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Mittwoch, 31. Oktober 1934
Nr. 288
Verdienst die Anerkennung versagte. Die Stun­den, die jeder von uns mit Cermak verbracht hat, mochte er dabei beleckt, getadelt oder verulkt wor­den sein, werden zu den wunderbarsten Erinne­rungen zählen. Mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik und der damit verbundenen Verselbstän­digung der sudetendeutschen   Sozialdemokratie be­gann für Cermak die erfolgreichste Schaffenszeit. An der. Seite Seliger- war er nicht nur politischer Ratgeber, er wurde die organisatorische Seele der Partei. Kaum dürfte es eine Bezirksstadt in Deutschböhmen geben, die er nicht besucht hat. Beim Aufbau war er ganz in seinem Element. Ein»gelernter Deutschböhme" zwar, doch einer der besten Kenner von Land und Leuten. Ein­mal sprach er bei einem hohen Beamten der böh­mischen Landesbehörde vor. Es handelte sich um die Ernennungen in die damaligen Bezirksver« Wallungs-Kommissionen nach dem Schlüssel der ersten Parlamentswahlen. Der Beamte staunte immer mehr,«As ihm Cermak den Schlüssel eines jeden Vertretungsbezirles aus dem Gedächtnis hersagte. Cermak hatte die politische Landkarte' im Kopf, wußte auch Bescheid über die handelnden Personen im eigenen wie im gegnerischen Lager. Obwohl er ein unerbittlicher Gegner des sudeten­ deutschen   Nationalismus war eine der ersten Broschüren Cermaks befaßte fich mit der deutsch  « gelben Arbeiterbewegung,, der Borläuferin der Hakenkreuzpartei, konnten ihm auch seine Gegenspieler hohe Achtung nicht versagen. Do wirkliche nationale Interessen auf dem Spiele standen, war Cermak immer zur Stelle, ohne von seiner tiefempfundenen Jnternationalität ein Jota aufzugeben.. In der Organisation der Bezirke und Städte und später im Verbände der deutschen Selbftverwaltungskörper arbeitet« Cermak führend mit. Auf einer nordböhmischen Tagung der Selbstverwaltungskörper, sie fiel in die erste große Nachkriegskrise, trat Cermak gegen di« pessimisti­schen Stimmungen auf» ungefähr mit den Wor­ten: wenn Europa   wieder gesundet, dann wird auch unser Jndustrievolk zu arbeiten und zu essen haben. Ein Beweis für die unerhörte mensch­liche Anziehungskraft dieses Mannes verdient hier vermerkt zu werden. Als Cermak schon totkrank darniederlag, betete der inzwischen verstorben« christlichsoz. Senator Böhr freilich ein ande­rer Christ als die Schuschnwgs täglich für seine Genesung. Die Spuren CermakS in der sudeten­ deutschen   Politik sind unaustilgbar, wie sein Name und sein Werck in der Partei. Seinen schwersten Kampf führte Cermak in den unheilvollen Tagen der Spaltung. Dir.als stand er aufrecht wie ein Fels in der Brandung. Seliger war nach dem historischen Karlsbader Parteitag der von kommunistischer Zwietracht schwerverwundeten Bewegung plötzlich entrissen worden. Die Spalter wähnten die Schlacht schon gewonnen. Kreibich und seine Anhänger hatten' es auf die Eroberung der ganzen Partei, die zu­gleich ihre völlige Zertrümmerung gewesen wäre, abgesehen. Mitten in der sozialdemokratischen Hochburg Teplitz  , in dem Saal zur Badeauffin­dung in Settenz, hatten die Kommunisten in einer Kampfversmnmlung die Mehrheit. Cermak kämpfte gegen Kreibich mit unerschüttertem Glauben in die Kraft der sozialdemokratischen Bewegung. In bösen Stunden, da so mancher kleingläubig wurde, hat Cermak keiner wanken gesehen. In enger Zu­sammenarbeit mit Genossen Dr. Czech rettete Cermak die schwerbedrängte Partei vor der Ver­nichtung und damit die ganze sudetendeutsche Arbeiterbewegung vor dem Untergang. Tag und
