Nr. 239
Freitag, 12. Oktober 1934
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Per preis im Export Die industrielle Warenproduktion konnte als Massenproduktion deshalb die gewaltige Entwick- lung nehmen, weil sie mit den billigsten Preisen ihrer Erzeugnisse alle Mauern niederstieß, die überall die Länder auf einer niederen Stufe der Produktion umgaben. Der wohlfeile Preis war das Schwert, mit dem sie siegte und mit dem sie in den von ihr eroberten Ländern massenweise die selbständige Existenz von Handwerkern vernichtete. Nicht zufällig ist das Land, das zuerst die industrielle Warenproduktion entwickelte, gleichzeitig das Land, das das Freihandelsprinzip über dem Erdball aufpflanzte. Wenn später im Kampf gegen die Schutzzölle auf England sozusagen als auf ein Beispiel der Tugend hingewiesen wurde, so hatte das eigentlich nur eine recht begrenzte Berechtigung. Denn wie die herrschenden Klassen derjenigen Länder, die in der Entwicklung der kapitalisti schen Produktion hinter England nachhinkten, mit den Zöllen ihre besonderen Profitinteressen wahrnahmen, so tat dies die industrielle Bourgeoisie Englands mit der Vertretung des Freihandelsprinzips. Es gab ihr die Bahn frei für ihre Waren, und sie selbst brauchte— wenigstens damals— die erfolgreiche Konkurrenz von Waren aus anderen Ländern auf ihren Märkten kaum zu fürchten. Das Freihandelssystem blieb, ein wenig durchlöchert von der Zollgesetzgebung einer Reihe von Ländern, aber modifiziert durch die beinahe allgemein gültige Meistbegünstigungsklausel in den Handelsverträgen, die Grundlage, auf der sich der Welthandel vollzog. Das gilt auch noch für die ersten Nachkriegsjahre, obwohl die Einbuchtungen in das Freihandelssystem bereits gefährlicher wurden. Obwohl das Fortschreiten der Produktionstechnik die Kosten der Warenerzeugung senkte und damit eine Verbilligung der Preise bewirkte, versuchten doch nebenher die Industriellen, die immer wiederkehrenden Angriffe auf die Arbeiterlöhne mit der günstigeren Gestaltung der Konkurrenz- fähigkeit der Preise für die Exportwaren auf dem Weltmarkt zu begründen. Durch die weltwirtschaftlichen Strukturwandlungen, die durch den Krieg beschleunigt, auch nach dem Kriege in raschem Tempo weitergingen — es sei nur auf den Jndustrialisierungsprozeß vor allem in Südeuropa , Ostasien und Südame rika verwiesen—, ist auch im Außenhandel der Länder eine entscheidende Veränderung vor sich gegangen. Das Freihandels- und Meistbegünstigungssystem wurde abgelöst von dem handelspolitischen Vorzugssystem. Die freie Bewegung des internatilmalen. WarrgtzLkkehxL erfuhr«ue immer stärkere Einengung durch Maßnahmen, die^drm Lim Regierungen zur Förderung der einzelnen nationalen Binnenwirtschasten ergriffen wurden. Die Ausfuhrländer stießen bei ihren alten Absatzlän- dcrn auf wachsende Schwierigkeiten, da die unkontrollierte und kaum gehemmte Einfuhr sich nicht
mehr mit der Entwicklung der nationalen Wirtschaft der Bezugsländer vertrug. Für stets größer werdende Gebiete des internationalen Außenhandels hat sich bereits der Zustand herausgestellt, daß die Einfuhrländer heute nicht mehr ohne weiteres die Waren kaufen, die auf den Weltmärkten am billigsten angeboten werden, sondern jene Waren, von denen sie sich neben einer Förderung ihrer Binnenwirtschaft noch Vorteile für ihre eigenen internationalen Beziehungen versprechen. Die Ausfuhrfäh'gkeit ist demnach jetzt nicht mehr in erster Linie eine Angelegenheit der billigsten Warenpreise; sie wird stärker bestimmt von der Nützlichkeit, die das Bezugsland von der Einfuhr für seine Wirtschaft erwartet. Es sei hierbei an die handelspolitischen Verhandlungen der jüngsten Zeit erinnert, bei denen sich auch die Tschechoslowakei dieser veränderten Sachlage gegenüber gesehen hat. Das war schon bei dem vor Monaten zustande gekommenen Kompensationsgeschäft mit