haben wir vier meinde Mauthaus, von lauter armen Teufeln loses Leid. Als der Mann fort war, padte sie hochbefriedigt: Damit steht die evangelisch- luthe­Rubikmeter Straßensteine gebrochen, also zu bewohnt wird, kommt es dahin, daß die Orts- eine Krankheit, wevon die ausgefallenen Kopf- rische Kirche Rußlands   nach außen wieder ge aveit 32 Kronen verdient. Regie hatten armen für die Kosten der Armenpflege auftom- haare zeugen. Wochenlang lag sie ohne schlossen als die eine da, die sie war vor Beginn men sollten. Mauthaus hatte im vorigen Jahre Pflege. Die Kleinen mußten die Stleinsten der Revolution, nur mit dem Unterschied, daß sie Schmiedkosten. 35.- Kronen 1230 Prozent Gemeindeumlagen, dieses Jahr warten und obendrein den Unterhalt erbetteln. ießt eine ist nicht aus fremdem Willen, nicht aus Schußmaterial. follen es 1800 Prozent werden. So kommt es, beispielloses Martyrium, o beispielloses Helden- dem Willen der Staatsgewalt, sondern aus eigenem daß ein Arbeitsloser, der einschließlich des Bau- tum einer Mutter! freien Entschluß und Willen. Der Auf­Zusammen gründes seiner Hütte 50 Klafter Grund besißt, im Nach der Aufnahme waren die größeren Rin- lösungsprozeß ist damit endgültig cher geschunden und zum Schluß sollten wir auf rer, der 4-5 Strich unfruchtbaren Bodens dabei die Schule, weil sie so gerne lernen und weil an Ruinen." Der Redner berichtete u. a. auch, Zwei Tage haben wir uns also wie die Vie- Jahr 221 Kronen Steuern zahlen soll, ein ande- der nicht mehr zu halten. Zwei stürmten fort in zum Stillstand gekommen. Neues Leben tann aufblühen aus den den Verdienst noch 33 Kronen draufzah hat, 3-400 Stronen jährlich. Die Folge ist, daß diesem Tage gerade die Zeugnisse fällig waren. len! Rann man unter folchen Verhältnissen ar- jeden Augenblick der Steuerzahler auf Nur ein Mädchen blieb traurig auf den Stroh- daß die Generalfynode beschlossen hat, unverzüg beiten? Da bleib' ich lieber daheim und lasse mich der Bildfläche erscheint und womöglich die letzte facklumpen sipen. Warum sie nicht auch gehe? lich eine Ausbildungsstätte für Theologen zu bon meiner Frau aushalten." Biege aus dem Stalle reißt. Abgesehen davon, daß Weil um ein paar kleine Holzpan- religiöses Leben blüht in Sowjetrußland, obwohl Schaffen und zwar in Leningrad  . Also neues es dringend notwendig wäre, diesen armen Wald- toffelchen zu wenig da war, konnte bort in den Schulen der Religionsunterricht nicht religiöses Leben blüht in Sowjetrußland, obwohl gemeinden aus ihrer Finanznot zu helfen, er- fie nicht in die Schule gehen... scheint die Abschreibung der staatli- Menschen, hört es: solche abgezehrte hunger- unterricht an Kindern, die das 18. Lebensjahr geduldet wird und auch der private Religions chen Steuern gegenüber diesen Arbeitslosen geschwächte Kinder der Arbeitslosen weinen, wenn noch nicht vollendet haben, aufs strengste verboten als eine selbstverständliche Forderung. Es ist übri- fie nicht lernen können. Und zur gleichen ist. Es zeigt sich klar, daß die mechanisch- gewalt gens eine himmelschreiende ungerechtigkeit, daß Stunde quält vielleicht der Range eines Bank- fame Austilgung" der Religion im Sinne der ber arbeitslose Häusler im ärmsten Böhmerwald- direktors einen proletarischen Studenten, der sich Kommunisten nicht die gewünschten Früchte zeitigt. gebiete für jeden Wohnraum seiner Keusche die- als Hauslehrer mit ihm abmüht. Und das foll

wir:

20.80 Kronen

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55.80 Stronen

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Die Frau als Ernährerin.

In seinem Buche ,, Die Lage der arbeitenden Alassen in England"" schilderte Friedrich Engels  , wie vor Jahrzehnten die englischen

Bitiert in Böhmerialbler Hausindustrie und Boltstunst" von Josef Blau  , Prag   1918. S. 308.

felbe Hausklassensteuer zahlen muß, wie eine. gerechte Weltordnung sein?