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Dienstag, 1. Jänner 1935

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Köpfe des tschechischen Fortschritts

Hier eine Anregung zum Vergleich der geistigen Struktur zweier Völker. Das deutsche   Volk in feiner Gesamtheit durchlebt eine antidemokratische Psychose, die zugleich eine Krise seines Selbstvertrauens ist. Der Absturz der deutschen   Geltung in Europa   fällt zeitlich, aber nicht ursächlich zusammen mit dem Vormarsch von Demokratie und Sozialismus nach dem Kriege. So wurde ein elementarer Pendelschlag der Stimmungen und Gefühle nach der Gegenrichtung aus­gelöst, der im Nationalsozialismus   seinen Niederschlag fand. Nationalsozialismus   ist potenzierter Nationalismus. Machtwille und Verbitterung nähren ihn. Er fußt auf dem fanatischen Glauben Deutscher   an die Unfähigkeit des Deutschen  , als politisch- geistiges Wesen in Freiheit zu leben. Pseudowissenschaftliche Konjunkturritter beeilen sich, das Treiben von Reichsbrandstiftern als Offen­barung einer neuen Epoche auszulegen. Was gedanklich zum Nationalsozialismus oder Stände­fascismus steht, sieht das goldene Zeitalter der Unfreiheit aller Völker für gekommen.

Die Verkrampfung des deutschen   Denkens im Gewaltmäßigen muß überwunden werden. Die Wiedererweckung des Glaubens an die geistigen, sittlichen und kulturschöpferischen Kräfte der Nation, in ihre Fähigkeiten, sich im friedlichen Wettstreit durchsetzen und in Freiheit die großen Aufgaben des Jahrhundert lösen zu können, ist Vorbedingung ihrer Auferstehung aus der Tyran­nei des Fascismus. Viele Zeichen deuten darauf hin, daß in Deutschland   dieser seelische Gesun­dungsprozeß schon in vollem Genge ist.

Es will scheinen, daß die Grenzdeutschen von der Begeisterung für die Unfreiheit stärker er­griffen und der antidemokratischen Psychose ärger verfallen sind. Unter den Sudetendeutschen   ist der geistig- sittliche Widerstand gegen die neudeutsche Barbarei außerhalb der sozialistischen   Reihen beschämend gering. Die Ueberzahl unserer Intelligenz will die Krifen und das Elend der Dik­taturen nicht sehen. Die fudetendeutschen Anbeter Hitlers   verschließen gewaltsam ihre Augen von der

Die Traditionen

der tschechischen Demokratie

Von Rudolf Jilový

Eine Nation, welche ihre ganze Existenz, ihre Rettung vor dem Ver­schwinden und ihre Entwicklung dem Idealismus von Männern, die aus dem armen Volke hervorgegangen sind, zu verdanken hat, ein Volk ohne eigene Dynastie, ohne eigene Aristokratie und bis zum Kriegsende fast ohne eigenes Großkapital konnte nicht anders als demokratisch werden. Ein Volk, dessen Erinnerung an alles Undemokratische mit dem Andenken an Fremdherrschaft ver­bunden ist, kann auch in der Zukunft nicht anders als demokratisch bleiben, will es sich nicht selbst aufgeben.

Sämtliche Traditionen des tschechischen Volkes haben demokratische Grundlagen. Die älteste im Volte noch immer lebendige Tradition ist die Hus= Tradition. Das Andenken an Johannes Hus  , der für seine Ueber­zeugung den Flammentod erlitt, die Kämpfe der Hussiten unter Žižka gegen Adel, Klerus und reiche Bürger, die Demokratie und der Kommunismus im hussitischen Lager, alle diese Erinnerungen sind im tschechischen Volke stärker als etwa irgend= welche Erwägungen über die bodenständige tschechische Dynastie der Přemysliden, die weder Unterdrückung des Volkes, noch Raub und Mord scheute. Mächtig lebt im tschechischen Volke die Erinnerung an die Verfolgung der Nichtkatholiken nach der Schlacht auf dem Weißen Berge( 1620) durch die Habsburger  , an die Brüder Unität und insbesondere an den bedeutenden Pädagogen und Verkünder der Humanitätsphilosophie Jan Amos Komenský   sowie an alle die Qualen, welche das tschechische Volt für seinen Glauben im 17. und 18. Jahr­hundert erdulden mußte. Der tschechische Adel wurde nach den Hinrichtungen auf dem Altstädter Ring im Juni 1621 feines Besizes beraubt, fremde Abenteurer, die in das Land kamen, erhielten seine Güter. Ebenso wie früher der einheimische Adel, unterdrückten auch diese neuen Aristokraten das Volk und der Zwiespalt zwischen beiden blieb bis in die neueste Zeit. Wenn auch hie und da irgendwelche Adelige an dem tschechischen Kulturleben teilgenommen haben, waren es nur bereinzelte Ausnahmen. Sie fühlten sich auch nur als Böhmen  , als Landsleute, nicht aber als Angehörige des tschechischen Volkes.

