Acht Tage extra

Von

FRANK HARRIS  

Léon Fournageot hatte seinen Posten als Schreis ber in einer Notariatskanzlei verloren. Er war sehr stolz auf seine gesellschaftliche Stellung gewesen und hatte immer einen Gehrock und eine sorgfältig ge= fnüpfte weiße Strawatte getragen. Aber einmal ohne Beschäftigung, fiel seine Adrettheit bald von ihm ab wie mürber Zunder.

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Madame Fournageot zog ihn an, fütterte ihn und vergaß auch nicht, dies immer wieder zu be­tonen, wenn sie mittags das Glas Wasser eingoß, mit dem er sich von nun an begnügen mußte. Den Unmut Madame Fournageots bei ihrem Sinn für wirtschaftliche Stonomie! tann man sich leicht vorstellen, als eines schönen Abends ein Better ihres Gatten namens Grabiche herein geschneit kam und sich ohne Umschweife gleich selbst zum Abendessen einlud. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte man sich nicht mehr gesehen. Der junge Grabiche war damals fett und lustig ge­wesen und hatte in einem Nachtcafé Lieder ge sungen Lieder, die sich nicht gerade durch Fein heit und übertriebene Schamhaftigkeit auszeichneten, wie sich Madame Fournageot erinnerte. Eine nette Familie!" hatte sie damals mit einem verächtlichen Seitenblick auf ihren Gatten gesenfzt.

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Aber das war ein neuer Grabiche, ein Grabiche von fünfundfünfzig Jahren fetter und röter denn je. Unter seinem rechten Arm trug er eine ungeheure Bastete und unter seinem linken eine Flasche. Wir wollen jetzt einmal ordent lich nachtmahlen", rief er fröhlich. " Onkel Cyprian gab mir eure Adresse."

Madame Fours nageot lächelte, denn sie hatte bemerkt, daß über dem ge­wölbten Bäuchlein Grabiches cine dide schöne Goldkette prangte und einem der ziemlich schmußigen Finger ein paßiger Dias

an

mant; seine leider zeigten allerdings deutliche Spuren von Abgetragenheit.

,, Singst du noch immer in der Chauffée Clige nancourt?" fragte sie.

Nein", rief Grabiche, o nein jest fingen

die anderen für mich!"

Und er erzählte: Als er gesehen hatte, daß aus Und er erzählte: Als er gesehen hatte, daß aus der Arbeit der Artisten und Sänger. immer der

Direktor und der Manager den Hauptnußen zogen, faufte er nach Jahren emfiger Sparsamkeit selbst ein Lokal, das den ansprechenden Titel Le Cri Cri" führte, taufte ca in Le Music Hall des Gigolos" um. Jetzt macht die Sache ihre dreißig­tausend Franken im Jahr, ohne Mühe", sezte er fröhlich hinzu. Ich bin unverheiratet und habe feine Kinder wirklich, Fournageot, du bist mein ein­ziger Erbe, und wenn ich früher ins Gras beiße als du, dann will ich dir genug zurüdlassen, damit du auf meine Gesundheit trinken fannst.

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Nach dem Nachtmahl nahm er die Fournageots mit zu seiner Music Hall  : eine schreckliche Gesell­schaft Männer ohne Kragen und Frauen ohne die leiseste Andeutung einer Kopfbedeckung. Der Herr Direktor verstaute seine Verwandten in der Proszeniumsloge; während sie Plaz nahmen, mach­ten ein paar junge Burschen, die vorn im Audis torium saßen, laut ungenierte Bemerkungen über das Ehepaar, besonders über Madame Fournageot, die ein paar falsche Stirnfransen aufgesteckt hatte. Sie unterhalten sich halt gern", entschuldigte Grabiche das Benehmen der Burschen, wird übrigens kaum etwas nach euch werfen", fügte er beruhigend hinzu, ich kenne fast alle- es sind Stammgäste!"

man

Und einen von den rüden Kerlen aufs Korn nehmend, schrie er, daß der Saal wackelte: ,,, Du gefottene Kalbsleber, halt dein Maul, oder ich hau' dir eine herunter, daß dir die Zähne paar­weise beim Rachen her ausspazieren!"

Im Zwischenati nahm er Fournageot hinter die Szene. Sie stießen auf ein halbes Dußend Frauen in jedem Sta dium von Ausgezogen heit; drei oder vier spielten in einer Ecke Starten, um sich die Zeit bis zum nächsten Auf­treten zu vertreiben. Grabiche stellte vor: Meine englischen Län­zerinnen, Rosa, Ear­men, Bijou und Mé­

lindie. Bleibt sitzen,

Bunte Woche

Präsent, das ich mir genehmige. Sie ist die Königin meines Herzens für eine ganze Woche, aber nie­mals für länger. Mein Publikum und ich lieben die Abwechslung. Wenn die vierzehn Tage um sind, muß sie gehen; sie kann weinen oder fluchen, so viel fie will es hilft nichts. Deshalb fragt mein weibliches Personal auch immer, wenn die Kon­trakte abgelaufen sind: Wer wird diesmal die acht Tage machen?"

