Donnerstag, 13. Dezember 1934 1*. Jahrgang Einzelpreis 70 ffelter (einschlieMich 5 Hellar MH IENTRALORGAH DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung präg xii., fochova<2. telton 53077. Administration telefon sw«. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR : WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS, PRAG . Verrat in Tirol Versöhnungsaktion eines Renegaten Die österreichische Fascistenregierung hat das Westererscheinen der Innsbrucker »Volkszei­tung" gestattet, die sich nun alsOrgan der Kammer für Arbeiter und Angestellte und des Tiroler Gewerkschaftsbundes" bezeichnet. Diese Gnade ist dem Blatt widerfahren, damit die Tiroler Landesregierung in ihm ein Gegengewicht gegen die gerade in Tirol sehr starke national­sozialistische Bewegung habe. Bor kurzem hat der gewesene Chefredakteur derVolkszeitung", Othmar Popp, der das Werk derVersöhnung" zu unterstützen versuchte, einen recht unsanften Rüffel von seinen Auftraggebern eingesteckt, die Hm bedeuteten,-ah er zwar die Arbeiter im Sinne der Negierung beeinflussen dürfe, fich sonst aber jeder Meinungsäußerung enthalten müsse. Die Aktion schesterte und muhte scheitern, weil es zwischen den Arbeitern und dem fascistischen Re­gime, das Hnen Freiheit und Leben nimmt, keine Versöhnung geben kann. Trotz diesem Fehlschlag eines vielleicht Hut gemeinten, aber völlig aussichtslosen Begin­nens hat nun der ehemals sozialdemokratische Innsbrucker Stadtrat Berger, der in den fascistischen Landtag berufen wurde, eine neue Bersöhnungsaktion" begonnen. Er hat" in der Men Titzrnß des neuen Tiroler Landtages eine Rede gehalten, in der er zunächst zu erklären ver­suchte, warum er das Mandat angenommen hat. Er habe zur Bedingung gemacht, dah das einzige Forum, das derzest als Körperschaft der Arbeiter und Angestellten anzusehen sei, die Arbeiter- k a m m e r die natürlich in ihren Entscheidun­gen nicht frei ist der Berufung zustimme. Das sei geschehen. Dieser Feststellung, die Bergers Hal­tung nicht entschuldigt ein Mandat könnte Hm nur durch die freie Entscheidung der Tiroler Arbeiter in einem freien Lande übertragen werden, schickte er folgende Hinweise voraus: Was aber die Arbeiterschaft erwartet, das ist die ehebaldigste Liquidierung der traurigen Feber« Ereigniffe und ihrer gesetzlichen Wirkungen. So­lange man ehemalige Vertrauensmänner immer noch von ihren Arbeitsplätzen verdrängt, bloh weil sie einstmals mit ehrlichster Absicht und Aufopfe­rung. durchdrungen von der Idee des Sozialismus, der als geistige Weltanschauung in der kapitalistischen Wellherrschaft nie mehr verschwin­den wird, für die schutzbedürftige Arbeiterschaft ge- kämpft haben; solange man unsere politischen Häftlinge, die ebenfalls mir für das Recht im Staat« gekämpft haben, in Gefängnissen und Konzentrationslagern festhält; solange nicht in Wort und Schrift auch eine sachliche Kritik wieder zugelafsen, solange nicht wieder eine freier« Arbeiterbewegung gestattet wird, kann für Versöhnung oder Verständigung, nicht viel Aussicht sein. Dieser Weg wird began­gen werden müssen, will man die breite Maffe der Arbeiterschaft wirklich für einen friedlichen Auf- . bau des neuen Staates(I) gewinnen. Der Weg ist gangbar, er ist nicht unmöglich, wenn man den guten Willen dazu hat. Wenn die Ver­leihung meines Mandats dazu dienen soll, s 0 b i n ich gerne bereit, mitzuarbeiten. Die weiteren Erklärungen Bergers beweisen, dah diese Hinweise nur seinen Verrat be­schönigen sollen. Er stellte nämlich fest, dah er fürdasBudgetdesLandesstimmen werde, weil in ihm den Bedürfnisien der Ar­beiter und Gebirgsbauern Rechnung getragen sei. Ein Mann, der sich so verhält, hat das Recht ver­wirkt, sich Sozialdemokrat zu nennen; er ist ein Renegat, der sich noch dazu zu Täuschungszwecken frech auf seine Vergangenheit beruft. In der Nummer