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Mittwoch. 3. Oktober 1934

Nr. 231

Der neue Polizeipräsident von Wien Wien. (EPB.) Der Bundespräsident hat mit Entschließung vom 29. September den Poli­zeivizepräsidenten Dr. Michael Skubl zum Poli­zeipräsidenten in Wien ernannt.

dringende- Gebot. Cs wurde von Fachleuten er­rechnet, daß selbst bei Eintritt einer allgemeinen Weltkonjunktur für die übrigens sehr geringe Hoffnungen bestehen noch immer 30 Prozent der jetzt Nichtbeschästigten ohne Arbeit verbleiben würden, also etwa 10 Millionen arbeitsfähiger und arbeitswilliger Menschen, die auch dann noch dauernd aus öffentlichen Mitteln unterstützt wer­den müßten, wobei höchste Dürftigkeit und see- lischer Druck ihr ständiges Los wären. Daß ein solcher Dauerzustand weder zur Hebung der Mo- ral noch zum Wohle der Staatsfinanzen sich aus- wirken würde, ist evident. Der Vorhalt, daß der heutige Zustand, der vielen Millionen Menschen das primitivste Recht, das Recht auf Arbeft vorenthält, ein unmorali- scher ist, macht bei den Besitzern der Produktions- mittel allerdings wenig Eindruck. Die bürgerlich- kapstalistische Welt, deren maßgebende Faktoren so gut wie überall den FascismuS herbeisehnen, damit er ihnen die Arbesterklasse wehrlos aus­liefert, wird einen Appell an ihr Gewissen und ihre Menschlichkest als Naivstät empfinden. Ginge eS um die Forderung allein, den tech- nischen Fortschrstt nicht bloß wenigen Einzelnen sondern der Gesamtheft als Segen gereichen zu lassen, die tauben Ohren würden niemals hörend werden. Aber eS gibt einen auch für Unterneh­mergehirne plausiblen Grund für die Verkür- zung der Arbeitszeit, der sich schließlich gegen alle Borniertheft durchsetzen wird. Die Beschäfti- gungslosigkeft großer Massen, mft der ohne tie­feren Eingriff in das Wirtschaftssystem dauernd zu rechnen sein wird, trifft die alsüberzählig" auf die Straße geworfenen gewiß am härtesten, aber auch Wirtschaft und Staat werden dadurch in immer stärker werdende Mitleidenschaft ge- zogen. Massenarbeitslosigkeit bedeutet Einschrän­kung des Verbrauchs vieler lebenswichtiger Wa- ren, die besonders im gegenwärtigen Zeftatter der Absperrung der Staaten gegeneinander zur wefteren Drosselung der Wirtschaft führt. Viel­leicht bringt das worauf die Herren Wirtschasts. führer in ihrer Ratlosigkeft warten, ein gewis­ser Wiederanstieg der Konjunktur, eine Besse- rung der Wirtschaftslage. Die Anzeichen dafür sind freilich noch dürftig. Eine wirkliche Gesun- düng der Wirtschaft wird. eS jedenfalls nicht geben ohne Verkürzung der Arbeitszeit, ohne' Eingliederung der durch die Rationalisierung umS Brot gekommenen Massen in den ArbeitS- Prozeß und ohne ihre Wiedergewinnung als Konsumenten. In dem Komplex der Probleme ist eines der wichtigsten: die U n t e r st ü tz u n g s- empfänger wieder zu Lohnempfän­ge r n zu machen. Erst wenn dieS durch eine gleichmäßige Aufteilung des vorhandenen Ar- beftsquantumS geschieht und der Unterkonsum von Millionen beseitigt wird, ist an eine erfolg­reiche Bekämpfung deS Nebels einer Dauerkrise zu denken.

Vie Arbeitslosen aus der Deutschen Arbeiter- sewerkschaft ausgeschlossen! In der Gewerkschaftsgeschichte unerhörtes Vorgehen