" Grabiche!" rief Fournageot in beschwörendem Ton, Grabiche!" Doch Grabiche schien nicht gern moralische Predigten zu hören.

Als sie zurückkamen, fanden sie Madame Four­nageot sehr verärgert, geradezu wütend. Sie durch bohrte ihren Gatten mit scharfen Blicken, augen­scheinlich bemüht, herauszufinden, welchen Eindruck die Szenen" auf ihn gemacht hatten Aber Léon hatte sein gewöhnliches würdevolles Beamtengesicht aufgesetzt, das vollkommen undurchdringlich war. Alles, war er sagte, wout: Ich bin noch nie hinter der Bühne gewesen; es ist alles ausgezeichnet ar­rangiert, die Artistinnen spielten Karien  ..."

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Seit jenem Abend besuchte sie Grabiche jeden Sonntag. Er tam nie ohne reichliche Vorräte an Wein und falten Delikatessen. Einstmals sang ihm Madame Fournageot ein gefühlvolles Lied vor, und er sagte dann immer, mit diesem Lied hätte sie bestimmt einen Bombenerfolg auf dem Theater.

Eines Sonntags, als Grabiche kam, bemerkten die beiden, daß er röter als gewöhnlich war und ein wenig im Zickzack ging. Statt Bein hatte er diesmal eine Flasche Kognak mitgebracht.

" Ich fühle mich nicht wohl", sagte er, ich glaube, ich brauche einen fleinen Aderlaß. Ich will euch beim Essen zusehen und werde mich mit diesem

alten Kognak begnügen, in den ich eine Brotrinde tauche. Das ist mein Heilmittel für alle Strant­heiten."

Es würde vielleicht besser sein, wenn du...", riet Léon Fournageot.

Aber Madame unterbrach ihn: Laß deinen Vetter in Ruhe: er wird schon selbst wissen, was ihm gut tut."

Ganz recht", sagte Grabiche. Ich bin zu ge sund und mein Blut ist zu start, das ist das übel. Aber den Kognat will ich doch versuchen. Ich habe eine Art Schwindelgefühl ein Sausen in den Ohren, als ob ein Mühlrad in meinem Kopf her umginge. Der Kognak wird mich wieder auf die Beine bringen!"

Die Fournageots bemerkten, daß ihn die ersten drei Gläser violett färbten statt rot. Madame Four­nageot brachte die Suppe auf den Tisch und man begann zu essen. Plößlich streckte Grabiche seine rechte Band aus und machte mit den. Fingern grei­fende Bewegungen in der Luft.

Die Flasche steht rechts, siehst du nicht?" sagte Madame Fournageot. Grabiche wollte antworten, aber seine Stimme erstickte in einem Gurgeln. Sein Gesicht wurde schlaff und blau und sein Körper fiel schwer nach vorn auf den Tisch.

"

Er ist betrunken!" rief Madame Fournageot. Er war tot...

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Es gab viele Laufereien und Formalitäten, doch nach drei Monaten kam das Ehepaar dank Four­nageots langjährigem juristischen Training in den Besitz der Music Hall   des Gigolos" und außer dem von 20.000 Franken in barem. Die Music Hall   war nicht leicht zu verkaufen, aber es war flar, daß sie, selbst bei geringer Anstrengung, mindestens zwanzig bis dreißigtausend Franken

Fetische lügen niemals

Von

EMMY BERNATZIK  

Die Verfasserin dieses Berichtes, die Gattin des bekannten Afrikaforschers Dr. H. A. Bernatzik  , hatte auf ihrer letzten Reise zu den Negerstämmen von Portugiesisch- Guinea   Gelegen­heit, in die streng gehüteten Geheimnisse westafrikanischen Aber­glaubens einzudringen.

Neben einer fleinen, runden, strohbedeck ten Lehmhütte sind drei kurze Holzpflöcke in den Boden geschlagen. Sie stecken schräg in der lehmigen Erde, sehen alt und ver modert aus, obwohl das weit überhängende Dach sie vor Sturm und Regen schützt. Ge­

des Fetischs. Mit peinlicher Gewissenhaftig feit häst man sich an die gegebenen Anord­nungen, die meist ein seltsames Gemisch von Heiversuchen und Bittopfern darstellen. So fann der Fetisch bestimmen, daß dem fran­ken Kinde zu gewissen Tageszeiten Eiklar

Das Fest der Fetische: Ein mit Grasbüscheln umkleidetes Gespenst" erscheint in der Neger­siedlung, von den Alten mit Freudengeheul begrüßt, von den Kindern gefürchtet.

bückt schlüpfen schwarze Menschen durch die de enge Türöffnung ins. Freie.

