11. JuN 1826.
Seile 5.
Di« Naturfreunde zur Reichsgesundheitswoche. Der Reichsausschuß der Naturfreunde wurde zu der geplanten Gesundheitswoche eingeloden. Zeitmangels wegen konnten für die Teilnahme keine Borbereitungen mehr getroffen werden. Die Prager Ortsgruppe hat an die Leitung der deutschen Reichsgesundheitswoche in der Tschechosl. Republik in Prag folgendes Schreiben gerichtet: Im Rahmen der deutschen Reichsgesundheilswoche veranstalteten wir einen Vortrag über:„Das Wandern ein Gesundbrunnen", woran sich eine Aussprache anschloß. Es wurde folgende Entschließung gefaßt welche wir Ihnen hiermit vorlegen. Das Programm des Touristenvereines Die Naturfreunde erstrebt die körperliche und geistige Gesundung der arbeitenden Menschen. Für uns ist das Wandern ein Gesundbrunnen und kein Luxus. - Das Wandern bringt Freude, Kraft und Gesundheit, es ist notwendig zur vollen Entwicklung des Körpers und eines der besten Mittel zur Bekämpfung der Tuberkulose. Wir stellen: frische Luft gegen Rauch, frische- Wafler gegen alkohol. Getränke, Arbeitsfreudigkeit gegen Uebermüdung, frohen Mut gegen Nervosität, Tageslicht gegen künstliches Licht. Die Veranstalter der Gesundheitswoche werden aufgefordert, dafür einzutreten, daß Alt und Jung der schaffenden Menschen daran Anteil nehmen kann» denn dies wird erreicht durch Förderung des Wanderwesens unter Beibehaltung weitgehendster FohrpreiSbegünsti- gungen, durch Förderung von Erholungs-, Ferien- und Unterkunftsheimen, durch Beibehaltung der Achtundvierzigstunden-Woche, durch Ausgestaltung des freien Samstag Nachmittages und der Ruhepausen, durch-entsprechende Fürsorge und Entlohnung der jugendlichen Arbeiter und Angestellten, durch Festhaltung und Erweiterung der bezahlten Urlaube für Arbeiter, Angestellte und Jugendliche. Karl B. Rais gestorbe«. Vorgestern nachts starb der tschechische Dichter und Schriftsteller Karl B. Rais. Er wurde 1859 in Bad Bölohrad geboren und war der urwüchsige, realistische Schilderer des tschechischen Kleinbauernelends, Häuslerwesens und Landntilieus. Alle seine Figuren sind ungemein lebenswahr, besonders glücklich ist seine Schilderung derber Bauerntypen, deren Herz oft wie mit einer Eiskruste umgeben scheint und die dann durch das Loben, irgend ein« Episode,„gewandelt" werden Was Anzengruber auf dramatischem Gebiete, hat Rais in seinen Novellen und Romanen geschaffen. Meisterhaft war seine Zeichnung alter Menschen. Bon seinen Erzählungen heben wir besonders hervor: Rodike a däti(Eltern und Kinder), Kalibüv zlokin(Kalibas Verbrechen), Polmöchuk(Bittersüß), Horste koreny(BergwurjKn). Wir- werden demnächst etwas von Rais verGstlichen. Was die tschechischen Faschisten alles geniert. Auf die Anfrage der tschechischen Oeffentlichkeit wer denn das eigentlich sei, das„Direktorium der tschechischen Faschisten" antwortet das„Zentral- Organ",(in Wirklichkeit ein Wochenrevolverblatt) wörtlich:„Wer die Führer der tschechischen Faschisten sind, wollt ihr also wissen?— Der„Instinkt", der gesunde nationale Instinkt(!), wie es zu Beginn des Krieges war, äls sich das Volk zum spontanen Kampf entschloß." Wer erstickte diese Bewegung? fragt das Blatt weiter. Die„sogenannten" Befreier des Volkes. Sie schreiten in den