Nacht war er in den entscheidenden Wochen auf der Wacht als Vorbild eines Führers, der der. Gefahr 'die Stirne bietet und sich durch keine Ungunst der Zeitläufte überwältigen läßt. Auf dem Kampfplan des tschechoslowakischen Parlaments offenbarte Cermak neue Fähigkeiten. In den Tagen des traurigen Zwiespalts zwischen deutschen und tschechischen Sozialdemokraten ver­gaß er nicht die großen gemeinsamen Aufgaben, welche die Zukunft beiden Parteien stellen sollte. Im Jahre 1924 hielt Gcnoffe Bechhne eine große politische Rede, worin er begründete, daß der Staat ein wichtiger Transformator zum Sozialis­mus sein könne. Cermak ordnete an, daß diese Rede vollinhaltlich in der Parteipreffe abgedruckt werde, wobei er meinte: Unsere Arbeiter sollen auch über diese Dinge nachdenken lernen. Krank schon und chronisch überbürdet wie jeder führende Vertrauensmann der Arbeiterschaft, begann Cer­mak noch mit dem Studium der tschechischen Sprache. So wollte er sich auf das angeflrebte Arbeitsbündnis der sozialdemokratischen Parteien der Republik   vorbereiten, doch es war ihm nicht mehr gegönnt, daran teilzunehmen. Welche Liebe Cermak allen Zweigen der Be­wegung zMoandte, welche unvergänglichen Ver­dienste er sich durch sein letzter Werk, die Schaf-
DiePrager Presse" bringt in ihrer Mitt­woch-Ausgabe einen LeitartikelDas wahre Gesicht, Prinzipielle Bemerkun­gen zur SHF". Sie trftt in diesem Artikel an der Hand einer großen Reihe von Zitaten den Be­weis dafür an, daß die SHF die Erbin der auf­gelösten nationalistischen Parteien ist und daß in ihr und ihren Führern derselbe Geist lebendig ist, von dem die Jung und Krebs beseelt waren. DiePrager Presse" geht davon aus, daß der Jubel der r e i ch s d e u t s ch e n P r e s f e über die Kundgebung in Böhmisch-Leipa   unver­ständlich wäre, wenn man nicht in Berlin   die Arußernngen Henleins ganz anders verstehen und deuten würde als in tschechischen Kreisen. Das­selbe gelt« auch von den eigenen Anhängern der SHF. Sie seien so geschult, jahrelang in der Pro­paganda- und Verstellungskunst erzogen, daß sie hinter den loyalen Erklärungen die w a h r e Mei­nung erkennen. Als sinnfälligstes Beispiel dieser Erziehungsarbeit wird dsi^ von.E d.. K a.i s.e r. in 'Warnsdorf heräuSgegebeNeI u n g e" F't'önt" zitiert, auf die wir übriges wiederholt hmgewie- sen haben. In einem Artikel eines Herrn C. von 2 o e s ch hat die»Junge Front" im Oktober 1930 sich über dieD e u t s ch e S e n d u n g" ausge­lassen, die sie in der Schaffung einesD rutsch- land in großdeutscher Gestalt" erblickte. Des weiteren wird auf die Rolle des Deutschen Turnverbandes als der lange vor der SHF wirksamen Einheitsorganisa­tion der deutsch  -faseistischen Kräfte verwiesen. Kon­rad Henleins eigene von uns seinerzeit ausge­grabene Worte über die Aufgaben de- Turn­verbandes werden angeführt.
fung eines publizistischen Zentralorgans erwarb, wie er allezeit Freund, Helfer und Berater ge­wesen ist auf der dornigen Bahn des sudeten­ deutschen   Proletariats, dies in vollem Umfange zu würdigen, sei dem Chronisten überlassen, der uns in ruhigerer Zeit ein abgerundetes Lebensbild unseres früh dahingegangenen Freundes Karl schenkt. Wir gedenken ihm heute als dem Baumeister der Partei. Cermak hat bis in die letzten Stun­den, da ihn Todesahnungen überfielen, für die Sache des Sozialismus gearbeitet. Als sein kranke- Herz zu versagen begann und die ersten Schatten des Todes sich über das klare ManneS- antlitz senkten, rief Cermak noch seinen Besuchern mit erhobener Faust zu:»I ch k ä m p f e." DieS ist sein Vermächtnis. Wenn sich in dieses Tagen liebevollen Gedenkens wieder rote Blumen häufen auf diesem teuren Grab am Wolschaner Fried­hof, dann sollen sie Gruß und Gelöbnis hundert­tausender Kampfgenossen überbringen: daS Erbe unserer Großen zu schützen, das Werk Seligers und Cermaks fortzusetzen und für eine hellere Zukunft des sudetendeutschen   Ar- beitervolkszustreitenbiszumletz- ten Atemzug.
