Seife 2
Freitag, 14. Dezember 1934
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„Ständisches Leben", herausgegeben von dem geistigen Vater der nationalsozialistischen Gesellschaftslehre Othmar Spann ; die gleichgeschaltete Zeitschrift„Die Tat", erscheinend in Jena ; Bepmelsburgs Kriegsbuck „Sperrfeuer um Deutschland"; Günthers „Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes"(noch in den letzten Wochen vom Hauptorgan des Bundes der deutschen Landjugend empfohlen); Spann:„Haupttheorien der Volkswirtschaft"; Walter Heinrich : „DaS Ständewesen "; FranzvonPapen: „Appell an da- deutsche Gewissen"(Reden zur nationalen Revolution)" u. a. Was aber hat das Lehrbuch der deutschen Landjugend zu den Grundfragen der Demokratie zu sagen? Lesen wir: „Unsere letzte Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens war ganz im Individualismus untergegangen, woher anch die allgemeine Zerrüttung kommt; wir leben noch in seinen Politischen Forme«(Demokratie, Republik ). Geistig ist aber die Hinwendung zum U n i v e r- salismns Ilies: faseistische Totalität. Die - Red.) erkennbar, Träger dieses neuen inneren Aufstieges des öffentlichen Lebens ist die Jugend."(Seite 248.) Die Folgerungen aus dieser Gesinnung finden wir auf Seite 281: ,,... die republikanisch-demokratische StaatS- form wurde nun in Europa fast die alleinherrschende, aber sie scheint auch da ihrem Wendepunkt nähergerückt zu sei«, denn die Krise der Demokratie ist bereits z« offenbar, ihre E» t» artungSerscheinnngen find z« stark und allgemein und deutlich erhebt fich ja eine ne»e geistige Welle, die Volk und Staat viel tiefer wieder als eine natürliche Gemeinschaft von gewachsenen«nd dadurch notwendig innerlich verbundenen Gliedern auffaßt und die vor allem aller unnatürlichen, die Gemeinschaft nur zersetzenden Gleichmacherei entgegen, de« deutschen Führergedanke« wieder ins öffentlich« Gemeinschaftsleben einbaue» will." Wundert man sich, daß in der Tschechoslowakischen Republik eine solche Schrift überhaupt erscheinen kann, so ist die Verwunderung darüber nicht geringer, daß ihr Vorhandensein Herrn Spina weder beunruhigt, noch zu einer tatsächlichen Klärung veranlaßt. Dieses „Richtbuch" ist konkreter als alles, was Gustav Hacker Herrn Dr. HodZa und— anläßlich der kürzlich durchgeführten Vorsprache der deutschen Landjugend beim Ministerpräsidenten— Herrn Malypetr, gesagt hat. Wir kennen die Verbindungen viel zu gut, die vom Bund der deutschen Landjugend zur Henleinfront und zum Deutschen Turnverband laufen, also zu Organisationen, die die Prinzipien der Demokratie verneinen und— wie wir demnächst wieder einmal beweisen werden— jene des Nationalsozialismus bejahen, als daß wir die Behauptungen der „Deutschen Landpost" als K l ä r« n g werten könnten. Hier stehen Tatsachen gegen Worte— auch zum Bedauern der jungen sozialistischen Generation, die an der Sicherung der Demokratie durch die Jugend und an der Zusammenarbeit aller, denen es um die Demokratie ernst ist, großes Interesse hat. Faseistische Gedankengänge und von ihnen erfüllte Jugendgemeinschaften haben in einer Demokratie, die sich selbst achtet, kein Lebensrecht. Dies ist allein die Plattsbrm, auf der sich Herr Spina verständigen kann— mit den
Demokraten und einer Jugend, die tatsächlich der Freiheit des Volkes und seinem nationalen Fortschritt dienen will. Tarnungen und Verschleierungen sind gefährlich. Sie mögen der „Deutschen Landpost" als die richtige Taktik zur Erhaltung ihrer Jugendgeneration erscheinen; für uns schließen sie die Verneinung demokratischer Grundsätze in sich. Die„Deutsche Landpost" hat am 12. Dezember die Stellung der deutschen Landjugend zur Totalität in einem zweiten Artikel ausführlich behandelt. Sie hat ihn überschrieben:„Ein Kapitel aus dem Katechismus der Bauerndemokratie". Die vorstehenden Feststellungen lassen keinen Zweifel darüber, daß die deutsche Landjugend nicht über einen Katechismus der Bauerndemokratie verfügt, sondern daß ihr Katechismus eben das genannte
„Richtbuch" ist. Zwar bekennt man sich im zweiten Artikel zur„ständisch-gebundenen Gliederung" des Sudetendeutschtums, also zu dem nach HodZa bereits vorhandenen System der Standesparteien und lehnt die Totalität als volksschädlich ab, ja, man spricht sogar einer Gemeinschaft mit dem arbeitenden Volke das Wort — wo aber ist das klare Bekenntnis der Hacker und Hetz zur Demokratie? Wir lesen Erklärungen der„D rutschen Landpost"— wo sind die der landständischen Jugendführer? Die haben offenbar keine Zeit, weil sie sich der Gemeinsamkeit mit der henleinschen Totalitätsfront widmen müssen. Dabei wird ihr Bekenntnis sichtbar. Wir hören Worte— Worte des land- bündlerischen Parteiorgans. Wo bleibt die demokratische Tat? Die Tat der I u g e n d?
