Nr. 304

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II

Emmtag, 25. Dezember 1932

Unter solchen Zeichen steht das Weihnachts­fest 1932. Die Löhne der Beschäftigte«. Wie sieht es aber mit jenen Glücklichen aus, die noch in Arbeit stehen? In der Kantine einer zu drei Vierteln stillgelegten Schleifmühle konnte ich mich mit eigenen Augen überzongen. Es war nach Lohnauszahlung. Eine Gruppe von itern saß mit mir an dem langen Tisch und stärkte sich mit einem heißen Kaffee zu dem lan­gen Heimweg. Ein Genosse legte seine Auszah­lung vor mir auf den Tisch: genau 63 K der Wochenverdienst, eines wohlgemerk, hochqualifizierten Arbeiters.Wir sind alle, wie wir da sitzen. Kurzarbeiter", er­läuterte er.Ob es Vollbeschäftigte gibt? Ja, da könnten Sie lange suchen gehen im ganzen Gebirge." Ein anderer schlägt auf den Tisch:Meine Hand tu ich verwetten, daß keene zehn Leute mehr an Gebirge voll arbeiten tun."

Später erfuhr ich von maßgebender Stelle, daß es tatsächlich so gut wie gar keine voll Beschäftigten mehr gebe. Was> aber dir Kurzarbeiter betrifft, so verdient nach zu- verlässigeiz Schätzungen über die Hälfte von ihnen weniger als 120 Kronen pro Monat. Und dies sind noch die relativ Glücklichen unter dieser intelligenten, tüchtigen und braven Arbei­terbevölkerung, die hier unter der grausamen Last deS kapitalistischen Welturcheils ächz:. Was nun?

Diese verhängnisvolle Schicksalsfrage muß sich jedem aufdrängen, der den Industriefri cidhof des Glasgebirges durchwandert hat. Dieses rela­tiv dicht bevölkerte Industriegebiet lebt längst nicht mehr, sondern vegetiert nur noch. Soll eine hochintelliaente und tüchtige Be­völkerung wirklich dem Untergang geweiht sein? Dr. Bg.

Am 22. Dezember 1849 morgens Von Ilia Dubrowski.

