Samstag, 18. Feber 1928.
Die im Dunkeln leben.
Wohnungsmangel, Mietpreiserhöhung, Wohnungselend, die Urfachen von Krankheit, Siechtum und Degeneration.
Bon Leopold ölzl.
III.
Mach od emol in de Dulce!" Längs der westlichen Seite des Marienberges führt eine schmale Straße gegen den„ Berta grund", der im Sommer gerne als Spazierweg gegen und von Dorf Ziebernik benützt wird. Die rechte Seite der mit großen Steinen holprig gepflasterten Straße ist in geschlossener Bauweise bollständig, die linke Seite teilweise verbaut. In den meist ebenerdigen, höchstens einstödigen Häusern wohnen Arbeiter und fleine GeschäftsLeute. Dieser Stadtteil ist die Dulce" und als Armeleut- Viertel bekannt. Ganz rückwärts in der Dulce befindet sich eine den Herren Raimund und Rudolf Richter gehörige Ziegelei und ein dazu gehöriges Wohnhaus für zwei Parteien. In einer der beiden Wohnungen lebt die Fami lie M. seit dem Jahre 1918. Neun Personen( bis bor wenigen Monaten zehn), darunter drei Stinder, von denen eines im letzten Herbst schulpflich tig wurde, wohnen" in zwei nassen, dumpfig riechenden Räumen, im Ausmaße von zusammen 49 Rubikmetern. Die Dede senft sich gegen die Mitte und droht herunterzufallen, wodurch die Familienmitglieder stets gefährdet sind. Nach einer sanitätspolizeilichen Erhebung im Jahre 1926 wurde dringend um Zuweisung einer befferen Wohnung ersucht, doch es blieb bisher alles beim alten.
Im Hause Dulce N. 80, welches der in Tet schen - Altstadt wohnenden Frau Anna Schicktanz gehört, wohnt in einem Rimmer" im Hofgebäude die Familie R. Das Lofal hat einen Luftraum von 28 Rubikmetern und ein Fenster im Ausmaße von 1.60 Meter im Quadrat Der Fußboden ist durchgefault, so daß des Nachts die Ratten ohne weiters durch Dre Löcher in den Raum dringen fönnen. Widriger Geruch, ein Gemisch von Moder, Schimmel und Gestant aus den Ziegenstall, der sich im selben Hofgebäude, direkt gegenüber der Woh nungstür befindet, verpestet die Luft. Die Rüdwand des einzigen Kastens ist mit Schimmelpil zen bedeckt, ebenso Schuhwerk und Kleider. In biefem menschenunwürdigen Loch wohnt Herr K. mit seiner Mutter schon seit der Zeit vor dem Kriege und alle Bemühungen, auch einmal eine lichte, sonnige, gesunde Wohnung zu erlangen, waren bisher umsonst. Seit 1920 ist St. berbei ratet, so daß seine junge Frau und ein Kind, das nach ärztlichem Zeugnis infolge der schlechten Wohnungsverhältnisse trant ist, das Elend mit ihm teilen. Für das Loch zahlt K. jährlich 159.60 Kronen Mietzins. Ein Protokoll einer fanitätspolizeilichen Kommission, in dem die sanitären
oder minder primitiv aus Brettern zusammen Wohnungen eingerich et sind. Der Stadtrat genagelten Holzbuden gezeigt werden, die als mußte den Bau dieser Buden wohl oder übel gestatten, weil eine andere Möglichkeit zur Unter bringung der delogierten Familien nicht besteht. Ein Besuch der Hüttenbewohner lohnt sich, denn
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Herrn Stich vorgeladen und ihm eröffnet, daß| rich J. in Kleische. Den engen Raum der Bretdie Holzbude demoliert werden muß, da sie terbude füllen ein altes Bett, ein kleiner Tisch, tet worden sei. Das Wohlfahrtsamt mußte fich Wasser steht in Tropfen an den Wänden und die sanitätswidrig und ohne Baubewilligung errich ein Koffer, ein Stuhl und der kleine Ofen. Das mit dem Fall beschäftigen, weil die Frau am Luft iſt dumpfig, denn wenn die Tür auch nur 11. Jänner 1. J. in der Hütte ein Kind zur eine furze Zeit offen steht, fühlt der Raum vollWelt brachte, wobei der Mann die Hebamme ständig aus und die Kohle ist teuer. ersetzte. Nach der Entbindung mußte aber die
geschafft werden, weil sie in der Hütte umgekomFrau samu dem Kinde in das Bezirkskrantenhaus Strant und ohne ärztliche Hilfe in einer Bretters bude. Daumen und zwei Finger. Ein Junge ist schwachführen die Eheleute Franz und Antonie T. Franz men wären. Der Frau fehlen an einer Hand der Ein besonders trauriges und elendes Leben sinnig und soll in eine Auftalt; doch der Mann T. ist von Beruf Schmied und hat durch Jahr fann sich die vom Wohlfahrtsamt verlangten Doku - zchnie feine Arbeitskraft den verschiedenen Meimente nicht beschaffen und so bleibt der Junge stern zur Verfügung gestellt. Nun ist er 66 Jahre seinem Schicksal überlassen. Während die Frau alt; ausgemergelt und zu schwerer Arbeit unfähig,
man kann da hören und sehen wie furchtbar die Folgen des Wohnungsmangels sind.