Fußspuren Oesterreichs und schänden unsere gefallenen Helden!(Wiewiel man von den Faschisten erfährt in paar kurzen Worten, wozu wohl der Präsident seine„Weltrevolution" geschrieben hat:) Unsere Republik ist für uns, nicht für Deutsche , Kommunisten, sozialistische Führer und Juden... Ein Herr Senft identifiziert sich gar mit dem Genius des tschechischen Volkes und fragt: Quo vadis?— Er schließt: Wir wollen das materielle Glück aller Tschechen! Ist er arbeitslos? Bezieht er keine Arbeitslosenunterstützung, dieser Genius Senft weil er dos„materielle" Glück der Tschechen wünschte?— Die„Bohemia" kann sich freuen! Das Faschistenblatt schreibt:„Wenn wir regieren, wird das Blatt mit einem Federzug eingestellt." Auch die Gattin des Gatten des Gesandten Jan Masarhk bekommt eins dafist, daß sie in Karlsbad deutsch gesprochen hat, ein Herr Franöfl aus Kolm schreibt darüber einen Artikel, ebenso, daß in Pooßbrad ein deutscher Hoteldiener angestellt ist! Dann ist es den Faschisten nicht recht, daß die Prager aus den Fenstern früh— die Federbetten stecken, nein, Fahnen stecket heraus, Heißt es weiter. Also wohlgemerkt Prager : Die Faschisten sind so wohlriechend, daß eine Benenlüftung unter ihrem Regime nicht mehr nötig sein wird.— Wir können uns also auf dee faschistische Regierung freuen! Ueber di« internationale Gartenbauausstellung in Dresden schreibt uns ein Brünner Genosse, der jene besuchte: Alles was nur irgendwie mit der Kunst des Gartenbaues zusammenhängt sst in dieser prächtigen Ausstellung, die einen ansehnlichen Teil des„Großen Garten's " in Dresden einnimmt vertreten. Spezialmaschinen und Triebhäuser in ungeheueren Ausdehnungen sind ein sprechender Beweis für die Entwicklung deutscher Arbeit auf diesem Gebiet. Die modernen Ziergärten sind stilistisch gebundenerer Form und erinnern teilweise an den französischen Stil um 1800 herum. Hingegen, zeigt die Form der Beete weniger Rundungen und me Vorliebe für große Rasenflächen. In der Abteilung, für Edel- und und Spalierobst gibt es auserlesene Gatimmen, die auf verstaudnisvoljß Züchtung Hinweisen. Man glaubt in einem Feengarten zu sein, wenn man die gwßen Rosenpflanzungen betritt, wo nicht weniger als>300.000 Rosen in vollster Blüte prangen. Springbrunnen aller Art geben der zierlichen Anlage eine reizvolle Abwechslung. Zahlreiche Bänke in moderner Ausführung, die gleichzeitig von verschiedenen Firmen ausgestellt werden, bieten dem Besucher im Schatten gepflegter Bämne reichliche Gelegenheit in Ruhe die BMmenPracht genießen zu können. Dies« Ausstellung bann äls vollständig gelungen bezeichnet werden und wird sicherlich viele Anregungen aus diesem Gebiete geben. Religio« und Erdöl . Vor einem New Norker Gericht sind dieser Tag« zwei sehr fromm« Männer gestanden Dr. Earl Taylor, der frühere Leiter der„Allkirchlichen Weltbewegung", und sein Helfershelfer, der Geistliche Wilbur Clements, Leiter des»^onntagsbundes". D>e beiden gründeten eine Great Basin Oil Compagny zur Ausbeutung von Petroleumgruben auf Ländereien, wo sich nach einem Gutachten des Geologischen Dienstes der Bereinigten Staaten unmöglich Oelfelder befinden können. Aber Dr. Taylor erklärte, er habe die Zusicherung der göttlichen Mächte, daß die Felder reiche Petroleumschätze bärgen. Dank seinen ausgebreiteten kirchlichen Verbindungen hatte der Schwindler leichtes Spiel.
