Sosialdemokrat

ZENTRALORGAN

DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI

IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK

ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRUH. REDAKTION UND VERWALTUNG PRAG XH., FOCHOVA 62. TELEFON 53077. ADMINISTRATION TELEFON 53076. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR : WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS, PRAG .

15. Jahrgang

Dienstag, 1. Jänner 1935

Einzelpreis 70 Heffer

( einschließlich 5 Heller Porto)

Nr. 1

1935: Wahl- Jahr und Kampf- Jahr

Das Jahr, in das wir heute eintreten, erhält für unsere Partei seine ganz besondere Tat­sache durch die Aufgabe, die es uns vor allen anderen zu lösen aufgibt: einen der wichtigsten und aller Voraussicht nach schtversten Wahltämpfe durchzufechten. Im Herbst 1935 läuft die Legis laturperiode des im Jahre 1929 gewählten Abge ordnetenhauses ab. Nach der Verfassung hat der Senat zwar eine um zwei Jahre längere Lebensdauer, aber in den 16 Jahren des Bestandes der Republik hat sich doch schon die Tradition heraus gebildet, den Senat zugleich mit der Abgeordneten­tammer aufzulösen. Bei größeren Verschiebungen im Kräfteverhältnis der Parteien würde die Bil­dung einer arbeitsfähigen Regierung bedeutend er schiert, wenn der Senat das Abgeordnetenhaus um die verfassungsmäßig erlaubten zwei Jahre überleben würde. Da auch die Landes- und Bezirkswahlen zugleich mit der Neuwahl des Parlaments stattfinden sollen, werden wir, bielleicht an einem Tage, in pier Körperschaften zu wählen haben. Die Wahlen des Jahres 1935 werden also rein quantitativ schon der größte Wahlakt sein, den die Bevölkerung der Republik bis­her durchzuführen hatte.

Was die Wahlen von 1935 auszeichnet und aus der Reihe an= derer Kämpfe hervorhebt, ist aber in erster Linie der geschichtliche In= halt, den sie besißen werden.

Die kommenden Wahlen wer den, wie immer sich die wirtschafts liche Entwicklung bollziehen wird, im Zeichen der Wirts schaftstrise stehen. Nicht nur daß die Krise mit ihrer Gefolgschaft aus Arbeitslosigkeit, Elend, Massena not, Detlajsierung soziale limschich tungen bewirkt hat, die nicht hne Folgen im Bewußtsein der Men schen geblieben sind, zwingt as Versagen des kapitalistischen Wirt­schaftsmechanismus die Wähler auch, zu den grundsätzlichen Fragen der Wirtschaftsführung flarer Stel Yung zu nehmen als ehedem. Die Fragen Plan wirtschaft oder Wirtschaftsanarchie find heute kein Gelehrtenstreit, sondern Probleme, die jedem zur Entschei dung vorgelegt sind. Unter den Anhängern der Planwirtschaft aber stehen einander die sozialisti fchen Planwirtschaftler und die fascistischen schärfstem Gegensatz gegenüber. War bei den Wahlen von 1920, in denen die Nachkriegsprobleme von Sozialisierung, gebundener und freier Wirtschaft, eine Rolle spiel= ten, die Entscheidung im Grunde akademischer Natur, so geht es diesmal für alle Beteiligten um das nackte Leben.

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In diesem Ringen fällt uns eine große Aufgabe zu. Der tschechische Fascismus braucht aus mannigfachen Gründen eine fascistische Bewegung im deutschen Lager. Sie hat ihm wie fürzlich im Insignien- Streit die Stichworte zu liefern, wenn es ihn gelüftet, auf di Straße zu gehen. Sie hat die Aufgabe, die gesamtstaatliche Linke auf ihrem kampferprobten deutschen Flügel zu schwächen. Sie muß endlich als Reserve bereitstehen für den Fall, daß der tschechische Fascismus in einem kürzeren oder längeren Uebergangsstadium einen parlamentarischen Koalitionspartner brauchte.

Während im tschechischen Lager die Last des Kampfes mit dem fascistischen Gegner doch eini­germaßen erträglich auf verschiedene demokratische Parteien aufgeteilt ist, werden im deutschen Lager wir Sozialdemokraten die Last des Ringens so gut wie allein

Was wir wollen

Ob wir die Dinge planlos treiben lassen, ob der Staat mit ordnender Hand eingreifen soll, ob die Planung zugunsten der kapitalistischen Eigentümer und auf Kosten der Erzeuger, ob sie auf Kosten der Rentenbezieher und zu Nußen der arbeitenden Schichten erfolgen soll, das sind Streit­fragen, denen am Tage nach den Wahlen schon die stärkste Bedeutung für das Privatleben und die Existenz eines jeden Staatsbürgers zukommen wird.

Die kommenden Wahlen treffen die Republi! aber auch in einer ernst en außenpolis tischen Situation. Die Aufrüstung Deutschlands hat, wie erst kürzlich der Armeebefehl des Präsidenten wieder betonte, uns gegen die Tendenzen unserer eigenen Wehrpolitik gezwungen, die zweijährige Dienstzeit einzuführen. Es ist aber nicht abzusehen, welches Maß die Bedrohung der Republik durch die fascistischen Nachbarmächte noch erreichen kann und die Wahlentscheidung wird auch die Entscheidung darüber einschließen, ob die Tschechoslowakei , so wie sie es unter der bisheri­gen Regierung getan hat, Verbindung mit den fortschrittlichen Kräften in West und Ost suchen, sich wehren und die demokratischen Kräfte zum Schutz der Republik aufbieten, oder ob sie unter Füh­rung einer schein, nationalen Front" eine Politik der Kapitulation vor dem fascistischen Imperia. lismus der Nachbarn treiben wird.