Bulgarien der Fall, und es gilt im besonderen für die jetzt im Zuge befindlichen Wirtschaftsverhandlungen mit Oesterreich und Frankreich . In diesen Verhandlungen spielen die Warenpreise nur eine untergeordnete Nolle, im Vordergrund steht für die Einfuhrländer die Frage, ob das Hereinströmen der Warenexporte der eigenen Wirtschaft die Grenzen ihrer Bewe- gungs- und Entwicklungsmöglichkeften weiter zieht. Ist das so, so werden nicht selten sogar die teueren Waren vorgezogen, wenn das Land mit den billigeren Preisen diese Garantien nicht gibt. Die Entwicklung in dieser Richtung ist noch nicht am Ende. Vor der Hand sei nur auf zwei Schlußfolgerungen aufmerksam gemacht, die sich besonders der Arbeiterschaft aufdrängen: Die erste ist, daß die von dem Unternehmertum zur Durch- führung von Lohnkürzungen gern herangezogene Konkurrenzfähigkeit unserer Exportwarcupreise sich nicht mehr benutzen läßt. Der so begründete Lohndruck hat unter keinen Umständen Berechtigung mehr. Es gibt ja sowieso mehrere Fälle, in denen nach erfolgten Lohnkürzungen durch internationale Kartellvereinbarungen die Exportwarenpreise erhöht wurden, so daß der Unternehmer zu einer doppelten Erhöhung des Profits kam. Die zweüe Schlußfolgerung ist, daß allen Währungsexperimenten, die über niedrigere Exportpreise zu einer Belebung des Außenhandels führen sollen, mft noch größerer Vorsicht als bisher gegenübergetreten werden muß. Es liegt nahe, angesichts der oben gekennzeichneten Entwicklung durch eine starke Währungsherabsetzung die sich herausbildende Norm umgehen zu wollen. Selbst wenn das für eine kurze Spanne Zeit gelingen würde, wäre der Preis, den die Arbeiterschaft in Gestalt der Verschlechterung ihrer Lebenshaltung dafür bezahlt, zu teuer. Und zum anderen darf sicht ühvtsrheftwerden, daß alle solch« Währungsexperimente weder den Welthandel noch die Well» wirtschaft zur Gesundung bringen können. Sicher aber haben sie die Wirkung, die internationale Un-> sicherheit zu erhöhen und die Zerrüttung der Weltwirtschaft wefterzutreiben.
Der dritte Verhandiungstag des Mordprozesses vgiefäich Allerlei zeugen— Der Saal muß geräumt werden— urteil Samstag
Prag . Der dritte Verhandlungstag des Mordprozesses brachte die Fortsetzung des Zeugenver- h ö r s. Da der Kampf um den Schuldbeweis sich nicht nur zwischen Anklage und Verteidigung abspielt, sondern auch zwischen den beiden Angeklagten, verläuft die Verhandlung unter lebhaften Auseinandersetzungen. Während Jaroslav Vh- l ek ä l e k behauptet, überhaupt von nichts zu wissen und des Glaubens gewesen zu sein, daß sein Schwiegervater in Vankraz sitze und dort gestorben sei, beschuldigt ihn seine Frau direft des Mordes. Jaroslav Vhletälek zeigt« auch am dritten VerhandlungStage vollkommene Ruh« und Beherrschung, während Marie Vyletälek sichtlich mit ihrer Nerbenkrast zu Ende ist. Im Gegensatz zu ihrer Agilität während der ersten Tage erscheint sie nun nahezu teilnahmslos. Als erste Gruppe der Donnerstag vernommenen Zeugen traten die mit den Erhebungen betrauten Kriminalbeamte« auf. Der Chef des Sicherheitsdepartements der Polizeidirektion Regierungsrat V a ü a s e k und Kommissär Dr. Hora schilderten die Einvernahme Jaroslav Vyletäleks übereinstimmend mit den Aussagen des Mittwoch vernommenen Kommissärs Dr. Borkovee. Demnach hat der Angeklagt« zuerst jede Schuld bestritten, aber später ein Geständnis abgelegt, und zwar freiwillig und ohne Nötigung. Einer der vier Detektive, die darauf zur Verneinung kamen, fügt« hinzu,«r hab« den Eindruck gehabt, daß der Angeklagte sich durch sein Geständnis erleichtert gefühlt habe. Im Kreuzverhör habe der Angeklagte verschiedene Details verraten, di« auf sein« Teilnahme an der Mordtat Hinweisen. Dann folgte die Einvernahme der Marie KryStof und ihrer Mutter Anna Krystaf, die in besonderem Verfahren wegen Vorschubleistung verfolgt