Dtr Zusammenbruch der Deutschen Arbeiter­gewerkschaft mit dem Sitze in Gablonz , die von Herrn Henlein als die große Einbruchstelle in die deutsche Arbeiterbewegung dieses Landes gedacht war, wird nun auch von der neuen Leitung, die auf der Konferenz in Prag gewählt worden ist, zugegeben. Dies« neue Leitung versendet ein mit der Unterschrift deS neuen Obmannes Josef Bude gezeichnetes Rundschreiben, das vom 27. September 1934 datiert ist. Es wird darin ge­sagt, daß der Perband gegenwärtig ganz außer­stande ist, weitere Auszahlungen für Zwecke der Arbeitslosenunterstützung vorzunehmen", daß der Eingang von Mitgliedsbeiträgen viel zu wünschen übrig ließ" unddaß sich im Laufe der Zeft ein vollkommen unhaltbarer Miß­verhältnis in der Gesamtzahl der Mitglieder und der Zahl der Arbeitslosen" herausgebildet hat. Es wird dann mitgeteilt, daß eine Sperr« in der Aus­zahlung der Arbeitslosenunterstützung bis zum 30. November verfügt wird. Den Kern des Rundschreibens bildet aber eine ganz unerhörte Maßnahme. Während in den bis­herigen Rundschreiben den Arbeitslosen der Aus­tritt empfohlen wurde, damit sie in den Genuß der Ernährungskarten kommen, werden nun in dem Rundschreiben vom 27.September, die

Arbeitslosen einfach ausgeschlossen. Es heißt in dem Rundschreiben wörtlich: Wir betrachten all« derzeit ständig arbeitslosen Mitglieder unseres Verbandes mit 23. September l. I., d. h. mit dem Tage der a. o. Hauptversammlung als aus dem Verband« ausgeschieden. Diese« ar­beitslosen Mitgliedern obliegt nunmehr die Pflicht, sich sofort, und zwar längstens bis 3. Oktober l. I. bei der zuständigen ArbeitS- vermittlungSanstalt als Bezieher einer Ar­beitslosenunterstützung nach demGenter System" abzumelden und diese Abmeldung M 8 in die Stempelkarte eintragen zu lassen". Eine solche Matznabme ist uns aus der Ge­werkschaftsgeschichte überhaupt unbekannt. Tau­sende Arbeiter sind der deutschen Arbeitergewerk­schaft beigetreten, um im Falle der Arbeitslosig­keit eine Unterstützung zu erhalten. Da nun der Unterstützungtzfall eingetreten ist, empfiehlt man zunächst den Arbeitslosen auszutreten und da dies« nicht alle den Rat befolgt haben, schließt man sie einfach aus der Gewerkschaft aus. Da­bei spielt sich die deutsche Arbeitergewerkschaft als die nationale Gewerkschaft auf und die Sude- tendeutsche Heimatfront empfiehlt diese Gewerk­schaft ihren Mitgliedern. Die Arbefter empfangen wenigstens ein Beispiel und eine Lehre, wie die sogenannten nationalen Kreise deS sudetendeut­ schen BolkeS die Arbeiter behandeln!

SHF-Versammlung aufgelöst Die Polizei hatte eine nach T ü r m i tz ein­berufene Versammlung der SHF verboten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit. Daraufhl» wurde eine 8-2-Versammlung einberufen, in der S a n d n e r sprechen sollte. Kurz nach der Er­öffnung wurde jedoch die Versammlung polizeilich aufgelöst, da einige VcrsammlungSbesucher unbe­kannt waren. Da das Manöver der Henleinleut«, zu den 8-2-Versammlungen einen möglichst großen Per» sonenkreiS zuzulassen, findet anscheinend die Auf- Merkamkeit der Polizei. Zu der kürzlich stattge­fundenen Versammlung in Schreckenstein hatte man Einladungen in die Briefkasten Aussiger Ein­wohner emgelegO......... Flüchtlingsfürsorge In Gefahr! Das Comitk National für die deutschen Emi­granten, die zentrale Organisation für die deut­ schen Flüchtlinge in der Tschechoslowakei , teilt, daß noch 8S0 unterstützungsbedürftige Flüchtlinge übrig geblieben sind. Ein großer Teil der früher unterstützten Flüchtlinge ist auSgewandert: einige hundert gingen nach Palästina, 200 etwa nach Rußland , 100 nach Brasilien . Ein anderer Teil der Flüchtlinge ist inzwischen zu seinen Verwand­ten inS Ausland gereist. Die Leistung, di« die fünf FlüchtlingSkomi- teeS in Prag vollbracht haben, ist außerordentlich