Kontrollier- die Wählerverzeichnisse I Nur jene Staatsbürger, die im Wählerverzeichnisse eingetragen sind, können sich im Wahljahr 1936 an den Wahlen beteiligen. Daran zu erinnern ist in diesen Tagen außerordentlich wichtig, denn in der Zeit vom 15. bis 22. Dezember liegen die Wählerverzeichnisse in allen Gemeindeämtern, insofern es sich um Gemeinden bis zu einer Einwohnerzahl von 20.000 handelt, zur öffentlichen Einsichtnahme auf. In Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern muß in jedem Hause eine Liste der in dem Hause wohnenden Wähler ausgehängt werden. In den Wählerverzeichnissen muß jeder Staatsbürger eingetragen sein, der am 15. Dezember 1934 das 21. Lebensjahr überschritten hat, mindestens drei Monate in der Gemeinde wohnt und nicht aus gesetzlichen Gründen vom Wahlrecht ausgeschlossen wurde. 1935 werden bekanntlich die Wahlen für das Abgeordnetenhaus und den Senat, für die Bezirks- und Landesvertrctungen durchgeführt, es ist also die erste Wahlvorarbeit, die jeder Sozialdemokrat zu leisten hat, in den Tagen zu erfüllen, da die Wählerverzeichnisse aufliegen. Kein Arbeiter und Angestellter versäume diese Pflicht der Kontrolle der Wählerverzeichnisse, die zugleich eine der ersten Pflichten eines jeden Staatsbürgers ist. Wer nicht rechtlos werden will, muß sich durch die Einsichtnahme in das Wählerverzeichnis von der Eintragung seines Namens überzeugen und gleichzeitig auch feststellen, ob die Namen seiner Familienangehörigen sowie seiner Bekannten und Parteigenossen vorhanden sind. Wer nach dem Gesetz wahlberechtigt ist und nicht im Wählerverzeichnis vermerkt wurde, muß innerhalb der Zeit vom 15. bis 22. Dezember d. I. schriftlich beim Gemeindeamte verlangen, daß er in das Wählerverzeichnis eingetragen wird. Formulare für diese Einwendungen gegen das Wählerverzeichnis können bei den sozialdemokratischen Parteisekretariaten kostenlos bezogen werden. Tie genaue Kontrolle der Wählerverzeichnisse in Stadt und Land wird der sozialdemokratischen Bewegung allein tausende Stimmen bringen. Deshalb nehmt Einsicht in die Wählerverzeichnisse!
VILtenIcürllungen bleiben Ein gleichfalls am Donnerstag eingebrachter Koalitionsantrag setzt sich dafür ein, daß die Gültigkeit des Gesetzes 247/33 über die Abzüge von den Diäten der Mitglieder der Nationalver sammlung für das Jahr 1935 verlängert werde. 'In der Begründung heißt es, daß sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht soweit gebessert haben, daß es möglich wäre, ohne Störung des Gleichgewichtes des Staatsbudgets die P e r s o- nalsparmaßnahmen aufzuheben, die im Jahre 1933 unter dem Drucke der Verhältnisse beschlossen werden mußten. Zu diesen Sparmaßnahmen gehören aber auch die Abzüge von den Diäten der Parlamentarier, mit deren Fortdauer überdies das kürzlich angenommene Budget für 1935 bereits rechnet. Die Wintersaison der Landesvertretung Böhmens wurde Donnerstag vom Landespräsidenten Dr. S o b o t k a mit einer kurzen Ansprache geschlossen.