Er bewog die Geistlichen in den einzelnen Gemeinden zur Abhaltung eines Public dinner. Dort berief er sich auf die göttlichen Mächte und überdies auf den Staatsanwalt. Auch konnte er — wahrheitsgemäß— darauf Hinweisen, daß fünfundzwanzig Bankpräsidenten und Vizepräsidenten bereits Aktionäre seiner Unternehmung waren. So gingen seine Aktien, die er für zwölf bis zwanzig Dollar das Stück verkaufte, reißend ab. Insgesamt hat der fromme Schwindler 250.000 Aktien Ä>n den Mann gebracht, bis der Staatsanwalt ihm in den Arm fiel. Der Gattenmörder Pilar zu 20 Jähren Kerkers begnadigt. Der Bergarbeiter Jaroslav Pilar aus Niedergeorgental, der seine junge Frau in einer Pinge ertränkt hatte, war in der letzten Schwurgerichtsperiode des Brüxer Kreisgerichtes zum Tode verurteilt worden. Der Präsident der Republik hat das Todesurteil nicht bestätigt, sondern Pilar begnadigt und die Todesstrafe in ein« 20jährige schwere Kerkerstrafe umgewandelt. Fünf Frauen im Hernad ertrunken. Bei Feldarbeiten, die in der Gemeinde Nadoöt bei Kaschau am linken Ufer des Hernad während der letzten Tage unternommen wurden, sind am Dienstag fünf Frauen ums Leben gekommen. Ein Teil der Bevölkerung besitzt Aecker auf dem linken Ufer des Hernad. Die Bevölkerung hatte sich in aller Frühe, durch das scköne Wetter verlockt, an die Arbeit begeben und die Besitzer der linksseitigen Felder hatten sich durch einen Zigeuner im Kahn ans andere Ufer bringen lasse». Nachmittags brach ein gewaltiger Gewittersturm los und, obwohl der Kahn nur sechs Personen faßte, drängten die ungeduldigen und aufgeregten Frauen sich rücksichtslos in den Kahn, der außer dem Steuermann 12 Personen ans Ufer bringen sollte. Kaum war der Kahn in der Mitte des stark angeschwollenen Flußbettes, als er umkippte und feine Insassen in den Wellen begrub. Der Zigeuner vermochte sich schwimmend ans Land zu retten. Zeugen des Unglücks stürzten sich in die Fluten, um Beistand zu leisten und es gelang ihnen auch, sieben Frauen zu retten. Fünf Frauen fanden in den Fluten den Tod. Auch ihre Leichen konnten nicht geborgen Werden, da die starke Strömung sie mitgerissen hatte. Deutscher Juristentag. Das Sekretariat der Ständigen Vertretung des Deutschen Juristentages in der Tschechoslowakei amtiert ab 12f bis Ende Juli nicht. In dieser Zeit einlangende Post wird erst nachher erledigt.
Kleine Thron«. Tagore über dar Abendland. Ein« Kritik de» Weltkrieges. Man hat von Tagore , dem indischen Dichterphilosophen, nichts mehr gehört, seitdem ep. Italien im Vorjahre einer Krankheit wegen plötzlich verlassen mußte. Dann erhielt man einige Bulletins, seitdem aber nichts mehr. Nun veröffentlicht Rabin- dranath Tagore in einer der letzten Nummern der von Suredranath Tagore herauSgegebenen Zeitschrift „Visva-Bharati Quartarly", dem Organ der Universität Santiniketa, einen interessanten Artikel, in dem er mit dem Abendland und seiner Kultur abrechnet und besonders den Weltkrieg kritisiert, als habe dieser ihm über den Westen erst richtig die Augen geöffnet. „Der Weltkrieg war eS," schreibt Tagore ,„der di« ungeheure Selbstbefriedigung Europas in Fotzen