Endlich bietet aber auch die Innenpolitit ein völlig anderes Bild als bei den Wahl­kämpfen von 1920, 1925 und 1929. 1920 und 1925 war die tschechische Politik von der Ideo­logie des Burgfriedens, der Allnationalen Koalition beherrscht. Das verhinderte flare Entscheidun gen, drohte das politische Leben in tödliche Erstarrung zu führen. 1929 stand der sozialistische Linksblod in scharfem Stampf gegen die regierenden Parteien der Rechten und der agrarischen Mitte. Diesmal erscheint eine tschechische Rechts Opposition auf dem Kampfboden und berennt die Positionen sowohl der Sozialisten als auch der Agrarier. Wichtiger noch ist, daß diese Rechts- Opposition ideologisch nicht mehr auf dem Boden der Demokratie steht, sondern einen schlecht getarnten ascismus repräsentiert. Ihr Erfolg wäre zugleich eine Gefähr dung der Demokratie und damit der Republik selbst.

tragen. Der Bund der Landwirte ist Henlein gegenüber nicht mehr frei in seinen Entschließungen. Seine Tattit be= ruht darauf, sich durch eine Schau­telpolitik für alle Fälle zu sichern. Die Christlich so zialen pattieren genau wie ihre österreichischen Freunde mit dem braunen Fascismus, um selbst auf die Gefahr des eigenen Unter­ganges dem verhaßten Marxismus zu schaden. Die liberal denkenden deutschen Bürger aber fann man an den Fingern abzählen. Im konzentrischen Feuer von Fascisten, Halb- und Viertelfascisten, stehen wir allein, auf die eigene Kraft angewiesen.

Wir fürchtenden Kampf nicht. Der vierte No­vember hat gezeigt, welche Kräfte in unserer Partei lebendig sind. Die Gemeindewahlen im Dezember haben bewiesen, daß unsere Kaders unerschüttert sind. Wir können Mitläufer verlieren. Zufallswähler einbüßen, aber wir sind nicht zu überrennen, nicht aus­zutilgen wie jene vielen bürger­lichen Parteien, die nach einem Jahrzehnt verbraucht und abgetan sind. Wir wissen, daß es keine Lüge gibt, die dumm und gemein wäre, daß sie unsere Gegner in dem fom­menden Ringen nicht gegen uns verwenden würden. Was vor Goeb bels, was von Goebbels , was seit Goebbels gelogen wurde, wird sich in der Munition unserer Gegner finden. Da wird kein lebel sein, für das nicht der Marxismus und die Sozialdemokratie berantwortlich wären, da wird es keinen Erfolg

unserer jahrzehntelangen Arbeit geben, den man uns nicht abstreiten wird. Das wissen wir und es entmutigt uns nicht. Es zeigt uns nur Umfang und Tiefe unserer Aufgabe.

Wir treten in das Wahljahr 1935 mit dem Bewußtsein ein, daß wir den politischen Rechen schaftsbericht für unsere Arbeit nicht zu scheuen haben. Fast sechs Jahrzehnte des Aufbaues und der Entfaltung der Bewegung zeugen für uns, zeugen dafür, daß die arbeitende Klasse im su detendeutschen Volte an Freiheit, Menschenwürde und Kultur nichts besißt, das nicht auf alle Zeiten untrennbar mit dem Namen der Sozialdemokratie verbunden wäre. Die Geschichte der Jahre von 1914 bis 1920 beweist, daß die Nation, als der Leichtsinn der bürgerlichen Politik sie an den Rand des Abgrunds geführt hatte, in der Sozialdemokratie den Retter gefunden hat. Die ganze Geschichte der Republik bezeugt, daß die deutsche Sozialdemokratie anderthalb Jahrzehnte für die Interessen des arbeitenden Voltes, des demokratischen Staates, des nationalen Friedens gewirkt hat. Wir haben 1929 eine tattische Wendung vollzoger, aber wir haben nichts getan, das wir nicht verantworten könnten, wir haben hunderte Beweise dafür geliefert, daß wir der beste Anwalt der Massen des deutschen Volkes und die ehrlichen Treuhänder der tschechoslowakischen Demokratie find.

In diesem Bewußtsein gehen wir in den Kampf. Unsere erprobten Organisationen, gehärtet und gefestigt im Krisensturm und im Kampf gegen den Fascismus, unsere bewunderns­würdigen Vertrauensleute, die Menschen alle, treu wie Gold und hart wie Eisen, die seit Jahren in umbrandetem Grengland die Wacht halten, unsere führenden Männer, Gestalt und Symbol gewordenes Pflicht- und Verantwortungsgefühl, die verkörperte Arbeit und Opfer­bereitschaft inmitten einer Welt hohler Demagogie und prozigen Führertums", geben uns die Gewähr, daß wir den Kampfsiegreich aus fechten, daß am Tage nach der Wahl­schlacht die deutsche Sozialdemokratie und die marristische Idee des Sozialismus dastehen werden: eine Kraft, eine Macht, ein unüverwindlicher Wall!

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