Dann verweist der Artikel derPr. Presse" auf den Landjugend führer Abg. Toni Köhler, der lange Direktor des B. d. D. war. Er hat noch am 17. Juni 1934 in Lo­sch o t i n eine Rede an die Landjugend gehalten, in der es hieß: »Es muß eine Regenerierung des Bolles ein­treten, die uns ein Sudetendeutscher, der in Wien   lebt, gelehrt hat... Bei­spielgebend für die Art und Weise, wie man dem Voll zu dienen hat^ find die tschechischen Legionäre. Wir, die wir im Felde waren, wissen, was ihre Tat zu bedeuten hatte. Die Leut«, die durch zwei Drahthindernisse hindurch in den gegnerischen Graben krochen, um sich auf der anderen Seite neu e i n z u r e i h« n in die Kampffront um ihre Freiheit, diese Leute hatten keineswegs eine Bestätigung da­für in der Tasche, daß nach dem Kriege di« Tsche- chosiowakisch« Republik   geschaffen werde. Sie muß- tcn auch mit einem?ikgc der Mittelmächte und ' damit mit dauerndem Exil rechnen. Und- trotzdeüi kamen sie der Parole nach, di« ihnen jahrzehnte­lang gepredigt wurde...Wir müssen schon in der Erziehung des Kindes in diesem das Nationalbewußt­sein wachrufen... Die deutsche Mutter vor allem ist zu diesem Erziehungswerk berufen. Die deutschen L«hr«r sind in ihrer Tätigkeit ge­hemmt und das deutsche Buch als Instrument na­tionaler, Erziehung gibt eS leider nicht. Denn jene guten deutschen Bücher, die wir unserer Jugend gern« in di« Hand geben möchten, und die auch die Erwachsenen lesen sollten, sind bei uns verboten. Die übrig« Li ­
teratur kommt meist von einer Seite, die nicht gerade vertrauenserweckend ist." Die»Pr. Presse" weist auf den Widerspruch zwischen solchen Reden und der Erklärung Hen­leins in Leipa hin. Die gleichen Ideen wie in der»Jungen Front", in den Zeitun- gendesTurn verbände» und des B u n« deSderDeutschenbei Henlein und bei Köh­ler erscheinen in den»Land ständische« Monatsheften", die zu Dobran herauSge- geben werden, deren Mitarbeiter Franz vo« P a p e n ist, deren Redakteur kürzlich verhaftet wurde. Daß Henlein   und die reichsdeutschen Nazi unter einer Decke spielen, wird besonders deut­lich durch ein Zitat aus der in Deutschland   er­scheinenden«Deutschen Turnerzei­tung", die im Vorjahr die SHF begrüßte und dabei die gleichen Wendungen gebrauchte wie Hen­lein in Leipa. Dir Berufung auf Hit­lers Reichstagsrede deckt sich beinahe wörtlich mit Henleins Ausführungen. Di« »Pr. Presse" schreibt dazu: Ist diese Uebereinstimmung nicht frappant? Nur durch diesen Kontakt und diese Disziplrnie- rimq, nur deshalb, well jeder Vierte i« Henlein  » Reihe« ei« aus irgend­eine» Angendverband geschulter Agitator ist, nur weil alle genau wisse«, waS sie wollen nnd was wirklich gemeint ist, wenn öftenllich daS »der jene» gesagt wird, nnr deshalb kan« sichHenleinerlanbe«, waS fich sonst nie- «and erlauben dürfte. Nur darum könne Henlein   den Krebs beschimpfen, weil jeder wisse, daß Hen­lein der Erb« und Treuhänder Krebsens sei. ES wird dann berichtet, daß Henlein   seiner­zeit in Saaz   dem Krebs vorgestellt wurde, daß eingehende Berhandlungen über die Bildung der .Volksfront" stattfanden» wir die spätere DHss damals heißen sollte. Henlein   gchb dem früheren Abg. Krebs bei dieser Gelegenheit das bindende Versprechen, innerhalb derSudetendeutschen Heimatfront" den Kern der nationalsozialistischen Gedanken un­versehrt zu erhalten, wogegen Krebs Henlein er­mächtigte, in jenem Maße nach außen Loyalitäts­erklärungen abzugeben, wie Henlein   dies je nach der Lage für nötig halten würde, um der»neue« Bewegung" über die Gründungsschwierigkeite» hinwegzuhelfen. Seitens der Führer der frühe­ren^nationalsozialistischen Partei wurde auch an deren frühere Angehörige die Weisung ausge­geben, der»Sudctendeutschen Heimatftont" beizu­treten, da diese sozusagen die Kronverweserin des nationalsozialistischen Gedankengutes" in der Tschechosiowakei darstellen sollte. Daher habe auch Jung eine unmißver­ständliche Weisung zum Eintritt in die SHF aus­gegeben und desgleichen K a l l i n a, der in dek ersten Zeit anHenleins Aufrufen mit­gearbeitet habe. Die»Prager Presse" erinnert an den Wahl­spruch, den Henlein bei der ersten Kundgebung der SHF in Reichenberg plakatieren ließ: Kommt ock, Brüder, hal mer zsamm, Wetr brauch mer kej Programm I und sagt auch, das stimme nur deshalb, weil das geheime Programm jedem bekannt sei, der im Turnverband, im Bund, in der Jungen Front, im L a n d st a n d, bei Henlein  , Köhler, Hetz und Hacker ge-