Ahrcdinnng Im Abgeordnetenhaus mit dem tschechischen fascismus Di« sogenannte„nationale Opposition" der Herren H o d a c und Sttibrnh hat nun schon zum zweiten Male auf dem Boden des Parlaments eine schwere Niederlage erlitten. Anläßlich der Budgetdebatte war es Dr. R o s ch e, der dem Herrn H o d a L die peinliche Frage vorlegte, wie fich denn seine Funktion als Generalsekretär des gemischtnationalen Jndustriellenverbandes mit der Rolle eines Anführers von Prager Straßendemonstrationen gegen deutsche und jüdische Mitbürger vertrage. Gestern hat der tschechische Rattonalsozialist Abgeordneter Stranskh die Debatte über die Berlängerung des Parteiengesetzrs zu einem forschen Angriff auf das Doppelspiel der„nationalen Opposition" ausgenützt. Die Antwort HodaLs fiel mehr als kläglich ans.
In normalen Zeiten— so führte Stranskh aus— würde die Demokratie kein Gesetz über Parteienverbote brauchen. Die Wirtschaftsnot mache aber das Volk für eine Agitatton empfänglich, die für die wirtschaftliche Desorganisation der Welt die Regierung verantwortlich mache. In solchen Zeiten sei Demokratte nicht Diskussion, denn ihr Sein oder Nichtsein hänge von Tatkraft und Disziplin ab. Jede vernünftige Regierung begrüße oppositionelle Krittk. Loyale Oppositton schwäche nicht die Autorität des Staates. Staat und Demo» krrttie sind aber bedroht, wenn die Oeffentlichkeit durch tägliche Lügen und Verleumdungs-Invektiven einer gewissen Presse bearbeitet wird. Dagegen müsse sich die Demokratte wehren. Zu Verfaffungsrefvrmen sei heute sicher keine Zeit. Wichttg sei, daß die nächsten Wahlen Koalitionswahlen seien, a»S denen die Demokratie siegreich hervorgeht. Dann könne bei der Lösung der weiteren Aufbauaufgaben der positive Wille einzelner Oppositionsgruppen herangezogen werden. Auch in den Reihen der Oppositton findet fich genügend Bereitschaft zu ruhiger Arbeit. Eine Ausnahme bildet das Wahlkartell Kramak—Sttibrnh—Mares. Der Zersetzungscharakter der ligistischen und fascistischen Organisationen liege auf der Hand. Stranskh plädiert aber nicht für di« Auflösung dieser Kartells, obwohl sich schließlich auch die Nationaldemokraten in d e r- selbenLage befinden, in der sich die Deuts ch» nationalen infolge ihrer Nachbarschaft mit den Hakenkreuzlern befanden. Stranskh rechnete sodann mit der Rational » demokratte ab. die den Kern der nattonalen Oppo» sition bilde, wiewohl sie jahrelang die Mitverantwor- tung in der Regierung getragen hübe. Dr. Kramak hat kein Recht, s i ch an die Spitze einer nattonaliftt- schen radikalen Oppositton zu stellen. Die nationale Polittk Kramak' im alten Oesterreich war nicht oppositionell, sondern positiv«nd loyal. Er hat dies selbst in einem Brief an den Kaisers betont, wo er sich nach seiner Verurteilung mit Recht als unschuldig hinstellte, aber auf die tschechi-'
scheu Radikalen hinwies, deren Verfolgung er von seiner Person getrennt wissen"wollte. Stransttz führte weiter an, daß Kramak nach dem Umstürze bei der Auswahl seiner Mitarbeiter, Dr. Benes, des zweiten großen Führers der tschechischen Revolution, ausschließen wollte. Mit diesem Vorgehen müsse das heutige Verhalten Kramak gegenüber Sttibrnh konftontiert werden. Die Bankkontts, auf welche die Lieferungsprovisionen eingezahlt wurde», seien hinreichender Beweis, daß keiner der Abgeordneten, die seinerzeit für das MißtrauonSvotum des Abgeordnetenhauses gegen Sttibrnh die Hand gehoben habe«, Sttibrnh Unrecht getan habe. Auch in bezug auf die Straftaten sei er nicht voll rehabilitiert worden. Dr. Sttanskh warf am Schluffe seiner Rede die Frage auf, ob die Nationaldemokraten nicht auch deutsch « Gelder dazu verwenden, um den Staat unter dem Vorwand der nattonalen Einigung zu zersetzen. HodaC„antwortet** Im Laufe der Debatte meldet« sich Abgeordneter H o d a t zu einer Antwort, wozu er übrigens— wie verlautet— erst von seinen Klubkollegen g e- z w u n g e n. werden mußte. Hodai beteuerte in großer Verlegenheit die demokrattsche'Einstellung seiner Partei und trat für die Freiheit der Gesinnung ein. Von den Bänken der tschechischen Linken wurde er an dieser Stelle mit stürmischen Zwischenrufen an die Seelenkauf-Methoden der natto« naldemokrattschen Gewerkschaften erinnert. Das Echo dieser Entschuldigungsrede war zeitweise so lebhaft, daß Abgeordneter Stejskal und Frau Zeminovä vom Präsidenten Roudnickh zur Ordnung gerufen wurden. Unter großer Heiterkeit des Hauses behauptete schließlich Hodak, daß auch di« Demokratte mit einem System der ständischen Korporationen vereinbar sei. Nur spärlicher Beifall seiner Freunde tröstete HodaL über die erlittene Abfuhr. Die„nattonale Opposition" ist seit diesem Rededuell um eine parlamentarische Blamage reicher geworden.