Die Männer, welche gegen das Ende des 18. Jahrhunderts das tschechische Volt aus seinem hundertfünfzigjährigen Schlaf zum neuen Leben er med ten, waren zumeist Söhne armer Bauern, Hand­werker oder Angestellter. Die tschechische Sprache lebte ja nach dem Dreißigjährigen Kriege nur in Bauernhütten und unter der ärmsten Bevölkerung in den Städten weiter, während die wohlhabenderen Schichten bereits die Sprache der Machthaber, das Deutsche  , angenommen haben. Der gelehrte Sprachforscher meisters und litt in seiner Jugend viel Entbehrungen. Der Vater des bedeutenden Literaturhistorikers, Schöpfers der neuen tschechischen Sprache und Schriftstellers Josef Jungmann  ( 1773-1847) war ein armer Schuster in Hudlitz bei Beraun  , der Vater des Dichters Fr. 2. el akopský( 1799-1852). Bimmermeister in Strakoniß. Der Dichter des Máj" Karel Hynek Mácha  ( 1810-1836) entstammte einer Prager   Proletarierfamilie und blieb bis zu feinem frühen Tode ein proletarischer Intelligenzler. Auch die tschechischen Schriftsteller in den späteren Jahren hatten es nicht besser. Die Autorin der » Großmutter", die berühmte Prosaschriftstellerin Božena Němcová  ( 1820-1862), war die Tochter eines Herrschaftskutschers und einer Kammer­zofe. Sie lebte in Armut und starb in bitterster Not. Der Dichter und Feuilletonist Jan Neruda  ( 1834-1891) wurde als Sohn eines armen Kantineurs und einer Bedienerin auf der Kleinseite in Prag   geboren, wuchs unter proletarischen Kindern auf und blieb zeitlebens ein bejizloser Journalist. Und schließlich ist ja auch Präsident T. G. Masaryk   Sohn eines Herrschaftsfutschers. Josef Dobrovský   war Anhänger der Humanitätsphilosophie der Aufklärungsperiode im 18. Jahrhundert. Humanitätsideen sind in dem Werke Jan Kollář  ( 1793-1852) enthalten. Während seines Studiums in Jena   lernte er die romantischen Freiheitsgedanken der deutschen Jugend kennen. In den zahlreichen Sonetten seiner Slávy dcera" erschallt sein Ruf nach Gerechtigkeit für alle. Allgemein bekannt ist die Tätigkeit des demokratischen Publizisten Sarel Havlíček Borovský( 1821-1856), der wegen seiner Freiheitsideen bon der österreichischen   Regierung nach Brigen verbannt wurde. Das Andenken an ihn ist im tschechischen Volke ebenso lebendig, wie das an Hus. Auf welcher Seite der Barrikade würde heute der Liebling der tschechischen Nation Svatopluk Tech  ( 1846-1908) fämpfen? Er, der Dichter der Lieder eines Sklaven", sozialistischer Zukunftsvisionen und so mancher der Arbeiterschaft gewidmeter Gedichte. Er, der in seinem letzten, aus mehreren Gesängen bestehenden Gedicht" In die weite Welt" sich zum Sozialismus bekannt hatte und den gleichgesinnten Brüdern in Deutschland   die Hand zum gemeinsamen Kampfe für die Sache der Freiheit reichen wollte. Gewiß wären die Sympathien Svatopluk Teas   heute auf Seite derjenigen, die für die Demokratie und gegen den Fascismus kämpfen. Ebenso auch Jaroslav Vrchlický  ( 1853­1912), dessen ganzes Werk kosmopolitisch ist, der wegen seiner Sympathien für fremde Kultur von den Spießbürgern verkezert wurde und als der einzige im österreichischen Herrenhause am 21. Dezember 1906 eine Rede für das allgemeine gleiche Wahlrecht und für die Demokratie gehalten hat.