riß. Kürzlich kam«S zu feiner Ueberraschung zu der Erkenntnis, daß sein Ursprung nicht von außen kam. Bis zu diesem Augenblick stand es im Zenit seiner Macht und seines Glanzes. Aeußerlich hatte es anscheinend endlos« Zeit für sein grenzenloses Glück erobert, während es mit seinem erbarmungslosen Erfolg das Schicksal von Millionen fremden Volkes in die Form seines Fußschemels gebracht hatte und es beständig festhielt. Das Barometer, das den äußeren Stand der Atmosphäre verzeichnete, prophezeite eine ewige Monotonie heiteren Wetters. Durch die Reibung, die die wtderstreitendAl Begierden geschaffen, entstanden böse Blitze, doch glaubte man fast, daß der Trieb eines, intelligenten Eigennutzes selbst dazu hinreichen würde, eine dieser heftigen Gebärden nicht in einer Katastrophe endigen zu lassen. ' Dann kam der Tag, wo alles das, was ihm die Oberherrschaft in der Welt verliehen hatte, sich gegen sie zu wenden schien. Die Wissenschaft, die es fiir einen Jagdzug gezähmt hatte, riß ekelhafte Löcher in seine eigenen Glieder, die noch kein Zeichen von Heilung zeigen. So mußte sein stolzer Geist zu dem Schlüsse kommen, daß sein jetziges Leiden nicht die Folge eines Mangels geistigen Talents oder materieller Ueberlegenheit, sondern die eines krebsartigen Gewächses innerhalb seiner eigenen moralischen Natur ist. Das hat uns in Asien endlich die Gelegenheit geboten, Europa mit unserem vom Hypnotismus des Erfolges nun befreiten Geiste zu beurteilen— eine Gelegenheit, die zu unserer eigenen Rettung notwendig war. Dieses Urteil darf aber nicht erfolgen in einem Geist der Widervergeltung, der da kichert bei der Aussicht, einen Teil des übelriechenden Kotes auf den Westen zurückwerfen zu können, den cs auf den schutzlosen Osten zu schleudern nicht müde geworden war." Tagore knüpfte an seine Kritik die Kampfansrge des Ostens an den Westen. Allerdings soll es kein Kampf mit Waffen sein, sondern ein moralischer Krieg. Der Osten verweigert dem Westen den traditionellen Gehorsam, seit er nicht mehr die Ueber- zeugung von der' moralischen Ueberlegenheit. des Westens hat, seitdem er das Richtschwert trägt. Ta gore schreibt darüber in seinem Aufsatz, den die Zeitschrift„Abendland"(Gilde-Verlag, Köln ) reproduziert:„Wir dürfen das aber nicht so sortgehen lassen. Wir müssen unsere Stimme wiederfinden, um dem Westen sagen zu müssen:„Eure Dina« könnt ihr in unsere Wohnung hineinzwingen, ihr könnt unsere Lebensaussichten versperren—aber wir werden über euch richten. Ihr könnt unser Urteil ignorieren, materiell wird es euch nicht bee'u- trächtigen noch euch in eurem Aufstieg zu den schwindelnden Höhen von Vorteil und Macht hemmen, uns wird es aber vor moralischer Erniedrigung retten. Wir weigern uns, uns selbst zu erniedrigen, indem wir.sagen, daß ihr weder des Gehorsams wert seid, wAl ihr stark, noch der Achtung wert seid, weil ihr reich seid." Und er schließt:^,Um. ups deshalb von der Anarchie der westlühe».Glaubensschwäche zu retten, müssen wir uns heut erheben und Richter über den Westen sein. Wir müssen uns aber auch schützen vor der Antipathie, die blind macht. Wir dürfen uns selbst nicht unsähig machen, die Wahrheit anzunehmen. Denn vordem erschien der Westen vor uns, nicht nur mit seinem Dynamit der Leidenschaft und dem Ballast der verschiedensten Dinge, sondern mit der Gabe der Wahrheit. Solange wir ihn nicht im rechten Geiste annehmen, werden wir selbst das nicht entdecken, was in unserer eigenen Kultur wahr ist, um sie der Welt zum allgemeinen Nutzen darzubieten. Di« Kultur und Humanität des Westens gehört nicht der Nation,, sondern dem Volke an."