werden. Sie haben bekanntlich die Leiche des ermordeten Thl in den Keller der Tante Zeman in der Seilergaffe transportiert. Zum großen Teil entschlugen sie sich der Aussagen und was sie sonst bekundeten, bestätigte bloß die bekannten Tatsachen. Diese Krhstofs sind dunkle Gestalten. Die Marie Vhletälek hat ihnen erzählt, daß ihr Mann den alten Tyl erschlagen hab«. Sie halfen bei der Wegschaffung der Leiche und es scheint, daß sie sich Liesen anrüchigen Dienst teuer bezahlen ließen, indem sie die Vyletälek von dieser Zeit an gründlich auSbeu» teten. Eine weitere Gruppe der Zeugen stellen die nächste« Verwandte« BylrtälekS dar. Seine Mutter, seine zwei Schwestern und sein Bruder schildern die Geschichte seiner Ehe übereinstimmend. Jaroslav Vyletälek habe aus plötzlichem Entschluß geheiratet, obwohl er vielfach vor dieser Eheschließung gewarnt wurde. Verschieden« Warner hielten ihm vor, seine künftige Gattin s«t„.........■■ sä«* eine„wüste Frau", die di« eigen« Stiefmutter mißhandle. Alle dies« Verwandten wurden von der Mari« By« letälek, nachdem sie von ihrem Mann verlassen wor
den war, bestürmt, eine V e r s ö h n u n g z«« standezubringen, wobei sie ihnen erzählte, ihr Mann habe den alten Tyl umgebracht und sie — die Angeklagte— sei nur dann bereit z« schweig«, wenn Jaroslav wieder»eil ihr z«sammenlebe. Andernfalls werde ste ihn vernichten. Natürlich versetzten diese Enthüllungen die Verwandtschaft in größtes Entsetzen und sie nahm«« mit Jaroslav Vyletälek Rücksprache. Dieser blieb aber' völlig ruhig und erklärte ihnen, sich keiner Schuld bewußt zu sein, wobei er auf die n o t o r i- sche Verlogenheit seiner Frau verwies. Zur Uebermittlung solcher Drohungen hat sich di« Vhletälek übrigens auch der alten Krhstof bedient. Neue bemerkenswerte Tatsachen brachten zwei von der Anklage geführte Zeugen, die im gleiche« Hause wohnten wie die Angeklagte zur Zett' ihrer ersten Ehe mit dem schwer tuberkulösen und syphilitischen P r o s e k, der inzwischen verstorben ist. Diese Zeugen,«in gewisser Capek und eine Fra « Knobloch, berichteten, daß di« Angeklagte ihrem erste«, schwer kraüken Gatten bei einer häusliche« Auseinandersetzung ein Messer in den Rücken gestoßen hat. Zufällig blieb es aber bei einer leichten Verwuun düng und die Sache wurde seinerzeit totgeschwiegen. — Als letzter Zeug« wurde der Unters«« chungsrichter Dr. Sh«jb al einvernomme«, der erklärte, daß Jaroslav Vyletälek, entgegen seinen Behauptungen, habe wissen müssen, daß er bei seiner ersten gerichtlichen Einvernahme dem Untersuchungsrichter gegenWerstehe. Diese Frage ist von Bedeutung, denn der Angeklagte behauptet, er habe sein Geständnis bei der Polizei nur unter Zwang abgelegt, womit in Widerspruch, steht, daß er dieses Geständnis zunächst auch vor dem Untersuchungsrichter wiederholte und erst später widerrief. Zur Erklärung dieses Widerspruches hat Vhletälek behauptet, er habe nicht gewußt, daß er bereits vor. Gericht steh« und habe den Untersuchungsrichter für einen Pölizeibeamten gehalten. Der letzte Teil der Verhandlung ging vor l e e- rem Auditorium vor sich. Nachdem der Vorsitzende bereits einigemal« die Disziplinlosigkeft des Publikums hatte rügen mW einige mit dem Opernglas- manipulierende.Damen" zurechtweisen müssen, benahm sich ein Teil der Zuhörerschaft bei der Einvernahme des Bruders Vyletäleks derart ungebührlich, daß der Vorsitzende nut vollem Recht die Räumung des Saales anordnete. Das Publikum blieb denn bis zum Schluß des Verhandlungstages ausgeschlossen. Am Freitag gelangt nur noch ein, mW zwar telegraphisch geladener Zeuge zur Berneh-- inung. Dauy..erhalten die sachverstän digen baS Work,'worauf mit det Verlesung der notwendigen Protokolle und Aktenstücke das Beweisverfahren zum Abschluß gelangt. Die Plädoyers, das Resümee und die Urteilsverkündung werden de« Samstag ausfüllen. ich.