ausgestoßen aus seinem Heimatsort, einem klei nen Dorf im Bezirk Krumau , das kein Geld hat um alte, arbeitsunfähige Leute zu unterstützen und doch noch den Willen zum Leben, wanderte er mit feiner Frau nach Aussig . Irgend jemand hatte ihm gesagt, daß er in der großen Industriestad: schon Beschäftigung finden würde und schließlich hat Herr T. ja 25 Jahre, wenn auch mit Unterbrechung, in Aussig gearbeitet. So fament die beiden Leute wieder hierher und versuchten mit Hadernhandel den Unterhalt zu verdienen. Wer aber nimmu Hadernhändler ins Haus? Und wenn es ihnen gelungen wäre eine Wohnung aufzutreiben, was aber in Aussig nur vermögen den Leuten und einzelnen Glückspilzen mögi: ch ist, sie hätten ja den Wietzins nicht bezahlen tön nen. Bei einem Tagesverdienst von höchstens zehn Stronen, kann man sich kaum zu zweit mit Brot sattessen, geschweige an die Bezahlung einer Wohnung denken. So bauten sie sich im Herbst vorigen Jahres in der Sandgrube in Lerchenfeld aus alten zusammengebe telten Brettern, Dachpappen und Hadern eine Hütte.
Noch armseliger wie die Hütte von außen ist ihr Inneres. Ein alter fleiner Ofen, ein wad liges Bettgestell, ein Tischfragment sind die wichtigsten Einrichtungsstücke. Bei dem in den letzten Wochen herrschenden nassen Wetter litten die beiden Leute furchtbar. Das Wasser drang überall in die Hütte, das schlechte Schuhwert gestattete fein Fortgehen und so fehlte der geringe Berdienst, mit dem das Allernotwendigste bestritten werden sollte. Dazu wurde die Frau ernstlich frani. Der Mann wagte es nicht, einen Arzt zu rufen, denn wer sollte ihn schließlich bezahlen. Hausmittel brachten die Frau nach einigen Wochen wieder auf die Beine. Wie herrlich steht es um Menschenliebe und Vernunft, wenn in einer Stadt im Krankenhaus war, wurden zwei Kinder im mit über 40.000 Einwohnern, die Wohlfahrts Waisenhaus untergebracht. Nach einigen Tagen amt, Armenrat, Gemeindeärzte und ein großes Der erste Budenbesizer" ist kein Aussiger litt es die Frau im Krankenhaus nicht mehr und Strankenhaus hat, eine frante Frau wie ein Stück Stind. Karl St. ist ein Arbeiter, der infolge der obwohl noch der Pflege bedürftig, ging sie heraus Vich, das keinerlei Wert hat, umfommen faun, Arbeitslosigkeit ins Elend geschleudert, im De- und holte mit ihrem Mann die zwei Kinder aus ohne daß ihr Hilfe zuteil wird! Ja, die beiden zember v. J. als billige Arbeitskraft von Tachau dem Waisenhause wieder in das Elend der Holzbude Hüttenbewohner haben nicht einmal genügend nach Aufsig gelodt wurde, wo er für sich und zurüd. Es gelang dem Wohlfahrtsamte nicht, die einwandfreies Wasser, da sich die Parteien in den seine fünftöpfige Familie, mit der er zu Fuß nach Sorgen der Mutter um ihre Kinder zu verschen- Häusern der Umgebung weigern, öfter Wasser Aussig wanderte, aus den Brettern, die ihm der chen. In der letzten Zeit haben sich die Verhält- nehmen zu lassen, um nicht den dadurch erhöhten Arbeitgeber auf Abzahlung zur nisse der Familie etwas gebessert. Verfügung stellte, eine Hütte Das Wohlfahrtsam: stellte einen baute. Durch die zentimeterweit Karton Wäsche, mild ätige MenKlaffenden Ritzen treibt der schen Kleider zur Verfügung und Wind den Schnee, fließt das Re- in Türmiß wurde angeblich eine gemvasser auf die geringen Hab- bessere Arbeitsstelle mit Wohfeligkeiten der Familie. Für die nung aufgetrieben. Gegenwärtig Bretter und den Ofen schuldet haust St. mit der Familie noch St. annähernd K 1000.