Die Poesie der Eiseichahn. Von Franz Lill. Als vor hundert Jähren das erträumte Wundertverk grübelnden Menschengeistes mit der gestaltenden Technik zur kühnen Tat geformt wurde, da stand auch die Mehrheit der zeitgenössischen Dichter an der Seite der Krämer, die bekümmert ihren Stand bedroht fühlten, denn auch die Zunft der Poeten bangte um die„blaue Wunderblume der Romantik", für die nun in dem werdenden neuen eisernen Zeitalter kein Platz mehr sei. In das mystisch« Dunkel einer Zeit versponnen, die noch nicht von blendendem Licht der elektrischen Kraft erhellt war, und in per eine weltabgewandte Philosophie dem Lauf der Stern« nachgrübelte, wurzelten Beruf und Aufgabe des Poeten in einer Gefühls- und Ge- hankenwelt, die vorerst mit den Problemen der neuen Zeit nichts anzusangen wußte, die wie Ars einem Wunderland emporgestiegen waren, an das vor seiner Entdeckung niemand geglaubt hatte. Mit dem schnaubenden Dampfroß, daS prustend über die Schienen ratterte, tvar die beschauliche West von Träumern zerstört worden, und das Lärmen der Maschinen, das nun auch allgemach in die stillen Stuben der Gelehrten und Poeten drang, schuf einen Zustand und Verbvei- tete eine Atmosphäre wo auf die Tauer die Literatur aus der alten Minnesängerzeit/mit den herkömnrlichen Mitteln von Mondschein, Liebe und Zuckerwasser nicht mehr auskammen konnte. Die Eisenbahn, die mit ihrem großen Verkehrswunder Welt und Leben neu geformt hat, schuf zunächst auch eine neue Epoche für die Dichtkunst. Damit, daß wie Justinus K e r- uer geklagt hat Vom Dampfer und von: Segelschiff And von des Dampfwagens wildem Pfiff" daS alte Idyll des Posthorns zerstört war, mußte man sich abfinden, wie man sich eben mit allem äbfinden mußte, was die Zeit an den wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen des gesamten biologischen Weltbildes geän«rt hat.
Mer aus der Zerstörung ward auch hier neues Leben, grünte und wuchs die neue Saat und den vielen Aengstlichen, die gefürchtet hatten, „Daß Poesie entsetzt Mn fliehen werbe Auf schnurgerader Eisenbahn entsagen, Entführt auf Dampfregatten unserer Erde Auf Dampflarrossen ferne fortgetvagen, kannte schon der Dichter Anastasius Grün , der das Wunder dieser n;i?:.i Zeit ahnte, antworten: „Ich weiß, daß deines Wandels Flammengleis« Kein Blümchen im Poetenheim bedrängen, Sowie des Heiligenscheines Glorienkreise Kein Löckchen am Madonnerchaupt versengen! Nein, Amt der Poesie in allen Tagen Jst's, hoher Geist, dein Siegesfest verschönern Wie der Viktoria Goldbild über'» Wagen Des Triumphators schwebt um ihn zu krönen." Und die Poesie ist ihrem Amte das-Zeitbild dichterisch zu gestalten und in Schönheit verklärt schauen zu lassen, redlich treu geblieben. Mit dem Verluste der Postkutsche und den mählich verklingenden Schallmaien friedsamer Hirtenzeiten, ist uns nicht, wie man gefürchtet hat, die Poesie selbst abhanden gekommen, nur ihr Ausdruck und ihre Formen haben sich gewandelt, wie eben die Zeit und ihre Objekte, selbst denen sie schöpferisch zugewendet ist. Wie auch sollte nicht schaffende Technik die in meisterhafter Vollendung in traumhaften Vorstellungen der Vergangenheit Erschautes, Wirklichkeit werden ließ, die Phantasie entzünden, und in begeisterungsfähigen Seelen jene Sprachgewalt lebendig, werden lassen, mit welcher der Dichter vor dem schöpferischen Geiste seine Ehrfurcht bezeugt?„Steckt etwa," so fragt Max E t h y s—„keine Poesie in der Lokomotive, di« brausend durch die Nacht zieht, und über die zitternde Erde hiniobt, als wollte sie Raum und Zeit zermalmen in dem hastigen, aber wohlgeregelten Zucken und Zerren ihrer gewaltigen Glieder, in dem stieren, nur auf ein Ziel loSftürmen- den Blick ihrer roten Augen, in dem emsigen willenlosen Gefolge der Wagen, die kreischend und klagend, aber mit unfehlbarer Sicherheit dem verkörperten Willen aus Eisen und Stahl Folge leistend?"