Eine sternenklar«, frostig« Dezembernacht lag über der Stadt. St. Petersburg schlief, einge­hüllt in einLdicke, weiße Schnsedecke. Bon einer nahen Turmuhr klangen langsam und getragen fünf zitternde Glockenschläge, und gleich darauf evtviderten fünf Mal in verschiedenen Teilen der Stadt andere Uhren. Und dazwischen, in den langsamen und gleichmäßigen, tiefen kupfernen Klang, fiel ein Helles, fein abgetontes Glocken­spiel. Dann wurde es wieder still; nur ab und zu klopften die Nachtwächter in ihre hölzernen Bretter, und hier und da bellte eine gestörter Hund. Weit am Newastrom, gegenüber-en am Ufer schlafenden Palästen, lag stumm, wie ein großes, graue- Ungeheuer, die Peter-Pauls-Festung , nist ihrer gegen den Himmel herausfordernd gerich­teten, neädelartigen Spitze. Heute begann in der Festung das Anzeichen des Lebens ausnahmsweise etwas früher als ge­wöhnlich. In dem auf einem der vielen Hofe liegenden Wachthäuschen brannte bereits das Licht. Bald verließ eine Gruppe verschlafener Soldaten mit lautem Eisengepolter der schweren Gewehre das Haus, ging über den schmalen Weg deS verschneiten Hofes und verschwand, nachdem sich die Leut« ihre Stiefel an der Türschwelle vom Schnee abgeklopft haben, im Eingang des Hauptgebäudes, l Die dunklen, schmalen Kasematten der Festung, in denen politisch« Gefangene oft Jahr­zehnte schmachteten, gleichen alten vernachlässigten Grüften. In einer der Kasematten schlummerte am Fußende der Schlafbank, angelehnt an die feuchte Wand, ein junger Mann. Er war schlank und hager, fern knochiges, blasses Gesicht um­rahmte ein dunkler Bart, und die hohe und breit«, muskulöse Stirn verlieh chm den Ausdruck der Erhabenheit und Intelligenz. Er war mit Mühe erst um zwei Uhr eingeschlafen; inzwischen tvachte «r jede Stunde auf. Die stickige Luft der Kase­matte störte ihn. und seine schmale Hand zuckte nevvös an der Decke oder griff immer an die gleiche Stelle seiner Brust, di« ihn scheinbar schmerzte.. Schräg gegenüber der Schlafstelle stand ein großer Tisch. Darauf lag«in ganzer Berg von teilweise beschriebenem Papier, eine dicke Bibel in französischer Sprache, ein paar andere Bücher, einige Hefte der ZeitschriftVaterländische Auf­zeichnungen" und ein« selbstgemacht« Kalender- tafel, worauf alle Tage, von April bis 22. De­zember, durchgestrichen waren; daneben stand ein Wasserkrug und eine halbabgebrannte Kerze, dir dem Gefangenen als besondere Begünstigung ge­währt wurde. Der junge Mann schlief sehr unruhig und atmete laut und ungleichmäßig; ab und zu murmelt« er auch etwas im Traume vor sich hin. An der Tür wurde leise gerüttelt, und int' selben Augenblick schlug der Gefangene die Augen auf. Durch di« aufgemachte Türklappe fiel ein schmaler Lichtstreifen in di« Kasematte, und das bekannte Gesicht des alten Korporals schaute hinein. Dostojewski!" Der Gefangene rührte sich nicht; dann sagte er leise:Ja!" Aufstehen,.. Fertigmachen!" Und wieder wurde es dunkel. Noch ein« Weile blieb der junge Mann unbeweglich sitzen er überlegte: hat er den» wirklich so lange geschlafen? Aber es ist noch so dunkel... Das Fensterchen da oben ist noch kaum zu erkennen. Wie spät mag es jetzt sein? Er stand auf. zündete di« Kerze an und begann sich langsam in Ordnung zu bringen. In einer halben Stunde knarrte das Schloß und die schwere, erienbeschlagene Tür ging auf. Der alte Korporal brachte beißes Wasser zum Tee und ging wortlos hinaus. Wie sonderbar schweig­sam ist er heut« dachte der Gefangene; und inst'nktiv überkam ihn selbst das Gefühl einer seltsamen Unruhe. Oben, durch das Quadrat deS Fenstergitters, kroch ein grauer Schimmer des aufkomntenden Tages in die Kammer hinein... Etwas später kam d«r Korporal in Beglei­tung eines Offiziers wieder. Der Gefangene Fjodor MUchailowitsch Dostojewski mußte sich an­ziehen und mitkommen. Im längen, hohen Kor­ridor war es bereits hell. Am Ende des Ganges standen die anderen Kameraden. Dlan zählte: 21 Mann! Keiner von ihnen redete, doch jeder einzeln« fühlte, daß heute irgendwas geschehen, irgendeine wichtige Entscheidung kommen würde. Vielleicht führt« man sie noch einmal zum Ver ­