-, wel in der nassen stinkgen Bude. chen Betrag er in wöchentlichen Mann und Frau sind arbeitsRaten zu K 20. abzahlen muß, fähig und arbeitswillig, aber die so daß ihm von seinem Wochen Gesellschaft in der wir leben, ververdienst, der K 120. beträgt, weigert ihnen Arbeit und Vernach Abzug der Krankenversiche dienst, die ein menschenwürdiges rungsbeträge ein Betrag von 90 Leben ermöglichen. Stronen, sage neunzig Kro- Unveil der Stadtgärtnerei nen, für den Unterhalt der Fa- befindet sich die Wohnbude des milie bleibt. Neunzig Kronen Herrn Anton S., der dort seit 7. wöchentlich für eine fechstöpfige November 1925 mit Frau und Familie! Es gibt in Auffig Mens Stind wohut". Die Bude mißt schen, die sich darüber Sorgen 6.50X3.50 Meter im Rechteck machten, daß sie nicht schon in und wurde früher als Werf November mit den Weihnach: s- zeugbude benüßt. S. ist einer
Eine Musterhüttensiedlung.
Wohnbude der Familie J. in Ausfig- Kleische. Uebelstände festgehalten sind, liegt seit Anfang einläufert begonnen haben und daher mit den jener unzähligen Wieter, die sich infolge Wasserzins zahlen zu müssen. Fünfundzwanzig April 1926 beim Stadtamt, aber es ist seither Geschenken nicht zukommen konnten; sie fönnten ihrer Unwissenheit vom Hausherrn bedrängen Jahre arbeitete T. in Auſfig, doch nie ohne Un nichts geschehen, denn„ die Gemeinde kann nicht sich beim Anblick dieser Not ihre Grillen vertrei- und übervorieifen lassen. Er hatte eine Wohnung terbrechung so lange, daß er das Seimatsrecht jeder Partei ihre Wohnungswünsche erfüllen!" ben und ihr überflüssiges Geld in christlich zwed im Hause des Stran- Maschinenmeisters Emil hätte erwerben fönnen. Wird er mit seiner Le Wo das Elend ohnehin schon groß ist, da mäßiger Weise anwenden. Vielleicht würde thr Stauba. Beethovenstraße Nr. 21, bestehend aus bensgefährtin einmal gänzlich arbeitsunfähig. tun oft noch die lieben Nebenmenschen das ihrige, Unwillen gegen die Begehrlichkeit der von den Zimmer und stüche. Zuerst wurde ihm ein dann werden sie woh! die Zwangsfahrt in die Organisationen aufgehetzten Arbeiter" Raum abgenötigt, dann verpflichtete er sich seimat machen müssen. In die Heimat, die sie um es zu vergrößern. Troy Verbot haben sich die roten Frauen Berta und Amalia B. im Hause Dulce etwas gedämpft, wenn sie sehen könnten wie die schließlich bis zu einem bestimmten Tage die lieben wollten, aber nicht lieben durften und die Nr. 29/997 eine Viehzüchterei eingerichtet. Vier sechs Menschen, darunter drei Kinder im Alter Wohnung zu räumen. Als der Tag heran lam ihnen in den letzten Tagen ihres Proletarierlebens vielleicht noch gründlich vergällt wird. Schaveine, eine Stub, zwei Ziegen und