Anatole France Zu seinem zehnten Todrsta, am 12. Oktober 1934 Nicht Ueberheblichkeit war eS, die den kleinen französischen Bibliothekar Anatole T h i b a u t bei seinem Eintritt in die Schriftstellerlaufbahn dazu veranlaßte, den Namen seines Vaters abzulegen und sich nach dem Lande, dem er angehörte, F r a n c e zu nennen; er war mit der lfterarischen Tradition Frankreichs so eng verbunden, daß er wie kein anderer Dichter seiner Epoche den Geist des französischen Schrifttums vor der Well repräsentieren konnte. Die aus überlegener Weüweis- heft erfließende krittsche Ironie, das in der Sache unversöhnliche, aber in der Form graziöse Spöttertum, der Angriffsgeist der erbarmungslosen Sattre, die in Rabelais ihren ersten großen Vertreter und in Voltaire ihren Klassiker gefunden haben, Ubtn in der Dichtung von Anatole France wieder auf; der»gallische Esprit", der Witz, der aus der Tiefe philosophischen Erkennens, aus einer abgründigen Skepsis wächst, fand in ihm seinen vollkommensten Ausdruck. Weftweisheit— Anatole France schöpfte sie aus emer gigantischen Fülle von Büchern, die ihn Zeit seines Lebens umgab. Als Sohn eines kleinen Pariser Buchhändlers wurde er am 16. April 1844 geboren; die erste Stelle, die er bekleidete, war ein Bibliothekarposten; der liebste Ort, an dem er weilte, die dumpfen, bis an die Decke mü alten, modernden Büchern und vergilbten Manuskripten angefüllten Läden der kleinen Pariser Antiquare; unter den Schätzen, die die»fliegen, den Händler" am Kai der Seine feilbieten, konnte er Stunden und Stunden wühlen. Bücher waren für ihn lebendige Geschöpfe, der Atem der Welt wehte ibn aus ihren Blättern an; sie gaben seinem Geist die Vielseitigkeit, seinem Werk die Vielfarbigkeit. Sie dienten ihm als Rüst« zeug auf seinen Reisen in das Land der Vergangenheit, in die. unendliche Weite des forschenden Menschengeistes. Die Schriftsteller der allen Griechen und Römer waren ihm ebenso vertraut, wie die zeftgenöffischen Autoren Frankreichs , Englands, Deutschlands , Italiens ; die Kirchenväter studierte er mit derselben Gründlichkeit, die er an das Studium der modernen Wissenschaften, an dre Biologie, die Psychologie wendete. Daher kommen die Gestalten seiner Bücher aus allen Län- dern und allen Zeiten; es gibt kaum eine wesentlich« Epoche der Menschheftseutwicklung, die Ana tole France
nicht seelen- und geisteskrftisch durchleuchtet hätte. Das Aegypten der Pharaonen, das Griechenland Homers, das lebensfrohe Hellas der Hetären, die ekstatische, jenseftSsüchtige Zeit, in der der Nazarener predigt, das Gallien Julius Cäsars, die Scholastik des Mittelalters, das Neu« aufteben antiker Schönheftsfreude in der Renaissance, das Frankreich des galanten Jahrhunderts, die große Äevolution und das Zeitalter Napole ons , die Well des wachsenden Kapitalismus, das moderne Paris des besitzstolzen Bürgertums, der Lebemänner und Kokotten, das zweite Kaiserreich, seine nachttrunkenen Militärs, seine Börsenhyänen, sein herrschgieriger Klerus— sie alle spiegeln sich in den Büchern von Anatole France , sie alle sind aus dem Blickwinkel des scharfsichtigen Gesellschaftskritikers gesehen, der diese Zeitalter zum Schauplatz seiner Werke, diese Figuren zu Helden seiner Bücher macht, um