»Bei uns, oben auf dem Boden, unter dem Balken, in den du das Herz für mich eingeschnitzt hast, liegt eine Schachtel mit Geld. Dreiundsiebzig Franken sind drin. Die habe ich für den Winter gespart. Nimm sie dir. Er hat jetzt genug." Sie sah, daß er am liebsten geweint hätte. Er unterdrückte die Tränen und fluchte. --Ich Pfeif auf deine Franken, blödes Dingi" ■ Dann schwieg er verbissen. »Gut. Dann werde ich gehn." Sie drehte sich um und fühlte, daß sie wirklich nicht mehr hierher gehörte, daß sie weiterstreben müsse, ohne fich umzuwenden, daß ihr die Menschen hier niemals ihr Seidenkleid verzeihen würden, daß sie sie haßten. Gefühllos und verachtungsvoll blickte sie nun auf die einstigen Genossen der Küste hinab; sie kam sich dabei selbst widerlich und undankbar vor. Sie hatte aber nicht den Wunsch, fich zu ändern. Sie ging zurück, so rasch es die neuen, schönen Schuhe erlaubten und sah sich nicht mehr um. Das Meer hinter ihr rauschte. Cs klang wie das Murren der Menschen, die sie eben verlassen hatte. Eine plötzliche Brise wehte den Geruch der See hinter ihr her und erinnerte sie an die harte Hose ihres Vaters, mit der er sich, ohne sie auszuziehen, zu Bett legte, müde von der Schwere des Ruders und seines Schicksals. Die Brise legte sich und ein neuer Dust stieg in ihre Nase, ein künstlicher, gekaufter, der Geruch ihrer Kleider und des Parfums mit dem dreisilbigen Namen, den sie vergessen hatte. »Raoul", sagte sie halblaut— aber nicht
einmal die Spur seiner müden Füße war im Sande zu sehen. Im Hotel»Mmr Rßve" brannte» alle Lichter. Da« sechste Kapitel Mama Bonnetier kümmerte sich komischerweise um Babiola. Junge Mädchen sollte man eigentlich nie stagen, was sie machen. Die ehrliche Antwort würde in allen Fällen lauten: wir wachsen und warten. Babiola war gewachsen. Sie war jetzt ein fünfzehnjähriges Fräulein mtt aufrührerischem Blute, französischen Waden und dem Charme, den man in Paris an allen Straßenecken findet. Sie wußte, daß sie schön sei und noch mehr: fiie wußte, daß ihre Schönheit eine Macht war. Aber Mama Bonnetier hatte sich ein Kind gekauft und wollte das Wachstum nicht wahr haben. Sie kleidete Babiola weiterhin sehr jugendlich. Babiola kämpfte in der ersten Zeit dagegen, begriff aber dann, daß Frau Bonnetter in ihr das Kind liebte. Herr Bonnetter sah sie mit anderen Augen an und das war nicht angenehm. ♦ Dreimal in der Woche spazierte Babiola allein über den Boulevard des Capucines, wenn sie ihrer Klavierstunden halber zu einer ältlichen Französin ging, mit deren Kunst es nicht weit her war und die„Baby" sehr bewunderte. »Ah, Mademoiselle, Sie sind ein Talent, ein gefährliches Talent!" Die Pariser Straßen gleichen mit Zucker be- streuten Ananasschnitten. Die Pikanterie der großen Welt vereinigt sich mtt der intimen Süße des eigenen Heimes. In den Schaufenstern lockten einfache Kleider mit teuren Linien; ihr Anblick bot Babwla nichts Neues- Der llebergang aus der öden Fischerhütte in Bidar in das große Pariser HauS war eine Selbstverständlichkeit. Es war ihr schon selbstverständlich erschienen, als man sie das erstemal in einem Zimmer schlafen legte, dessen Decke