Henlein- derKronverweser der Duns und Krebs DiePrager Presse demaskiert die SHF
Ihre Argumente entnehmen die katholi­schen Verteidiger des Blutglaubens den Werken des Professors August Rohling  . Der berühmte Verfasser desTalmudjuden" hat zuerst von Münster   aus dem deutschen   Antisemitismus die theoretische Grundlage und damit einen mächti­gen Antrieb gegeben; dann an die Prager deutsch« Universität berufen, wird er der Gewährsmann der Schneider und Baxa   und aller Streiter gegen die Judokratie. Seine Schriften sind in hundert­tausenden Exemplaren verbreitet; sein Bild des Juden, der durch geheime Gesetze gehalten ist, alles Nichtjüdische heimlich und mit Gewalt zu beherr­schen oder zu vernichten, ist von der Masse über­nommen worden; seine Ergebnisse mgn nehme den Juden die Bürgerrechte, man verbanne sie aus dem bürgerlichen und politischen Leben, und wenn dies nicht genüg«, au- dem Lande wur­den zu politischen Forderungen erhoben. Daß ihn namhafte Orientalisten und Theologen der Fäl­schung und des Betrugs zeihen, daß er sich zwin­gen läßt, wegen ihm angetaner Beleidigungen vor Gericht zu gehen, daß dort die in Eid genommenen Sachverständigen gegen ihn aussagen, und daß er daraufhin seine Klage vor der Verhandlung zurückzieht und von seinem Lehramt zurücktritt, alles das tut seiner Autorität im Volk und in den Parlamenten keinen Abbruch. Die Ausschreitungen, die politischen Pro­zesse, die Konfiskationen der Journale und das plötzliche Ausscheiden des Kuttenberger StaatS- «nwaltS aus dem Amt geben zu einer Fülle von
Interpellationen im Reichsrat und in den Land­tagen Anlaß. Masaryks kritische Feststellungen, zu einer kleinen Broschüre verarbeitet, erscheinen unter dem TitelDie Notwendigkeit der Revision des Pol- naer Prozesses". In einer Vorbemerkung sagt der Verfasser: Durch die nachfolgende Analyse des Pol- naer Prozesses will ich nach meinen Kräften die Schande unserer Journalisten wettmachen... Der Leser wird sich überzeugen, daß der ganze Prozeß sich unter antisemitischem Hochdruck und dessen Wahnglauben vom Ritualmord abgespielt hat. Ich will nicht sagen, wie mich die Polnaer Affäre berührt, wie ihre Diskutierung mich bis ins Herz verwundet hat- so viel Urteilslosigkeit, Gedankenlosigkeit, leidenschaftliche Ueberstürzung und dazu Unmenschlichkeit bis zur Grausamkeit eine solche Erscheinung kann nur au» der nervösen Ueberreizung und dem abnormen Zustand unseres böhmischen und österreichischen Lebens überhaupt erklärt werden." Ein Exemplar schickt er dem Wiener   Jour­nalisten, dessen Anftage ihn veranlaßt hatte, sich mit dem Thema zu befassen.Ich wünschte, eine flammende Feder würde zeigen, welcher Justiz und welcher Medizin in Oesterreich   daS Leben der Menschen anvertraut ist einer Justiz und einer Medizin, der ein Laie sagen muß, wie sie denken sollte. Sie werden sehen, daß die Revision eigent­lich nicht mehr nötig ist, da ich sie durchführe. DaS k. k. Justizministerium kann nur liquidieren. Die Polnaer Affäre ist ein blutige- Memento, ein grauenhaftes Symptom unserer österreichische» Dekadenz." Am 6. November veröffentlicht Jan Herben  die Broschüre, am nächsten Tag wird sie von der Staatsanwaltschaft konfisziert. Indes besteht die Möglichkeit, sie der Leserschaft dennoch zugäng­lich zu machen: wenn sie in der Form der Inter­pellation eine- Abgeordneten erscheint. Der alte