an tausend und aber tausend Beispielen die verhängnisvolle, verwüstende Wirkung dreier Gewaltenmächte zu beweisen, die die Entwicklung der Menschheit immer wieder zurückwerfen und ihre Freiheit immer wieder erdrosseln: der klassengebundenen, korrupten I u st i z, der von weltlichem Machthunger geleiteten Kirche und des die Böller in den Abgrund des Mordes hetzenden Ungeist des Militarismus. Die Justiz hat Anatole France st» seiner berühmtesten Novelle, dem wundervollen»Crain- ouebille", am vernichtendsten getroffen. Der arme Teufel Crainquebille, ein Keiner Pariser Gemüsehändler, gerät mft der Polizei in Kon- flftt, weil er angeblich einen Schutzmann beschimpft hat, und zerbricht an dieser falschen Beschuldigung, denn die Wahrheit vermag sich gegen die Wucht des unaufhaltsam rollenden Justizapparates nicht durchzusetzen.»Der Mensch kann irren— die Uniform, der Säbel, sind unfehlbar." Daß ein vom Staat zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzter Beamter sich irren könnte, ist eine absurde Vorstellung; daher kann»der Gedanke einer gerechten Justiz wirllich nur im Kopfe eines Anarchisten entstanden sein". Die Justiz, die»wohl darauf verzichten kann, zu wissen, aber nickt darauf verzichten, zu richten", ist ein KlaffenherrschastSinstrument, sie»hesiigt bestehende Ungerechtigkeiten". Der Kämpfer fiir die Gerechtigkeit und Wahrheft erhob auch sein Wort, als der D r e y f u S- Prozeß Frankreich erschütterte' in dem vierbändigen Zyklus»Die Romane der Gegenwart" schilderte er die soziale Atmosphäre, in der das Drama um DreyfuS abrollte,
analysierte er die gesellschaftlichen Kräfte, die sich hinter den Helden der Tragödie verbergen. Endlos ist die Reihe der Kleriker, die er in seinen Romanen vorführt, von der»Bratküche der Königin Pedauque" bis zu seinem reifsten und gedankenreichsten Roman, dem»Aufruhr der Engel ". Verkommene Kapuziner, deren schwacher Wille dem stärkeren Fleisch immer wieder unterliegt, schlaue, durchtriebene, egoistische Pfäfflein, die nur ihren Wanst und ihren Geldbeutel füllen wollen, scheinbar in religiöser Ekstase erglühende Scharlatane, die Gott zu einem Popanz erniedrigen, mit dem sie ihre Geschäfte treiben, ränkeschmiedende Bischöfe, Addis, die stteng alle Gebote der Kirche befolgen, aber den wahren Glauben an die Lehre, der sie dienen, längst verloren haben — es ist ein unendlicher Zug lebensvoller, mit der saftigen Drastik eines de Coster gezeichneter, mft der Meisterschaft eines modernen Seelenröntgenologen durchleuchteter Gestalten. Mit brennenden Farben malt France die Greuel, die der religiöse Fanatismus im allgemeinen und die katholische Kirche im besonderen über die Welt gebracht haben. Ihre Herrschaft umfaßte die Erde und kann heute noch bestehen, weil die»Unwissenheit" und die»Furcht" noch nicht aus den Herzen der Menschen getilgt sind. Noch ist Gott ein Schreckbild in der Hand der Priester, die das Boll dumm, willig, gefügig erhalten wollen; über die Erkenntnis wird sich durchdringen, daß»die Welt ihr eigener Urheber ist und der Geist sein eigener Gott". Der Krieg— wie ist er überhaupt noch möglich in einer Zeft, die alle Geheimnisse der Natur enträtselt, die Brücken über die Meere geschlagen, die die Welt zu einem Organismus