ein Künstler für sehr viel Geld sehr häßlich bemalt hatte. Sie machte sich das Leben dadurch einfacher als eS wirklich war. Die schmackhafteste Frucht des Lebens ist die Gegenwart und sie schmeckte sie mit den tausend Lippen ihrer Sinne. Lung und stark wie sie war, sah sie in ihrem Egoismus nicht die Wett, sondern nur sich selbst. Und darum war es nicht großartig, daß der Boulevard deS Capucines existierte, sondern, daß sie dort spazieren ging. Wer Frankreich vergast Gleiches mit Gleichem: und wenn es von Babiola nicht beachtet wurde, so nahm es seinerseüs von ihr nicht die geringste Notiz. ♦ Baby war durchaus nicht der Mittelpunkt der Familie, wenn sich auch das Interesse Frau Bonnetters hauptsächlich um sie drehte. Herr Bonnetter war zwar Ater geworden, fühlte sich aber um zehn Jahre jünger. Er stand in dem Alter, in dem Frauen die Zahl ihrer Jahre resignierend erfassen, die Männer aber aufhören zu zählen. Die Dienstboten wechselten bei Bonnetters ebensooft wie früher. Frau Bonnetier hatte es aufgegeben zu seufzen und ihre ttänenfeuchte Nase in Taschentücher zu versenken. Resigniert ertrug sie die Ueberschwenglichkeiten ihres Mannes bei anderen als gottgewolltes Manko in ihrem Leben. Die Hälfte aller Ehen scheint den Beteiligten schließlich nur dann erträglich, wenn es gelingt, einige Sehnsüchte über ihre Grenzen zu schmuggeln. Herr Bonnetier ging durch das Kinderzimmer, stolperte über die ttndlichen Spiele des großen Mädchens und wartete wie ein Kakteen- züchter auf die erste Blüte. Frau Bonnetier hatte nun das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte — mehr noch— dessen Ergebenheit sie bezahlt hatte. Sie redete fich die Wichtigkeit ihrer Sendung ein, obwohl sie die ganze Sache eigentlich nicht mehr interessierte. Baby wuchs in scharfem Bildungsttaining unter zahlreichen Lehrern und Lehrerinnen heran, die von ihrer Auffassungsgabe und ihrem Eifer
begeistert waren. So wurde die Welt allmählich ihrer Phantasie untertan und erschien ihr schwächer und kleiner als sie sie sich vorgestellt hatte. DaS Leben, wie sie es in den Büchern beschrieben fand, konnte sie sich selbst bedeutend besser ausmalen. Die Philosophie erschien ihr wie eine Re- zeptsammlung für geistige Unselbständige. Sie kannte nun alle theologischen Thesen, die Gott be- ttafen, zu dem sie als armseliges Fischerkind nur in Zeiten der Ängst und des Schreckens gebetet hatte. Sie kam sich wie ein geistiger Tourist vor; Daten und Jahreszahlen versteckten die Schönheiten der Ereignisse. Darwins Theorie, Bergsons vital, Maistres Katholizismus wurden ihr serviert; sie verschlang sie, und brachte trotzdem ihren täglichen Hunger nach neuer Geistesnahrung mit. Frau Bonnetter sagte stolz: »Mein Kind!" Sie hatte vergessen, daß sie es einmal auf einem durstigen Strande aufgelesen hatte. In Babiola stak noch ein tüchttges Stück Strand und Meer, wenn sie auch jetzt ein Fräulein aus gutem Hause war, in dem Brillantenüberraschungen und Zehntausend frankhündchen keine Seltenheiten waren. Obwohl sie manchmal nur ein mit Wissen und Zukunstsplänen erfülltes Gehirn zu sein schien, blieb ste doch ein Backfisch, der sich freut, weil die Türmchen seiner Brüste durch die dünne Bluse himmelwärts streben. Man konnte die künfttge Dame in ihr ahnen, trotzdem sie die Bewegungen eines Girls hatte. Im Casino dö Paris streute ste jedem „Stern" des Programmes Rosen, klatschte vor Begeisterung, gleichzeittg erfüllte sie aber haßerfüllter Reid gegen diese Rivalinnen der Weiblichkeit. * Frau Bonnetter war immer nervös und immer besorgt. Sie hatte ja nichts anderes ga tun. Babiola hatte sich längst daran gewöhnt, acht Bedienten für deren Gruß zu danken, bevor ste fich zu Tisch setzte.»Baby" war schon lange nicht mehr Babwla. .(Forffetzung folgt.)