Lieblinge bloß ein Verwandter!" Fournageot mußte sich vor Monsieur Ernest, dem Komiker, und Mademoiselle Laura Ponestier verbeugen, die eben so leicht auf den Händen wie auf ihren Füßen gehen fonnte. Er schüttelte ernsthaft Tschung- Li die Hand, dem chinesischen   Zauberkünstler, der im unverfälsch ten Pariser Vorstadtdialekt sprach.

Grabiche bestellte eine Runde. Als die Getränke famen, rief er aufgeräumt: Ich ändere die Num mern alle acht Tage, aber wenn ich ein kleines Mädel finde, das mir gefällt, so laffe ich es eine Woche länger da das ist dann so ein fleines

Niemand beachtet die schmucklosen Holz­pflöcke dort drüben, neben der Hütte. Aber sie sind nur scheinbar vergessen, jetzt, wo die Arbeit des Tages die Menschen in Anspruch nimmt. In Wahrheit bedeuten sie den schwarzen Menschen viel mehr, als wir zweifelsüchtigen Europäer vermuten würden. Von diesen unscheinbaren Holzklößen hängt das Wohl und das Weh der Familie ab. Der Glaube daran wurzelt tief in der Seele des Negers. Es ist der Fetisch des Hauses, der die Bewohner schützt und straft, ihnen Ratschläge erteilt und ihnen im Unglüd hilft. Täglich wird ihm Palm­wein gespendet, und bei feierlichen Anlässen werden ihm sogar Haustiere und Reis ge­opfert, der wertvollste Besitz der schwarzen Menschen.

Der Fetisch als Wahrsager

Die Neger sagen, daß der Fetisch durch den Mund des Priesters die Wahrheit ver­fündet. An seinem Ausspruch zu zweifeln, wäre ein schweres Vergehen und hätte die schrecklichsten Folgen für den Ungläubigen.

Erkrankt ein Kind, so wird unter genau vorgeschriebenen Beremonien der Fetisch be fragt, welche Heilmittel angewendet werden sollen. Der Priester verkündet den Willen

zu verabreichen sei. Oder der Priester be­fiehlt, eine Ziege zu opfern, oder verlangt, daß das Biut eines Huhnes über die drei Holzpfähle gegossen werde. Bringt die Be­folgung der Ratschläge dem Kinde Genesung, so werden Dankopfer gespendet stirbt es, so war es der Wille Gottes.

Niemals aber fann es der Wille Gottes sein, daß Könige sterben, die ihr Volk mit Milde und Klugheit regierten. Den Tod eines großen Mannes verschuldet stets ein böser Zauberer. Der Fetisch wird nach dem Schuldigen befragt, der Priester nennt den Namen. Ohne Aufschub wird der Betreffende ertränkt. Fast niemals fommt es vor, daß der Schuldiggesprochene seinem Schicksal zu entrinnen versucht, denn er selbst ist von seiner Schuld überzeugt und opfert sich seinem Volke, das er des Königs beraubt

hat.

Bei einem westafrikanischen Negerstamm herrscht die Sitte, mit dem toten König vier Jungfrauen lebendig zu begraben. Man will damit dem verstorbenen Herrscher eine letzte große Ehre erweisen. Auch hier ist die Wahl der Mädchen nicht persönlichem Entschluß überlassen, sondern der Fetisch verkündet, wer das grauenhafte Schicksal zu erleiden hat. Ohne Widerrede fügen sich die tot geweihten Mädchen dem Drakelspruch des Fetischs.

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im Jahr abwerfen würde. Eine Chance für die Fourna geots, die auszu­nüßen war.

Madame Four­nageot baute fich würdevoll in der Kasse auf und en­gagierte einen star­ten Mann, der lär mende und betrunkene Gäste hinausbefördern mußte. Monsieur leitete die Music Hall  .

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Er war nun wieder stets in schwarzem Gehrock und tadellos weißer Krawatte zu sehen. Und es dauerte nicht lange, so fam auch die erste Ver suchung über ihn in Gestalt einer fleinen ent­züdenden italienischen Tänzerin, die ihn süß an­lächelte... Und er beschloß, dem Beispiel Gra­biches zu folgen und sich ein kleines Bräsent zu

machen.