Josef Dobrovský  ( 1753-1829) war Sohn eines Gendarmeriewacht­

Die besten tschechischen Schriftsteller und Gelehrten der Jeztzeit stehen auf der Seite der demokratischen Front. 67 Dichter und Prosaschriftsteller haben ein Manifest für die Demokratie unterschrieben. Fast 200 in der Oeffentlichkeit bekannte Männer und Frauen haben sich ihnen angeschlossen: Schriftsteller. Kritiker, Komponisten, bildende Künstler, Architekten, Philoscphen, Historiker, Juristen, Volkswirtschaftler, Journalisten, Hochschulprofessoren usw. Sie alle wollen die Demokratie gegen den Fascismus schüßen. Hand in Hand mit der sozialistischen   Arbeiterschaft wird es ihnen gelingen.

Tatsache, daß die demokratischen Länder des Westens ohne Einbuße ihrer Kulturhöhe der Weltkrise standhalten und das Wirtschaftselend viel erfolgreicher bekämpft haben.

So wächst unser Kampf gegen Nationalsozialismus   und Henleinfafcismus hinaus über den Parteirahmen zum Ringen um die Zielsetzung der sudetendeutschen   Politik schlechthin. Die Grundsatzfrage lautet: mit der Demokratie für Frieden und soziale Ge= rechtigkeit oder gegen die Demokratie für den Krieg und die europäische Katastrophe. Sie muß auch von den Sudetendeutschen mit Ja oder Nein männlich beantwortet werden.

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Daß die Entscheidung zwischen Demokratie und Fascismus nicht durch die Mandatszahl der Arbeiter und Bürgerparteien, sondern durch die geistig moralische Kräfte= verteilung in der Nation felbst bestimmt wird, dafür bietet das junge tschechische Volk ein klassisches Beispiel. Die jüngsten politischen Krawalle in Prag   haben im tschechischen Lager eine imponierende Abwehrfront des Geistes und tiefwurzelnder Fortschrittsgesinnung gegen nationalistisch- fascistische Unvernunft auf den Plan gerufen. Dieses Beispiel soll auch für die frei­heitlichen und fortschrittlichen Sudetendeutschen   eine Ermunterung und ein Anfporn sein. Wollen wir auf dem Boden dieses Völkerstaates Gleiche unter Gleichen werden, dann muß dieser Gleich­heitsanspruch vor allem errungen werden durch tapferes Einstehen für die innere Freiheit des eigenen Volkes. Soll ein friedlich verbundenes und sozial erneuertes Europa   erstehen, dann müs­sen zuerst in allen seinen Nationen die guten Geister über die bösen Gewalten siegen. Wir glauben auch zur Ueberwindung der Vertrauenstrife zwischen Deutschen   und Tschechen beizutragen, wenn wir hiemit der sudetendeutschen   Oeffentlichkeit einen knappen Umriß des geistigen und menschlichen Profils des tschechischen Fortschrittslagers zeigen. Ein journalistischer Brücken­schläger, unser Freund Illový, hat dazu das Wort.

Schriftsteller

Karel Čapek  ,

Redakteur der Lidové Noviny", geb. 1890. Dramatifer und Prosaschriftsteller. Seine Werke sind erfüllt vom tosmopolitischen, fortschrittlichen Geist, seine Philo sophie ist Humanismus   und Pragmatismus. Einige Werke schrieb er gemeinsamt mit seinem Bruder, dem Maler Josef Capet. Seine journalistische Tätigkeit ist von der Idee der Freiheit und Demokratie getragen, feine letzten Artikel gegen Fascis­mus und Reaktion erregten Aufsehen. Seine Komödie Der Räuber" behandelt die Waghalsigkeit der Jugend, R. 1. R." ist ein soziales Drama über die Schaf­fung fünstlicher Menschen, die sämtliche Arbeiten verrichten, der sogenannten Roboters, welches Wort in alle Weltsprachen Eingang fand. Das gleichfalls soziale und teilweise auch antimilitaristische phantastische Schauspiel Aus dem Leben der Insekten" schrieb er gemeinsam mit seinem Bruder. Die Sache Matropulos" ist ein interessantes Stück über ein Lebenselixier. Von seinen Prosaarbeiten sind insbesondere von Bedeutung Die Absolutumfabrik" und. " Der Meteor", Ein gewöhnliches Leben". Er schrieb geistreiche Plaudereien über " Krafatit". Seine letzten Prosaarbeiten sind eine Romantrilogie ,, Hordubal", seine Reisen nach England, Italien  , Holland   und Spanien  . Als Vertrauter des Präsidenten gab er bisher zivei Bände seiner Gespräche mit Masaryk  " heraus.