hör? In Begleitung bewaffneter Soldaten gingen sie di«, Treppe hinunter; dann durch­querten alle einen breiten Hof. Dostojewski blickte sich um: hier durfte er im Sommer manchmal eine Stunde spazieren gehen; siebzehn Baum« zählt« er darin das war für ihn damals ein großer, wunderschöner Paick.., Die schwere Tür des Hofes ging auf, und die Gefangenen traten in«inen zweiten, etwas grö­ßeren Hof. Aber was sollte das bedeuten...? Wo­zu standen hier diese großen, ungemütlichen Mili- tävwagen? Und das berittene Militär? Bis jetzt verhielten sich all« ruhig, aber beim Anblick dieser Wagen begannen di« Gefangenen nervös und laut zu sprechen. Man stieg ein, die Wagentüren wurden zugeklappt, die Kavallerie flankierte di« Seiten, und der ganze Zug verließ im schnellen Trab die Festung. Dostojewski saß zum Glück am Wagenfenster. Er schaute auf den klaren, bläulichen Himmel, auf die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, auf den di« Augen blendenden, weißen Schnee, auf die Straßen alles ihm bekannte Straßen und die Menschen, die sich frei und friedlich be­wegen, Menschen, die er seit acht Monaten so nicht gesehen hat und er dachte:Wie schön ist das Leben das freie Leben!" Der Gedanke wurde wieder wach in ihm: weshalb fährt er jetzt eigentlich mit? Woraus bestand lein Verbrechen? Daß er, wie auch viele andere Intellektuelle, sich von Charles Fouriers sozialpolitischen Utopien hinreißen ließ?'Aber es war doch nur ein« rein theoretische Auseinander­setzung mit jenen Problemen, die gerade Rußland »o furchtbar quälten. Wie konnte man da auch stillschweigend Vorbeigehen, wenn man nur einen einzigen Funken des Mitgefühls und der Verant­wortung besaß?! Zweifellos fürchtet« der Kaiser einen gewaltigen Umsturz... O, wie töricht! Der Zug bog in eine schmale Straße hinein. Ein bärtiger Pförtner schippte ruhig Schnee vom Bürgersteig, und Dostojewski schien, als ob sich ihre Augen trafen. Wie beneidete er jetzt diesen Pförtner!... Ein kleiner Hund warf sich mit schrecklichem Gebell dem Wagen entgegen. Zwei in schwere Pelze eingehüllte Studenten blieben iteugierig stehen.Was macht wohl jetzt der Bruder?" dachte Dostojewski weiter.Gott sei Dank, daß er wenigstens freikam... Und die Eltern in Moskau werden wohl von all dem noch qgr nichts gehört haben-" Auf einmal fuhr der Zug auf«in fre'-S 'Gelände und* hielt. Dostojewski und di« and-ren stiegen aus. Ach, das war ja der Semjonow - che Platz! Wie oft exerzierte er hier, noch wäh­ren- seiner Studienzeit... Ein Hustenanfall bettel iqn. Mitten auf dem verschneiten von der auf­gegangenen Sonne wie mit glitzerndem Gold­pulver überstreuten Platz war ein« Kompagnie Soldaten aufgestellt. Daneben stand eine Grupp- von Offizieren und Justizbeamten. Dorthin wur­den di« Gefangenen dirigiert, und j« näher sie kamen, desto stärker wurde ihr Angstgefühl vor dem Ungewissen. Jetzt sahen sie plötzlich gegen­über der Kompagnie drei eingebaut«, dick« Holz­pfeiler stehen. Hier machten sie halt. Man zählte sie wieder. Verständnislos schauten sich die Ge­fangenen gegenseitig an, und scheu, wie eine schutz­lose Herde vor herannahendem Gewitter, rückten sie näher einander. Eine schreckliche Vermutung stieg in jedem einzelnen von ihnen auf, doch kraute sich keiner, diese Vermutung laut auszu- 'prechen. So standen sie all« da, blaß, über­nächtet, mit fiebrigen Augen und warteten auf das weiter« Geschehen. Nach einer Weile hörte man Kommandorufe, und die Kompagnie nahm das Gewehr über. Ein iunger Hauptmann trat hervor und mit heller Stimme begann er laut das Urteil zu lesen. Wenn«r in den kleinen Atempausen, die er nach jedem Satz machte, aufblicken konnte, sah er di« grau« Gruppe lauschender Menschen sich gegen­über, deren Augen unbeweglich auf ihn ger'chtet waren. Er fühlt«, wie diese entsetzten Blicke ihn -est-unageln schienen, und dieser Umstand stör:« chn sehr beim Vorlesen: eine leicht« Bläffe trat auf seinem Gesicht, und je weiter er laS, desto unsicherer klang sein« Stimm«, als wenn er fern .ngenes Urteil spreche. Als er endet« herrscht« «in Paar Sekunden fast absolute Still«. Nur'N >en Ihren der Gefanaenen klangen noch ganz deutlich di« letzten Worte des Hauptmanns: ,,.... Todesstrafe durch Erschießen." Es war chwer im Moment die furchtbare Bedeutung dieser Worte zu erfassen. Dostojewski schien, als