derVolkszeitung", die jener mit dem Bericht über die Landtagssitzung folgte, setzt Berger sein Täuschungsmanöver fort. Er veröffentlicht einen Brief an den Bundes­kanzler, in dem er darauf hinweist, dah sich noch einige Tiroler Schutzbündler, die zu schweren Kerkerstrafen verurteilt wurden, im Gefängnis be­finden. Er sehe seine erste Pflicht darin,im Zuge der BerständniSaktion mit der ehemals(!) sozialdemokratischen Arbeiterschaft" diese Schutz­bündler zu befreien und bittet ergeben st, sie zu begnadigen. Der Schuschnigg hat darauf geantwortet, er besorge, dah die zu Begnadigenden die Ruhe im Lande wieder stören könnten ihr Charakter wird also anders beurteilt als des Herrn Berger, dah er aber Bergers Bittei n irgendeiner Form" Rechnung tragen werde.(Wahrscheinlich werden die Verurteilten aus den Kerkern in Konzentrationslagern über­führt werden.) Für die Scheinheiligkeü derVerständi­gungsaktion" spricht die Tatsache, dah sich noch viele Hunderte von Schutzbündlern in den österreichischen Kerkern befinden; einige unter ihnen sind für die Verteidigung der von Schusch­ nigg und M i k l a s beschworenen Verfassung zu lebenslänglichem Kerker verurteilt Auhenminister Dr. Benes traf gestern nachmittags um 14 Uhr mit dem Pariser Schnell- zug in Eger ein. Auf dein' Bahnhof hatte« sich ! die Vertreter der Behörden und der tschechischen Minderheit zur Begrühung eingefunden. Doktor Benes dankte in kurzen Worten. Während des kurzen Aufenthaltes, den der fahrplanmähige Zug in Pilsen nimmt, wurde Benes ebenfalls von einer Abordnung, der sich ein zahlreiches Publikum gesellt hatte, begrüßt. Der Bürgermeister der Stadt Pilsen , Genosse Abg. P i k, dankte dem Auhenminister für das Werk des Friedens, an dem dieser in so hervorragendem Mähe beteiligt ist. Außer Pik sprachen noch einige andere Vertreter. Ihnen allen dankte Benes in einer kurzen Rede, in der er die Bedeutung der Genfer Beschlüsse für den europäischen Frieden und für die Zurückdämmung der revisionistischen Be­strebungen hervorhob. Dr. Benes betonte die Not­wendigkeit, alle innerpolitischen Kräfte für die demokratische, wirtschaftliche und soziale Sicherung der Republik einzusetzen. Die Kundgebung des, Aussenministers wurde begeistert ausgenommen. Auf dem Prager Wilsonbahnhof lief der Pariser Schnellzug nach 18 Uhr ein. Dok­tor Benes wurde von seinen Angehörigen und Parteifteunden auf dem Bahnsteig begrüht und begab sich dann an den ausgestellten Abordnungen der Legionäre, Turnvereine und Skauts in den Bahnhofsalon. Dort wurde er von den Gesandten der befreundeten Länder willkommen geheißen, so­dann begrühjen ihn der Ministerpräsident Maly- p e t r und dir Minister B r a d& l, Dr. Franke, Dr. D t r e r, Dr. Trapl und Jng. D 0 st ä- l e k. Es hatten sich ausserdem viele Mitglieder des Streicher vor dem Sturz? DerPrager Presse" wird unter dem 12." Dezember aus Berlin gemeldet: Seit längerer Zeit wird in politischen Krei­sen über die V e r s e tz u n g des Nürnberger Gau­leiters Julius Streicher gesprochen. Nach der Verstossung Helmut Brückners wurde vielfach erwartet, dass Streicher der Nachfolger Brückners in Breslau werden würde. Durch die Ernennung Josef Wagners zum kommissarischen Obxrpräsiden- ten von Breslau und schlesischen Gauleiter ist diese Frage aber vorläufig erledigt. Nichtsdestoweniger scheint der Fall Julius Streicher an Aktualität nicht verloren zu haben. In der vorigen Woche weilte der Statthalter von Bayern , General pon Epp, in Berlin und wurde von Adolf Hitler in einer längeren Unterredung über die Zustände in Bayern empfangen. Wie verlautet, soll Gene- ral von Epp die Abberufung Streichers von seinem Nürnberger Posten dringend empfohlen haben, weil Streicher bei der Bevölkerung seines Wirkungskreises äusserst unpopulär geworden sei und seine Tätigkeit Grund zur Kritik gebe, die dann