groß, wenn man bedenkt, daß alle durchgeführten Hilfsmaßnahmen aus privaten Mitteln verwirk­licht wurden. Die internationalen jüdischen Or­ganisationen haben für di« Auswanderer die Reisespesen und die Mittel für die Jnstrahierung in den andern Ländern übernommen. Die Ar­beiterorganisationen, die Logen haben erhebliche Mittel für das Hilfswerk aufgebracht. Tausende von Flüchtlingen haben die Hilfskomitees passiert. Die dem Comitö National angeschlossenen Für­sorgekomitees haben feststellen müssen, daß nun­mehr die privaten Mittel vollkommen erschöpft sind. Die Hilfsmaßnahmen sollten selbstverständ­lich konstruktiv sein, aber die allgemeine Wirt­schaftskrise, verschiedene technische Schwierigkeiten, vor allem das Fehlen von Mitteln für eine orga­nisierte UeberseeauSwanderung verpflichteten das Tomitö National für.die deutschen Flüchtlinge, auf die ungeheuren Schwierigkeiten hinzuweisen, in denen sich das gesamte Hilfswerk befindet. Das vorstehende Kommuniquee soll die tschechoslowati- sche Oeffentlichkeit darüber aufklären, daß die deutsche Emigration eine an sich zahlenmäßig ge­ringe ist ünd daß sie sich in einer außerordentlich großen materiellen Bedrängnis befindet.

Das Präsidium deS Abgeordnetenhauses be­faßte sich, wie offiziell gemeldet wird, am Diens­tag in seiner ersten Sitzung nach den Ferien mit den Meldungen einiger Blätter über den Fort­schritt der Arbeiten bei der Rekonstruierung der Kessel der Zentralheizung und der Lüstungsanlage

in den Gebäuden des Abgeordnetenhauses. Das Präsidium nahm einen ausführlichen Bericht über die durchgeführten Adaptierungen entgegen und verlangte die Feststellung einiger weiterer Einzel­heiten bezüglich der Vergebung der Arbeiten. Es wurde beschlossen, zu dieser Angelegneheit erst in der nächsten Sitzung in Anwesenheit aller Mit­glieder des Präsidiums Stellung zu nehmen. Ferner wurde beschlossen, den Vorsitzenden deS Abgeordnetenhauses damit zu betrauen, ge­meinsam mit dem Vorsitzenden des Senats mit dem Ministerpräsidenten über eine möglichst bal­dige Einberufung der beiden Häuser zu verhan­deln. Wie wir erfahren, dürfte die Einberufung der Herbftsession in erster Linie davon abhängen, bis wann das Budget für 1933 von der Regierung fertiggestellt werden kann. Gegenwärtig sind noch die Verhandlungen zwischen dem Finanzmini­sterium und den einzelnen Ressorts im Gange; wenn diese zu keiner Einigung führen, daun wird erst der Münster rat endgültig zu entscheiden haben. Immerhin rechnet man in parlamentari­schen Kreisen damit, daß das Budget schon in der nächsten Woche zur Vorlage an die Sparkom­mission reif sein wird. Vor der zweiten Oktober­hälfte ist mit einer Einberufung des Parlaments also wohl nicht zu rechnen. Der kommunalpolitische Ausschuss unserer Partei, welcher Dienstag unter dem Vorsitz des Genossen Pölzl und in Beisein deS Genossen Taub tagte, beschäftigte sich u. a. auch mit der Regelung der Gemcindefinanzen. Obzwar die Möglichkeit einer konkreten Stellungnahme zu einem beratungsreifen Gesetzentwurf nicht gege­ben war, weil die in den Zeitungen diskutierte Vorlage vorläufig dem interministeriellen Ver­fahren entzogen wird, hat die Sitzung einhellig der Auffassung Raum gegeben, daß einer weiteren Schmälerung der Autonomie der Selbstverwal­tungskörper, sowie feder weitere Versuch, den ohnehin notleidenden Massen neue Lasten aufzu- erlegen, mit größter Energie entgegengetreten werden muß. Die Entschuldung der Gemeinden, die auch im Lebensinteresse des Staates vorge­nommen werden muß. darf keinesfalls zu einer Drosselung der sozialen Einrichtungen der Ge­meinden führen und die rasche Durchführung der­selben ist erneut von unfern parlamentarischen Vertretern zu fordern. Die Sitzung beauftragte die Exekutive mit den weiteren Maßnahmen, die im Interesse der Gemeinden und der Arbefter bei einer beschleunigten Sanierung der Gemeinden notwendig sind. Um den Zahlungsverkehr mit Deutschland . Die seit einer Woche zwischen der deutschen und der tschechoslowakischen Abordnung in Berlin ge­führten Verhandlungen über Fragen des Waren- und Zahlungsverkehrs wurden Dienstag vorüber­gehend ausgesetzt,' um beiden Seften Gelegenheit zur Prüfung der während der Verhandlungen ge­machten Vorschläge und zur Berichterstattung an dieMegrerungzrrgeben. Die Besprec^ngen wer­den sobald wie möglich wieder ausgenommen werden.