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die acht Extratage.

Aber es war keineswegs leicht, Madame hievon Mitteilung zu machen. Madame trug jetzt einen ganzen Juvelierladen auf den Armen und Fingern, ihre Wangen waren ziemlich indistret rougiert und die aufgesteckten Rocken wirkten ausgesprochen fofett. Aber die Reize der fleinen Italienerin lockten zu berführerisch. Monfieur Fournageot beschloß, ganz flar zu sein.

Die neue Brosche paẞt dir wundervoll, liebste Amelie", begann er schmeichlerisch. übrigens. ich hätte dir einen Vorschlag zu machen, die..."

Doch Madame unterbrach ihn: Du kennst doch den Seiltänzer, der solchen Erfolg hat. Er hat hier Furore gemacht und wie es der Brauch ist, wenn der Besizer mit einer Nummer zufrieden ist, will ich ihm die acht Tage extra geben..." Monsieur fand kein Wort der Erividerung.

Aberglaube hebt die Moral

Der Glaube an die Kraft des Fetischs und an die Macht der Dämonen besiegt auch den Willen zum Bösen. Den Geistern bleibt nichts verborgen, und sie versäumen es nicht, jede Freveltat zu bestrafen. So ahnden die Menschen einen Mord deshalb nicht, weil sie der überzeugung sind, daß die Seele des Getöteten sowohl menschliche als auch über­menschliche Eigenschaften hat und sich selbst an dem Mörder rächt.

Da sich nun die Neger durch verwandt­schaftliche Bande außerordentlich stark ge­bunden fühlen und ihre Kinder über alles lieben, so trachten sie begreiflicherweise, ihre Familie vor der gefährlichen Rache zu be­wahren. Obwohl ansonst Selbstmord bei den häufig vor, daß sich der Mörder selbst ent­

leibt, um seine Tat zu fühnen und die Sei­nen vor der Nache des Geistes zu retten.

Bei den Balante- Negern glauben die jungen Mädchen, daß sie sterben müssen, wenn sie sich vor der Ehe einem Manne hingeben. Da die Liebe zu einem Manne aber selten größer ist als die Liebe eines jungen Menschen zum Leben, so gibt es nirgends in Afrika   so tugendhafte Mädchen wie bei diesem Stamme.

Ein junger Eingeborener eines be­sonders abergläubischen Stammes hatte die Sitte seines Volkes verletzt. Der Fetisch verkündete seinen Tod. Ich habe diesen Menschen mit eigenen Augen sterben ge­sehen, nachdem er wochenlang jede Nah­rungsaufnahme hartnädig verweigert und unter fürchterlichen seelischen Qualen der Erfüllung des Wahrspruches geharrt hatte. Das Geheimnis der Schlitztrommel

Als ich einmal einen alten Häuptling bat, bei der Herstellung einer Schlißtrom­mel, die als Fetisch dient, anwesend sein zu dürfen, wurde er sehr ernst und erzählte mir:

Die Herstellung dieser Trommeln ist ein Geheimnis des Stammes. Nur wenige alte Männer fennen es und niemals dürfe eine Frau zugegen sein, wenn der Meister sein Schnitmesser gebrauche.

tete er mir, daß er eines Tages feiner Es ist noch nicht lange her", so berich­eigenen Frau befahl, das Essen an einen bestimmten Platz im Busch zu bringen. Die Frau wußte, daß ihr Mann draußen an der heiligen Trommel arbeitete. Sie wußte auch, daß sie die Trommel nicht sehen dürfe.

Als sie aber ihren Mann an der verab­redeten Stelle nicht fand, begann sie ihn zwischen den Gebüschen und den Palmen zu suchen. Da sah sie plößlich die große, noch unfertige Schlittrommel vor sich und fiel augenblicklich tot zu Boden. Ihre Neu­gierde war größer als ihre Achtung vor dem Verbot. Gott   hat sie bestraft. Nicht anders würde es dir ergehen", schloß er warnend seine Erzählung.

Obwohl ich überzeugt war, daß ich nicht gestorben wäre, wenn ich den geheimen Blatz erfahren und mich unbemerkt ange­schlichen hätte, so brachte ich es doch nicht über mich, das Verbot zu verleßen.

Der Glaube dieser Menschen ist so stark, daß wir mit unserem fritischen, nach Er­fenntnis strebenden Geist sein Wesen gar nicht erfassen können. Wir nennen es Aber­glaube, Suggestion oder verderbliche Zau­berei. Und doch spendet dieser intensive, unbeirrbare Glaube den primitiven Men­schen moralische Kräfte, die allein es ihnen ermöglichen, den harten Kampf mit der Natur zu bestehen.