Zwischenfälle herbeiführe. Es scheint jedoch. worden. Der rechtmäßige Bürgermeister Wiens befindet sich, von den fascistischen Schurken gesund­heitlich fast zugründegerichtet, unter ständiger Be­wachung, andere Funktionäre des roten Wien und der Arbeiterbewegung sind in den Konzentrations­lagern und die Witwen und Waisen der Hingerich­teten hungern. Den Hochverratsprozeh aber, den man Seitz und Genossen angedroht hatte, führt man nicht durch, weil aus den Anllägern Angeklagte würden. An all diesen Scheußlichkeiten geht Berger mit wenigen, vorher zensurierten Worten vorüber. Sein biederes Tirolerherz begnügt sich damit, daß den Tiroler Arbeitern ein£ für ein U vorge­macht wird. Aber die Berger machen die Rechnung ohne die österreichischen Arbeiter. Es gibt keine Versöhnung es gibt nur die Wiedereroberung der Freiheit, den Sturz der fascistischen Herrschaft. Wenn diese Aufgabe getan sein wird, werden sich auch die Berger verantwor­ten müssen, mit denen die Henker jetzt im Aus- I land Staat zu machen versuchen. Parlaments unter Führung der Genossen Doktor Soukup und S t i v i n eingefunden, sowie der Primator der Statu Prag, Dr. B a a und andere offizielle Persönlichkeiten. Die Reihe der Begrü­ßungsansprachen eröffnete Dr. B a x a. Außer ihm verdolmetschten u. a. Genosse T 0 m ä s e k, Vor­sitzender des Außenausschufles im Abgeordneten­haus, Genosse Dr. Soukup, Abg. Hummel- h a n s und Vertreter der nationalsozialistischen Partei, der Legionär- und Sokolgemeinde den Dank der Bevöllerung. Dr. Benes dankte in einer Ansprache. Ueber das Marseiller Attentat und die Bereinigung sei­ner Folgen sagte Benes, es bestehe kein Zweifel, daß vor dem Weltkrieg eine solche Angelegenheit zum Kriege geführt hätte. Im Kampfe um die moralische Genugtuung für Jugoflawien ging es um große politischeFragen und grundsätzliche poli­tische Prinzipien. Der Revisionismus habe eine schwere Niederlage erlitten. Geschlagen seien auch jene Kräfte, die eine Rückkehr zu dem Stande der Dinge vor dem Kriege anstreben. Alle Kämpfe, schloß der Minister, sind noch nicht beendet, aber wir brauchen uns nicht zu fürchten, wenn wir un­seren Freunden, unseren demokrati­schen Grundsätzen treu bleiben und wenn wir daheim Ruhe und Ordnung anstreben werden. Durch das Spalier der Legionäre, Sokoln und Grenadiere begab sich der Minister vor den Bahnhof, wo sich ein sehr zahlreiches Publikum versamnielt hatte, das den Minister mit Hochrufen begrüßte. In einem Zuge, den nationalsozialistische Skauts mit der Staatsflagge eröffneten, fuhr Dr. Benes, immer wieder begrüßt, durch die dichtbe­völkerten Hauptstraßen Prags ins Czerninpalais. dah Adolf Hitler zunächst zögere, Streicher, der zu den intimsten Persönlichkeiten des Führerkreises gehört, von seinem Posten abzuberufen. National- sozialistische Kreise glauben trotzdem, dah die Stel­lung Streichers in Nürnberg auf die Dauer un­haltbar geworden sei. Neuer Notenwechsel In Femost Auf die vielen russischen Beschwerden wegen Mißhandlung, willkürlicher Verhaftung, Folterung und Beraubung russischer Bürger durch mandschu­rische Behörden hat der mandschurische Sonder­beamte erst am 6. November geantwortet. In seinerNote bestritt er alle russischen Behauptungen, ohne aus Einzelheiten einzugehen. Die Note war überdies in einem groben, undiplomatischen Tone gehalten. Nun hat der russische Vertreter des Generalkonsuls in Charbin , R a j v i d, neuerlich eine Note an Mandschukuo gerichtet, in der er die Beschwerden wiederholt und Abhilfe fordert, fer­ner auch Schadenersatzansprüche anmeldet. Dr. Benes zurückgekehrt Herzliche Begrüßung in Eger , Pilsen und Prag BeneS;Bleiben wir unseren demokratischen Grundsätzen treul Der Völkerbund als Friedensstifter Moralische Bilanz der Genfer Tagung Vor der Ratstagung in Genf hat der Außen­minister Dr. Benes in seinem Expose