vereinigt hat? Der Krieg«ist zugleich ein grauenhaftes und ein blödes verbrechen, heute, wo die Böller durch die Gemeinschaft von Kunst und Wissenschaft, Handel und Verkehr miteinander verbunden find. Sinnlose Europäer, die daran denken, sich gegenseitig zu erwürgen, wo doch die gleiche Zivilisation sie einhüllt und vereint." Doch die Erklärung des Unbegreiflichen ist leicht:»Der Krieg ist ein Geschäft." Man kann ihn nur verhindern, wenn man an seine Wurzel greift: die Wellordnung, der er entwächst, die ihn entfesselt, die ihn zu ihrer Erhaltung braucht. Sie muß geändert werden, soll das Gespenst des organisierten Massenmorden- für immer aus dem Gesichtskreis der Menschheit entschwinden. Nicht mit Blut und Gewalt soll sie gewandelt werden, denn aus Blut wächst nur Verzweiflung
und Gewalt weckt stets nur Gegendruck. In seinem skeptischen Revolutionsroman»Die Götter dürsten" rollte Anatole France die Tragödie eines Volkes auf, das mft der Guillotine den Weg m seine Zukunft freimachen wollte.«Nicht blinde Tapferkeit wird uns die göttlichen Donnerkeile überliefern, sondern Studium und Nachdenken." Die Waffen des Geistes, die unermüdliche Aufklärung und der erbarmungslose Entlarvungskampf gegen die unter vielen Masken verborgene« Helfer des Kapitalismus werden einer glücklicheren Menschheft den Sieg erkämpfen. Um die großen Epen, deren Gedankeninhall hier kurz skizziert wurde, rantt sich eine unüberschaubare Fülle fturiler Novellen, historischer Miniaturen, Märchen, Stimmungsbildern von seltener Zattheft und lyrischer Schönheft. Sie werde» von Schwarzkünstlern. H^xenmeistern, gespenstige« Tieren bevölkert, von Keinen Philistern und heimlichen Träumern, und von vielen, vielen geradezu besessenen Bücherliebhabern. Ein Bücherdieb aus Leidenschaft ist der Held des ersten Werkes von Anatole France .«Das Verbrechen des Sylvester Bonnard", ein Bücherwurm zählt zu den wichtigsten Figuren des«Aufruhr der Engel ". Hukhaftes und Groteskes vermengt sich in Traumvisionen mit der WirKichkeit, Gesichter des Gestern steigen empor, das ost nur Gleichnis für Kampf und Leid von heute ist. Ueber all diesen Bücher« funkeü der scharfgeschliffene Witz eines große« Zweiflers, der im Kern seines Herzens jedoch eia weicher Mensch gewesen, der mit seinem farbenschillernden, geistflirrenden Werk die Last der Blindheit von den Augen der Menschheft nehme« wollte und glücklich war, ihr ein wenig Trost spenden zu dürfen; jener Menschheit, deren Geschick er in den Satz erfaßte:«Sie wurden geboren, litten und starben." Im Jahre 1921 hat Anatole France de« Nobelpreis erhalten; sein achtzigster Geburtstag war ein Nationalfeiertag jenes Frank reich , das gegen die Gewallen der Finsternis für eine Welt der Freiheit, Gleichheit und Brüderlich- keft kämpft, getreu den Parolen der großen Revolution, deren Ideale in dem Werk des Dichters weiterleuchten. In Frankreich ist er auch heute noch lebendig; jenseits der Grenzen seiner Heimat jedoch beginnt sein Bild allzufrüh zu verblassen. Er ist für diese Welt und ihre Herren zur rechten Zeit gestorben; der durch Beugung des Rechtes, durch Brutalität und Ungeist ttiumphierende Fa- scismuS hätte keinen strengeren Richter, keinen erbittertem Gegner finden können als ihn.