ständen sie, wie rote Buchstaben, vor ihm in der Luft erstarrt. Die grausame Vermutung wurde zur Gewißheit. Und gleichzeitig, wie ein eiliges Fliehen vor der gräßlichen Gegenwart, zog sein früheres Leben blitzschnell in seinem Gedächtnis vorüber: die Kindheit, in der Dienstwohnung eines Moskauer Krankerrhauses, der nervöse, ständig gereizt« Vater in seinem iveihen Arztkittel, die geliebten Brüder, St. Petersburg und die militärische Ingenieurschule, mit ihren Strapazen und Entbehrungen, die ihm jetzt nur als etwas Angenehmes vorkam; die halbkowspirativen Zu- sammenkünfl« bei Petraschewski , und schließlich jene Nacht seiner Verhaftung, wo er alsHoch­verräter" in die Festung übergeführt wurde. Das alles zog jetzt schnell und wehmutsvoll vorüber und erlosch, als wenn unter seiner Lebensbilanz ein Strich gezogen wurde... Plötzlich sah er ein anderes, unbekanntes Gesicht, und das kalte Metall des Kruzifixes berührte seine Lippen. Der Geistliche segnete chn und ging zu dem Nächsten. Zwei Leutnants kamen heran und zerbrachen über dem Kopfe eines jeden Verurteilten einen Säbel. Fassungslos, ließ sich Dostojewski wie die übrigen«in langes, Weißes Totenhemd anziehen. Man verteilt« sie in Gruppen zu je drei Mann. Dostojewski tvar als sechster in der zweiten Gruppe. Verzweifelt starrte er auf zwei starke Grenadiere, welche etwas hastig die drei leichen­blassen Menschen vorn« an die Pfeiler banden. Fit das möglich", dachte er,man wird einfach auf die friedlichen, wehrlosen Menschen schießen? Auf widerspruchslosen Befehl? Weshalb?!" Seme Gedanken irrten. ,Hetzen..., leben...., leben..., hämmerte es ihm im Kopfe. Es begann ein tolles, hilfloses Klammern an ein ephemeres Etwa-: was wäre, wenn man nicht sterben sollte? Wenn man das Leben zurückrufen könnte welch«ine Unendlichkeit! Dann hätte er jede Minute in ein Jahrhundert verwandelt, jede Minute gezählt, um auch nichts unnütz zu ver­lieren! Er sah sich um: neben ihm standen seine Kameraden Pleschtschejew und Durow; wortlos kielen di« drei zum Abschied einander in die Arme. Ein schriller, dreifacher Trommelwirbel zer­riß in diesem Augenblick die Spannung. Alles schaute verwundert nach vorne, wv ein großer, streng aussehender Oberst ein Papier in der Hand hielt, bereit, ettvas vorzulesen. Und siehe man band die drei Kameraden von den Pfeilern wjedex.

Weihnachtslegende. Weihnacht! Was ist das noch? Den braven Kleinen ei« unbegriffenr- Geschenk, rin Baum, und sollte doch die Herzen so vereinen, daß Stern und Trost von einem Himmel scheinen der mehr ist als ein dentungsloser Ranm. Du sollst der Mutter denken auf dr« Gassen die obdachlos ihr Haupt auf Holz und Stet zur Ruhe betten und so gottverlassen mit ihrem Kind« find, daß fie die Erd« has' und dich«nd sich und den verlogenen Sch- der Lichter zwischen aufgeputzten Fichten, von denen keins so überirdisch brennt wie die Laterne vor dem arme«, schlichten Büblein im Stall,... von dem fi« wo berichte daß man cs Güte, Liebe, Friede« nennt. Edmund Finte.