Mißwirtschaft auf den Kollektiv« bauemgütern Reval.(Tsch. P.-B.) Wie aus Moskau ge­meldet wird, sind auf Veranlassung des Obersten Staatsanwaltes der Sowjetunion in den letzten 24 Stunden Leiter von Kollektivbauernwirt­schaften und Staatsgütern abgesetzt worden. 38 von ihnen wurden in Haft genommen. Die Ver­hafteten, die die Interessen des Staates geschädigt haben sollen, werden sehr streng beurteilt lverden.

Copyright 18B4 by Michal Kacha Varia«, Prag XIX Sechs Meter gegen den Weg liegt der weiße geflochtene Korb des Mädchens in einer Vertiefung, die noch erkennen läßt, daß hier ein menschlicher Körper gelegen hat. Auch hier findet sich auf der Erde und an den Bäumen Blut, das da und dort noch frisch ist. Ein blutbesudeltes Stück einer Zeitung. Ein Stück neuer grober Leinwand mit Blutflecken, in der Mitte mit einem Kniff, wie wenn ein Messer daran abgewischt worden ist. An dem Fetzen kleben noch ein paar dunkelrote Haare und Reste von Kalk oder weißer Faü>e. Bon den Zweigen der Bäume an dieser Vertiefung hängt in Fäden und Strähnen grober Zwirn, der aus dem Hemd der Leiche auSgezupft zu sein scheint. Die gleichen Leinlvandfäden lie­gen auf dem Erdboden. Eine bedeutende Blut­lache unter einer kleinen Fichte, daneben ein blu­tiger Strick. Er ist in der Mitte zerrissen oder zerbissen, und'Frauenhaare sind an ihm sichtbar. In der Nähe liegen noch zwei Kopftücher und Bändchen von der Unterkleidung der Toten. Die Leute sind weggejagt worden, bald kom­men sie aber wieder und drängen sich um den Schauplatz. Während die Polizei ihn weiter durch­forscht, untersuchen die Aerzte den Leichnam. Born am Hals klafft eine große Wunde, sie zieht sich von der Mitte unten schräg zum linken Ohr hin­auf. Ein scharfes Messer hat die Weichteile des Halses bis zum Rückgrat durchschnitten. Auf der rechten Seite läßt der Hals die Spur des drosseln­den Stricks deutlich erkennen. Die Umstehenden sind nicht eben empfind­same Naturen. Dennoch müssen einige den Blick

abwenden, so grausig sieht die Wunde aus. Zwei Männer, die als Gerichtszeugen in nächster Nähe stehen, der Zimmermaler Kasik und der Schlosser Bresina, halten den Anblick nicht aus; es wird ihnen übel. Das Publikum tauscht unterdessen flüsternd Beobachtungen und Vermutungen aus. Al^ man das Stück Leinwand findet, geht ein Raunen von Mund zu Mund; jeder ist sich klar darüber, daß das ein Teil der Maurerschürze ist, und ist nicht Johann Hruza Maurer von Beruf? Man ver­ständigt sich durch Seitenblicke auf die stumm und böse dabeistehende Mutter und den gleichgültig dreinschauenden Bruder. Die Entdeckung der Halswunde weist aber in eine andere Richtung. Klenovec ist der erste, der es ausspricht, was vielen auf der Zunge liegt: Die ist ja unterschnitten wie ein Stück Viehl" Und hinter ihm bestätigen eS die anderen und übertragen es in ihre Sprache: Koscheriert ist siel" Währenddessen sucht man im Wald weiter und findet unter dem Moos einen Stock von ab­geschältem Tannenholz. Er ist gesprungen und weist mehrere Blutflecke auf. Nicht weit davon, ebenfalls im Moos versteckt, wird«in« Schürze mit abgerissenen Bändern ans Licht gebracht. In an­derer Richtung Suchende stoßen auf den Rock und die zwei Unterröcke, die, es ist deutlich zu er­kennen, mit Gewalt vom Körper entfernt worden sind. Die Mutter Hruza ist überall zur Stelle, wo etwas gefunden wird, und mürrisch gibt sie über die Kleidungsstücke Auskunft. Ein Paar Handschuhe aus schwarzer Wolle vermißt sie noch, und ein weißes Taschentuch und einen Rosen­kranz auS weißem Glas mit kleinem silbernen Kruzifix. DaS Geldtäschchen ist da. Gegen Mittag ist der gerichtliche Lokal­augenschein beendet. Man legt die Leiche vorsich­tig in den Holzsarg und schafft sie in die Toten­kammer auf den Friedhof von Sankt Barbara in'