Fortschrittsmann Ferdinand Kronawetter  , der schon sei Jahrzehnten gegen, den Antisemitismus streitet, übernimmt es, in der Sitzung deS Ab­geordnetenhauses vom 9. November die Inter­pellation an das Justizministerium einzubringen. Sie wird zur Verlesung gebracht, um, wie die Interpellanten sagen, jeden Zweifel auszuschlie- hen.als ob sie auch die strengste Kritik vom Stand­punkt deS Strafgesetzes zu scheuen hätte,Wenn man bedenkt, daß die Polnaer Berhandlungen in zahlreichen Broschüren in kritikloser Weise zur Propagierung einer den Staatsgrundgesetzen zuwider laufenden Tendenz benützt werden durf­ten, erscheint die Konfiskation der Masaryk- schen, nach jeder Richtung gesetzmäßigen Schrift yöllig unbegreiflich." In derselben Sitzung werden die jüngsten Exzesse in Böhmen   und Mähren   besprochen. In einer Front stehen die flerikalen Parteien mit den Deutschvölkischen und den tschechischen Radikalen. Die Führer der Wiener   Antisemiten sind zumeist jüdischer Abstammung und fast alle mit dem Ma­kel gerichtlich erwiesener Korruption behaftet. Sie halten nicht viel voneinander und noch weniger von den parlamentarischen Bundesgenossen. Lue­ ger  , der Bürgermeister von Wien  , rät seinen Par­teifreunden, in Gegenwart Ernst Schneiders sehr vorsichtig zu sein; man wisse nie, ob dieser Mensch nicht ein Polizeispitzel oder ein Agent der Bater- landspartei sei oder vielleicht beides. Auch die Führer der Alldeutschen stehen schlecht miteinan­der. Georg von Schönerer  , dem der Adel aber­kannt worden ist und der sich gern den österreichi­schen Bismarck nennen läßt, heißt den Schneider nurKreatur" undRegierungshund", und sei­nen Genossen Karl Hermann Wolf   beschimpft er so wie dieser ihn.Eins steht fest," sagt der witzige Lueger,recht haben sie alle zwei." Bei der Diskussion über die Krawalle und Judenverfolgungen wird viel gelacht. Der Sozial­demokrat Berner enthüllt die Hintergründe der antisemftischen Aktionen, schildert di« furchtbare
Not der Arbeiterschaft, spricht von den zahllosen Todesfällen, die in Gruben und Fabriken an der Tagesordnung find, weil die jüdischen und nicht­jüdischen Unternehmer rücksichtslos Menschen­leben aufs Spiel setzen, wo der Profit es verlangt, und der humorvolle Bielohlawek   sorgt durch Zwi­schenrufe dafür, daß der Ernst des Themas durch lebhafte Heiterkeit rechts und in der Mitte des Hauses gemildet wird. Ernst Schneider referiert ausführlich über die geheimen Riten und Gesetze der Juden. Den Minister fragt er, ob er denn de« ganzen Unterschied zwischen der arisch-christlichen Weltanschauung und dem jüdischen Monismus kenne.Die Juden betrachten sich allein als Men­schen, alle anderen als Tiere. Dafür kann ich Beweise erbringen!" Und er zitiert unter stürmi­schem Widerspruch von links Rohlingsche Ueberset- zungen aus dem Talmud und anderen hebräischen Lehrbüchern. Dann kommt er auf Polna zu spre­chen.Die ganze Welt weiß, das Hilsner an dem Mord mitschuldig ist, und doch hat ihn der Rei­chenbach laufen lassen, und der Gendarm mußte ihn erst aus eigen« Verantwortung dingfest ma­chen. Wenn auch der Justizminister noch so sehr mit dem Kopf schüttelt, wahr ist es doch!" Leb­hafte Zustimmung. Dann kommt der Redner auf mehrere Ritualmorde an Dienstmädchen zu spre­chen, denen er beinahe auf die Spur gekommen wäre, er behandelt den Fall von Tisza-Eszlar und eine vor zehn Jahren in Korfu   geschehene rituelle Ermordung eines Mädchens.Auch ihr wurde der Hals durchschnitten, auch sie war ausgeblutet. Wohin ist das Blut gekommen? Dorthin, wo das Blut der armen Agnes Hruza ist... Und da hatte ein österreichischer Richter die unglaubliche Idee, einer Mutter zuzumuten, daß sie ihr Kind ermordet und ihr das Blut abgenommen habe! So etwas kann ein österreichischer Richter tun!" Abgeordneter Bielohlawek  :.Und dazu gibt sich ein Professor her, der Masaryk   in Prag  ! Ich möcht' wissen, wieviel der für die Broschür' be­kommen hat!"(Fortsetzung folgt.)