los. Wa- war geschehen? In ungewisser, freu­diger Erwartung schlug das Blut heftig in den Ädern; der goldglitzernde Schnee blendete die Augen, die Kirchenkuppeln schienen im Feuer auf­zugehen, und di« ganze Luft war wie aufgelöst -im Sonnenlicht. Der Oberst sprach, und wie ein befreiendes Aufatmen, ging«in tiefer, erleichterter Seufzer durch die Gruppen der Ge­fangenen. Einige bekreuzigten sich. ,Mne grausige Komödie..." flüsterte jemand; aber niemand hörte auf ihn. Auch di« finsteren Gesichter der Soldaten schienen Heller, und ein weicherer Aus­druck umspielte ihre Züge. Als ob die Welle der Entspannung rollte von den Leuten in weißen Totengewändern auch über di« strammen Reihen der Soldaien hinweg... Zwei Tage später, in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember, während die Glocken Rußland - zur Weihnachtsfeier schlugen, verließ ei« einsamer Schlitten St. Petersburg in östlicher Richtung. In der Tief« deS niedrigen, gedeckten Schlitten-, schlummert« ein an Händen und Füßen geketteter Mann. Borne, neben dem Kutscher, saß«in alter Landjäger; hinter. dem linken Aermelaufschläg seines dicken Militärmantels hatte er Papiere-«- im Schlitteninnern liegenden Mannes. ES stand daraus: Dostojewski , Fjodor Michailowitsch , be­gnadigt zu vier Jahren Zuchthaus in Sibirien und drei Jahren Militärdienst an der Front.

Die Geburt.

Die ganze Nacht war Sturm gewesen. Er rüttelte an den Türen und ließ di« Menschen nicht schlafen. Damals waren viele Fremde in der Stadt, die der Kaiser zur Schätzung gerufen. Die Her­bergen und Schenken waren voll. Uebervoll. Selbst auf dem Markte, auf nackter Erde, hatten sich welche gelagert und die Hausväter hatten Weithergereiste ausgenommen so von Frem­den voll war die Stadt. Und plötzlich war der Sturm gekommen, ohne daß man es ahnte. Er riß an den Fenster­läden und stieß gegen die Türen, klappert« mit den losen Schindeln und schrie und seufzte um die Häuser. Er erfüllte die Menschen mit Schrek- ken und Besorgnis. Mit den vielen Gästen tn ihrem Schoß, war es deutlich, daß die Stadt vor ihm verzagte, denn in der Fremde wird den Men­schen alles schwer, seltsam und furchtbar uiid sie müssen der Heimat gedenken und all dem, was hinter ihnen liegt. Der nächste Tag schien nicht empordämmern zu wollen; alles, waS mit ihm zusammenhing, erschien düster, wenn nicht geradezu schrecklich. In den Herbergen schwollen die Seufzer. Frauen schrien aus dem Schlaf« und es waren Schreie wie von Kreißenden. Größere Knaben, die, ihre Mannhaftigkeit zu beweisen, selbst vor Schreckhaften nicht verzagten, begannen zu weinen. Unter den wachenden Männern gingen seltsame Reden. Alles erwartete mit Ungeduld den Tag, schien er auch Böses zu bergen. Draußen ging mit unverminderter Kraft der Sturm. Karawanen, die später am Morgen eintra­fen, und die durch die ganze Nacht unterwegs gewesen waren, brachten die Kunde mit, daß der Wind, der von den Bergen heruntertobte, seltsam warm gewesen sei, wie es um diese Jahreszeit verwunderlich, wenn nicht sogar ein Wunder! Waren doch nicht vor langem in den kalten Berg­winden in einer Nacht etliche Wanderer umge- kommen. Woher der ungeheure und dabei so durchwärmte Wind aus den Bergen gekommen, blieb ein Rätsel. In dieser Nacht, so wurde später auch er­zählt, sei am Himmel kein einziger Stern sicht­bar gewesen, bis auf die Stunde, da der Sturm sein Ende genommen, ebenso rasch und über­raschend, wie er gekommen war. In der Finster­nis habe nur die Erde eigentümlich, phosphores­zierend, geleuchtet, so daß alle Wege sichtbar blie­ben, die zur Stadt führten. Das Volk war damals in großer Unruhe. Schon über ein Jahr hing am Himmel ein Zeichen, Dürren waren im Lande gewesen und unter dem Druck der Soldaten des fernen Kaisers seufzte das Volk. Haufen von Bettlern zogen in Menge durch die Landstriche und unter ihnen standen etliche auf, die vom Geist ergriffen waren, in Zungen redeten, und den baldigen Untergang prophezeiten. Gerüchte von seltsamen Ereignissen verbreiteten sich mit Eiligkeit und Botschaften flogen von Ort zu Ort. Es waren meist falsche Gerüchte, die der Einbildung und der allgemeinen Erregung entsprangen. Trotz ­