Polna . Der Richter ordnet an, daß die Obduktion um drei Uhr nachmittag vorgenommen werde; die Tatbestandsaufnahme wird abgeschlossen und unterschrieben. Die schrecklich« Neuigkeit geht von Haus zu Haus. Die Maurerschürze und die anderen cor­pora delicti werden aufgeregt besprochen. Aber mehr als für alles andere interessiert man sich für die mächtige Halswunde. Beinahe der ganze Kops ist ihr abgeschnitten würden! Und einer be­merkt mit Nachdruck:Eigentlich mühte doch viel mehr Blut aus dieser Wunde geflossen sein, als man bei der Leiche sand..." Noch sagt eS nur einer zum anderen: Unter­schnitten wie ein Stück Viehl und: Koscheriert ist sie worden I Bald sagen es alle und laut. Das Wort Ritualmord fällt und wird verständnisvoll wiederholt. Drohungen fliegen zur Judenstadt hinüber, dem dreieckigen Platz, an dem die mei­sten der hiesigen jüdischen Familien wohnen. Nur dort wird man den Täter suchen müssen. Die Juden bleiben vorsichtig in ihren Häu­sern. Der Festtagsgottesdienst'ist an diesem Passahtag so schlecht besucht, daß er nicht abge­halten werden kann. Das Sektionsprotokoll, das die Gerichts­ärzte in der Totenkamrster abfassen, stellt eine tiefe SrrangulierungSfurche fest, die sich von einem Ende der Halswunde bis zur Wirbelsäule zieht. Acht Kopfwunden, linear in verschiedenen Rich­tungen verlaufend, sind einander so ähnlich, als seien sie mit demselben Werkzeug verursacht wor­den. Die Arme, stellenweise geschwollen, zeigen blutunterlaufene Flecken, an den Händen kleine Hautabschürfungen und getrocknetes Blut. DaS Hymen ist unverletzt. Zur Erstattung eines Gut­achtens lassen sich die Aerzte fünf Tage bewilligen. Die Erregung in der Stadt nimmt von Stunde zu Stunde zu. In den Familien, an den Wirtshausttschen, an den Straßenecken und auf dem Ringplatz wird geklatscht und gemutmaßt. Kein Zlveifel mehr: ein Ritualmord! Die Juden,

die eben ihr Osterfest feiern, haben das Blut einer christlichen Jungfrau abgezapft. Wenn sie es auch leugne», das ist doch erwiesen, daß sie ihre Oster- brote, die Mazzes, mit Ehristenblut backen. Und hat man nicht schon oft gehört, daß junge Mäd­chen im Frühjahr plötzlich verschwinden und nie­mals wiederkommen? Es gibt da, das sagen ja auch die Pfarrer, ganz geheime Vorschriften in den alten jüdischen Büchern... Fremde Juden hat man an diesen Tagen im Ort nicht gesehen; also müssen er ansässig« gewesen sein. Aber wer? Vom Rabbiner ange­fangen wird jeder, der zur jüdischen Gemeinde gehört, durchgenommen.- Sie leben in der Stadt so lange wie die an­dern. Jeden kennt man, schon seine Eltern und Großeltern kannte man ja, aber richtig nahege­kommen ist man ihnen doch nie. Sie bleiben Fremde. Da sind ein paar Familien, an die sich kein Klatsch und kein Haß je heranwagte: zurück­haltende Menschen, unantastbar in ihren Geschäf­ten und in ihrem Privatleben; niemand hat ihnen jemals di« Achtung verweigert, wenn man auch findet, daß sie es nicht nötig hätten, gar so stolz und gebildet zu tun. Sie betonen, daß sie etwas Besonderes sind. Ihre Kleider sind besser als bei andern Polnaern, ihre Wohnungen sind schön eingerichtet und von sprichwörtlicher Sauberkeit. An den Wänden hängen gemalte Bilder in gol­denen Rahmen, die Vitrine bewahrt kostbaren Krimskrams aus Porzellan und Glas und Erb­stücke religiösen Brauchtums. Sogar ein Schrank mir Büchern ist da; die deutschen Klassiker, zu­mindest Lessing , Schiller und Heine, sind ihr Stolz. Die tschechischen Dienstboten sind in der Regel ihr Lebenlang im Hause und genau ver­traut mit den jüdischen Sitten und Speisegesetzen. Jdre Kinder schicken sie nicht in die öffentliche, sondern in die jüdische Schule, in welcher in deut­scher Sprache unterrichtet wird; später kommen st: an das Gymnasium JglauS oder einer andern deutschen Stadt. (Fortsetzung folgt.)