ein großer Düngerhausen sorgen dafür, daß die engere und weitere Umgebung durch den Gestank und die im Sommer unerträgliche Fliegenplage belästigt wird. Die Jauche Fließt aus den Stallungen in den Hauskanal, der in den Hauptkana! mündet und die zahlreichen Ratten beirach'en diesen Zustand als ein Dorado. Das schönste ist, daß fich im selben Hause noch ein Lebensmittelgeschäft befindet. Die Obrigkeit der großen deutschen Industriestad: Aussig ist bei festlichen Gelegenhet ten stolz auf die während der Zeit der sozialdemofratischen Verwaltung geschaffenen Einrichtun gen des Stadtphysilates, Gesundheitsames und Wohlfahrtsamtes, fie läßt es aber ruhig gewäh ren, daß, sozusagen auf ihrer Nase, der größte Seuchenherd aufgebaut wird. Man muß eben wissen, daß die Schweinestallbesiber gu: Sürgerliche Wähler sind, während das Mieterpack das sich zwar mit Recht beklagt, verdächtig ist zu den von 6 und 3 Jahren und 1 Monat, Nacht für Roten zu neigen. Nacht in einem elenden Bett, auf einer Holz pritsche und in einem wackligen Kinderwagen Die Bewohner der Holzbuden in Kleische.chlafen; nein, vom schlafen ist da nicht zu spreIn Kleische, das ist nicht etwa ein kleines chen, wie die Hunde liegen müssen, ohne Bauerndorf, sondern ein Stadtteil von Aussig , sich vorher fattgegeffen zu haben! Mit der Fami lann den neugierigen Fremden, als Sehenswürlie haben sich in den letzten Wochen Stadt- und digkeit der ,, reichen Stadt", eine Reihe von mehr Wohlfahrtsamt beschäftigt. Das Stadtamt hat
Bei der Fabrik Hojer, im Stadtteil Schönpriesen, fann man drei Wohnhäuser" besichtigen, die mitsammen eine kleine Musterhüttensiedlung, allerdings nicht im besten Sinne, darstellen. Die erste Behausung ist aus Latten hergestellt und wird von zwei alten Leuten bewohnt. Ein alter ausrangierter Eisenbahnwagen dient der neuntöpfigen Familie S. als Wohnung, die bis zum Vorjahre im Hause Burgstadtl Nr. 11/86 in zwei fleinen Räumen wohnte und dort noch vier bis sechs und mehr Aftermieter hielt, so daß arge fanitäre Mißstände bestanden. Das dritte ,, Wohnhaus" ist sogar aus Zement und mit Bewilligung der Stadt erbaut und bewohnt. Für vier Berüberdacht und mit einem Fußboden aus Holz
Wohnhütte der Familie St. in Aussig - Kleische. Wohnhütte der Eheleute T. in Ausfig- Lerchenfeld. sonen stehen drei Räume zur Verfügung, die gut
und er keine andere Wohnung hatte, wurde er zement versehen sind. Diese Bementbude ist ein mit der Familie gerichtlich delogiert. Seine Werk Beweis dafür, daß es mancher Familie möglich zeugbude war die einzige Zuflucht, denn überall, wäre, ein eigenes Heim zu schaffen, wenn der auch am Bürgermeisteramt, wurde er mit seiner Staat mit einer vernünftigen Förderung des Bitte um eine Wohnung abgewiesen. Wohnungs und Kleinhausbaues durch geldliche
Wie die im Jahre 1914 so friegsluftige Ge- Unterstübung und Kredithilfe helfend eingreifen sellschaft die Striegsopfer ehri, beweist die Be- würde. Die Wohnungsverhältnisse in Auffig, dem hausung des 53jährigen Striegsverlegten Hein- Sitz des Verbandes der deutschen Hausbesitzerver