„Rhythmisch harmonisch im Taktgetöse, Ratatata— über Schienenstöße Schlagen der Wagen Drehgestelle Ratatata—-mit Blitzesschnelle." Das Jahrhundert der Eisenbahn, das im vergangenen Jahre gefeiert worden ist» hat eine neue Kunst, vor allem eine neue Dichtkunst, geschaffen, in der wir di« Wunderwerke der Technik in ihrer Schönheit knnen und schauen lernten, und in welcher der Rhythmus derMa- s ch i n e hörbar geworden sst. DaS Ungetüm der moderrten Riesemokomotive hat HanS Adler mit einer liebkosenden Wärme geschildert, die aus einem mit Andacht erfiillten Herzen strömt, zu der uns die Pracht des aus Urgewalten gezeugten kraftstrotzenden Ungeheuers zwingt. Wie in den mächtigen Bergesgipfeln mit ihren« weißen Glanze offenbart sich auch in dem Koloß der Maschine eine Majestät, in der wie in den Gottheiten alter Völker wieder di« heidnische Naturbetrachtung auflebt." In einem schmucken Band:„Das Eiserne Leben", der zur Feier des 100jährigen Jubiläums der Eisenbahn im Erich Kunter- Verlag in Heilborn am Neckar erschienen ist, hat nun der österreichische Essenbahndichter Franz Swoboda weit über hundert Dichtungen aus den Werken deutscher Schriftsteller von der Zeit der Romantik bis zur Gegenwart gesammelt, in denen sich dieses Jahrhundert der Technik und des Weltverkehres spiegelt, und in denen das sLeben auf der Eisenbahn in seiner bunten Mannigfaltigkeit geschaut sst. Bon Fveiligrath, Saar, Liliencron , Demel und Baumbach bis Gerhard -Hauptmann , Bierbaum, Petzoldt und vielen Anderen, sind Dichtungen, die sich mit der Eisenbahn beschäftigen, zu einer Anthologie des Dampfes und der Eiscnbcchn vereinigt, und man sieht die Welt der neuenPoesie vor seinem geistigen Auge in allen ihren verschiedenen Formen. Und es sind nicht bloß die Schöpfungen der ganz Großen deutscher Dichtkunst, wo uns. wie etwa in-Hauptmanns„Nachtschnellzug" oder in Demels„B i e r t e r K l a s s e" das Leben auf der Essenbahn nut wunderbarer Realistik geschildert wird, wir lernen auch andere Bilder kennen, die reich an sprachlichen Schönheiten und plastischer
Darstellungskunst sind, wie etwa Karl Emerich Baumgartls„Lokomotive": „Maschine wuchtet donnernd in die Halle. Der Dampf heult ans und zischt. Di« Bremst schreit Sich wund am heißen. Rad. Mit einem Knalle Löst sich der Pfiff.— Nun steht sie schwer und breit."*■' Oder wenn Gerrit E n g« l k e das in spmng. bereiter Gier daliegende.ssnanzig Meter lange Tier schildert: „Wie Ost und Wasferschweiß Wie LcbenWlüt gefährlich heiß Ihm a»S den R-rdgestängen: den offenen Weichen fließt." In realistischer Anschaulichkeit sprachlich geforurt« Bilder von neuer Schörcheil, werden in dem Buche lebendig, aber auch diel lyrische Zartheit ist dem Leben und Dingen auf der Eisenbahn ahgewonnen worden. So etwa, wenn Bmno P o m pe rki„A m Bahndamm" seine Blicke gleiten läßt: „Die Herbsssonne blickt auf dem Gleis, Die Birken leuchten in hellstem Weitz, Marienfäden wandern sacht Ueber der Sträucher verwelkt« Pracht." In diesen hundert Jahren sind Wirtschaft und Lehen von der Eisenbahn neu. geformt worden und Mick und Erkenntnis der Meirschheit konnten sich fast zu Unendlichkeiten weiten. Und eine Kultur, die die Geister international besruch- tet hat, konnte erst den Boden zu jenen großen gewaltigen Ideen vorbereiten, die den Sieg der Technik über Materie und Naturgewalten zu einem endlichen Sieg des Gei st es und der Vernunft machen werden. Und auf dieser Wegwan- deruug auffteigender Entwicklungsfähigkeit spürt man in der neuen Dichtkunst, die aus dem eisernen Leben" geschöpft hat, di« neue Poesie, und es rasselt und rattert, klingt und singt in vielgestaltigen raisschenden Akkorden das brausende Lied der Zukunft!