im Par­lament auf die große moralische Bedeutung hinge­wiesen, die der Erledigung des jugoslawisch-unga- rischen Konfliktes durch, den Völkerbund zukommt. Dr. Benes betonte damals, daß der Völkerbund an diesem schwierigen Problem seine Kraft erpro­ben und seine Leüensberechtigung erweisen müsse. Als die Verhandlungen begannen, hatte es ganz den Anschein, als sollte der Völkerbund schei­tern. Der Versuch, Debatte und Entschluß zu ver­tagen, wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Ver­zicht des Völkerbunds auf seine in 15 Jahren ohnehin oft geschwächte Autorität. Hier lag einer jener Fälle vor, in denen es zu handeln galt, in denen ein Versagen die Institution des Bundes in Frage stellen, das Genfer Weltparlament als einen lächerlichen Diskutierllub charakterisieren muhte. Die Gegner des Völkerbundes warteten auf dieses Versagen und auf ihren Triumph. Vor einem Jahr ist Deutschland aus dem Völkerbund ausgeschieden. FürdieHitlerpropaganda hätte es nichts Besseres geben können, als den Hin­weis auf den Zusammenbruch des Genfer Kolle­giums, das ohne Deutschland üben nicht arbeits- 'fähig sei. Für die Austragung des Saarkon­fl i k t e s ist es von größter Wichtigkeit, vah der Böllerbund, der die Abstimmung- leitet, der Trup­pen ins Saargebiet sendet, sich als Autorität er­weist. Es stand also viel, wenn nicht alles auf dem Spiel, als Jugoflawien vom Böllerbund einen Rechtsanspruch forderte, der ihm Genugtuung leistet. Gerade die Parallelität aller Ereignisse seit dem Marseiller Attentat mitdenGeschehnissenvomSommer 18 14 legte dem Böllerbund die Verpflichtung zu einem verbindlichen Schritt auf. Denn die Abwei­sung der jugoflawischen Beschwerde» die Nieder­lage des gekränkten Rechtssuchenden wäre ja die glänzendste Rechffertigung der österreichisch -unga­rischen Politik im Juli 1914 gewesen. Man hat Berchtold und der gesamten Diplomatie vom Ballhausplatz immer wieder vorgeworfen, daß sie den Krieg provoziert, daß sie nicht ein internafionales Forum angerufen, daß sie das Haager Schiedsgericht und die von London vorge­schlagene Konferenz schroff abgelehnt haben. Die freilich spärlich gesäeten Verteidiger der Wie­ ner Diplomatie von 1914 haben immer wieder betont, dah die Monarchie auf diese Weise kein Recht erhalten hätte, daß kein Schiedsgericht, keine Konferenz der Mächte Oesterreich Genugtuung für die Mitwirkung serbischer Offiziere und Behörden an dem Attentat von Sarajewo verschafft hätten. Diesmal war ja die Situation der von 1914 ver­flucht ähnlich, nur daß die Bühne sich um 180 Grad gedreht hat und Kläger und Beklagte in ge­nau umgekehrter Front standen. Ungarische Offi­ziere und Behörden sind angeklagt, das Attentat vorbereitet und unterstützt zu haben. In Janka Puszta wurden die Attentäter von 1934 unter­richtet, während der Sitz der Schieß-Schule 1914 Topöider hieß. Die Dimitrijeviü,und Tankosik von 1934 haben magyarische Namen; damals war ein Habsburger das Opfer und die Täter glaubten zu Ehren der Dynastie Karageorgevik zu handeln, diesmal war ein Karageorgeviö das Opfer und die Täter stehen im Schatten des schwarzgelben Dop­peladlers. Beidemale haben die Täter serbische un­kroatische Namen.,. Aber 1914 wurde eben einKrieg daraus. 1934 wurde der Streit friedlich beigelegt. Nun erst kann man mit vollem moralischen Recht die Vorwürfe gegen die Berchioldsche Diplomatie erneuern: es wäre nicht nötig gewesen, dah die Schüsse von Sarajewo ein milliardenfaches Echo fanden. Es hätte einen andern Weg gegeben. 1934 beweist, daß 1914 ein Verbrechen aus Leichtsinn und Borniertheit way. Die Politikervon 1934 haben in Genf einen weithin sichtbaren Beweis dafür geliefert, dah sie d e n P 0 l i t i k e r n von 1914 überlegen sind. Ieftil ist kein Berchtold. Er lieh nichts unversucht, um sich auf friedlichem Weg« Genugtuung zu schaffen. B e»