dem begannen viele, die von ihnen hörten, an sie zu glauben, mochten sie auch noch so unsinnig sein und alle Siegel des Unwahrscheinlichen tragen. Vielleicht versetzte auch darum jene Sturm­nacht die Bewohner der Stadt und das fremde, zugewanderte Volk in solche Erregung. Als der Tag anbrach, ein unselig trüber und trauriger Tag der Sturm hatte sich bei Morgengrauen gelegt strömten die Menschen auf die Straßen. Auf dem Markte hatten die Töpfer ihr« Buden. Sie waren vom Sturm umgerissen wor­den; soweit aber auch das Gut auf den Boden hingestreut lag, nichts davon war zerscherbt. Auch davon verbreitete sich mit großer Schnellig­keit die Kunde. Es schien den Menschen, die sich durch die Straßen drängten, als müsse sich nun bald etwas ereignen, etwas, das unerhört sei! Vielleicht auch ettvaS Furchtbares. Trotzdem wünschte jeder; daß es bald geschehen möge, daß die unerträgliche Ungewißheit ein Ende nehme. Bon Unrast getrie­ben, hasttete die Menge ohne Ziel und Sinn über die Plätze. Dabei hätte keiner angeben können, was geschehen sollte und was sein Herz mit solch rätselhafter Schwere füllte. Auf dem Markte stand einer auf und begann zum Volk zu reden. Solche Reden und solche Redner hatte man schon viele gehört: man achtete des Mannes nicht sehr. Es war kein Schrift­gelehrter, sondern einer aus dem Volke. Es gab damals viele, die das Wort plötzlich in sich fühl­ten. Der Mann schrie über die Gelehrten und die Hüter des Wortes, über die Zöllner und die Sadduzäer und über die Sitten der Reichen. Er schrie über die Not der Armen, sie war damals sehr groß. Der Mann war bleich und hager, man wußte später, daß er großen Hunger gelit­ten hatte. Da er gegen den Kaiser zu eifern begann und in seiner plumpen Bauernsprache auch vom Messias und seinem kommenden Reiche schrie, stießen ihn die Legionäre hinweg und setz­ten ihn gefangen. Das Volk murrte zwar, aber eS widersetzte sich nicht. Es hatten nur wenige auf jenen gehört. Er wurde geschlagen und dann wieder freigelassen. Es ereignete sich nichts mehr. Später am Tage beruhigten sich die Menschen wieder. Aengst- liche zwar, beeilten sich, sich abschätzen zu lassen, um von dem Ort, an dem sie solche schmerzliche Unrast getroffen, fortzukommen. Spater konnte sich niemand erklären, woher das schwere Gefühl gekommen, das so allgemein gewesen und dabei so hart zu tragen, wie ein böser Traum. Man schrieb es der großen Unruhe zu, die damals im Volke war. Am Nachmittag, als sich die Menge, wie immer, vor dem Hause drängte, in dem die Schätzung vorgenommen wurde, erzählte einer, daß, wahrend der Sturm gewütet, in einem Stall vor der Stadt, eine Nazarenerin ein Kind gebo­ren habe. Einen Knaben. Ein armes Weib. Da­war die Geburt Christi. Franz Trescher.