F. X. Šalda,

Ph. Dr., Professor für Geschichte der modernen Literaturen an der tschechi schen Universität in Prag  , geb. 1867. Der bedeutendste tschechische Literatur­kritiker und Essayist. Immer voll von Interesse für alle Gegenwartsfragen, immer jung und neuen Problemen zu­getan. Feind aller Halbheit, jeder fal­schen Pose in der Kunst und im Leben. Heftiger Polemiker. Fordert von der Kunst auch eine soziale Funktion. Freund der Arbeiterbewegung. In seinem ersten Essaywerk Kämpfe um den morgigen Tag" behandelt er ästhetische Fragen. Seele und Wert" sind kritische Auffäße über tschechische und fremde Dichter. Als Belletrist und fremde Dichter. Als Belletrist schrieb er Novellen Das ironische Le­ben und andere Erzähligen", und einen Roman Arbeiter und Mario­netten Gottes" und gab auch Gedichte heraus. Sein 1921 erschienenes und erst viel später auf dem National­theater aufgeführtes Drama Die

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Scharen" behandelt den Konflikt der Massen mit dem Führer und ist nach Salda's Ausspruch troß aller seiner Tragik ein Lied der sozialen Hoff: nung". Salda's Drama ,, Daskind" ist eine Anklage der bürgerlichen Gesell­schaft. In seiner von ihm selbst ganz geschriebenen Monatsschrift Saldův zápisník" fritisiert er alle kulturellen imd politischen Ereignisse und zieht in den letzten Nummern heftig gegen den Nationalismus und Fascismus zu Felde.

Ottokar Fischer  , Ph. Dr., Professor der deutschen   Lite­ratur an der tschechischen Universität in Prag  , geb. 1883. Dichter, Dramatiker, lebersetzer, Literaturhistoriker, Kri titer. Seine Boesie ist formvollendet, gedankenreich und melodisch. Er gab mehrere Gedichtsammlungen heraus. In der letzten( Mittag") widmet er dem jetzigen zerwühlten Europa   mu­tige Verse. Er schrieb mehrere Dramen

mit historischen Sujets, darunter auch ein Drama über den Spartacus- Auf­stand im alten Rom   ,, Die Sklaven". Ausgezeichnet sind seine Uebersetzun gen von Werken der Weltliteratur, insbesondere Goethe( beide Teile bon" Faust", Gedichte u. a. m.), Heine, Kleist, Hofmannsthal  , Wede­find, Niebiche( Also sprach Zarathu stra"), Corneille, Verhaeren, Mar­ Tow  , Shakespeare  , Shelley, u. a. Fischer schrieb auch Monographien über Kleist, Nietzsche und Heine, essayistische Werke( Seele und Werk" 11. a.). Einige Jahre war er Theaterkritiker im Právo Lidu", jetzt in den Li­dové Noviny".

František Götz  ,

Ph. Dr., Dramaturg des National­theaters in Prag  , literarischer Kritiker Schüler F. X. Salda's. Tritt für so­des ,, Národní Osvobozeni", geb. 1894. zialen Humanismus ein. Gab außer

Literaturlehrbüchern mehrere Essay­iverfe über Gegenwartsdichter und ästhetische Probleme heraus. In seis nem letzten Werk Die schicksalsvolle tschechische Frage" befaßt er sich mit dem Verhältnis des tschechischen Vol­fes zum neuen Europa   und betont die Notwendigkeit einer humanitären De­mokratie als den einigegn Weg zur menschlichen und nationalen Existenz.

Karel Toman  ,

Pseudonym des Antonín Bernášek  , pens. Archivars der Nationalversamm­Tung, geb. 1877. Lyriker. In seinen fein ziselierten Gedichten sind viele so­ztale Motive Er liebt das Proletariat und hegt eine heftige Abneigung ge gen die bürgerliche Gesellschaft. Auf seine Poesie hat Richard Dehmel   stark eingewirkt. Seine Gedichtbände tragen die Titel Märchen des Blutes", Torso des Lebens", Melancholische Pilgerfahrt"," Monate"," Die Stim me der Stille", Der hundertjährige Kalender". Einige seiner Gedichte sind auch ins Deutsche übersetzt.

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