Sosialdemokrat

ZENTRALORGAN

DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI

IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK

ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRUH. REDAKTION   UND VERWALTUNG PRAG   XII., FOCHOVA 62. TELEFON 53077. ADMINISTRATION TELEFON 53076. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR  : WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS, PRAG  .

15. Jahrgang

Sonntag, 13. Jänner 1935

Heute Saar  - Entscheidung

Deutsche Front vernichtet Wahlfreiheit

Saarbrücke n. In der Hauptstadt des Saargebietes herrscht höchste Spannung. Die Straßen waren am letzten Tage vor der Abstim­mung überfüllt, alle Gaststätten und Hotels sind bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Die Lebensmittelpreise sind enorm gestiegen.

Aeußerlich herrscht zwar Ruhe, aber der Terror der Deutschen Front wird im Stillen ausgeübt. Er ist so noch wirksamer als die lauten Metho­den, deren er sich bis jetzt bediente. So hat die Freiheitsfront in letzter Stunde entdeckt, daß die Deutsche   Front ihren Wählern ein Formular aus­händigt, das sofort nach der Abstimmung beim zuständigen nationalsozia­listischen Abstimmungsinspektor abzugeben ist; in diesem Formular ist be kanntzugeben, wie, wann und wo abgestimmt wurde. Für die Nichtbeteili­gung an der Wahl müssen der Deutschen   Front die Gründe mitgeteilt werden. Mar Braun, der Führer der Freiheitsfront, erklärte, daß un­ter diesen Umständen von einer Freiheit der Wahl keine Rede mehr sein könne. Es werde eine neue Beschwerde nach Genf   gerichtet werden.

Der Ausgang der Abstimmung ist noch völlig angewiß, da sich ein großer Prozentsatz der Stimmberechtigten voraussichtlich bei der Stim­menabgabe enthalten wird. Die Polizei ist in strenger Bereitschaft, die internationalen Truppen bleiben heute in den Rafernen und dürfen nur auf schriftliches Ansuchen des Polizei- oder Gendarmeriechefs ausrücken.

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Scharfe Warnung an die Deutsche Front

In der Befürchtung, daß infolge des Terrors der Deutschen Front Zweifel an der Gültigkeit der Abstimmungsergebnisse auftauchen könnten, hat die Blebiszit- Kommission an den Führer der Deut­schen Front eine scharfe Warnung ergehen lassen und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Schlußentscheidung des Völkerbundes größtes Ge­wicht darauf gelegt werden wird, über das künftige Schicksal des Saargebietes nach jenen Voraus­fehungen zu entscheiden, unter denen die Abstim­mungskampagne durchgeführt werden wird.

Die Berichte über die Abstimmung am Sonn­tag zeigen, daß an diesem entscheidenden Tage den internationalen Truppenkörpern eine sehr heifle Aufgabe zufallen wird. An ihnen wird es liegen, darüber zu wachen, daß der Transport der Urnen mit den Stimmzetteln aus den Landgemeinden des Saargebietes bis zur Wartburg   unter ihrer siche­ren Bedeckung stattfindet. In der Wartburg  , wo die Stimmenzählung vorgenommen wird, werden die internationalen Truppen gleichfalls für die Aufrechterhaltung der Sicherheit zu sorgen haben. Die Zählung der Stimmen wird der schwedische Präfett BIeger leiten. Die Führer der Deut­ schen   Front hatten zwar versichert, daß sie sich mit ihren Anhängern um die Aufrechterhaltung der Ordnung fümmern würden, doch wurde ihr An­gebot abgelehnt.

Der Pressedienst der Einheitsfront hat ein Verzeichnis ungefeßlicher Handlungen und Ge­walttätigkeiten, deren sich ihre Gegner schuldig gemacht haben, ausgegeben. Es handelt sich haupt­jächlich um Mißhandlungen von Verkäufern anti­hitlerischer Zeitungen, die Zerstörung von Ein­heitsfront- Blakaten usw.

Das Verfahren gegen den englischen Polizei­offizier, der einen Saarländer   durch einen Revol berschuß verlegt hatte, als er sich von einer Men­schenmenge bedroht glaubte, endete mit seiner Frei­prechung. Dadurch wurde ein Zwischenfall liquidiert, der bedeutende Erregung und Befürchtun=| gen hinsichtlich seiner Folgen hervorgerufen hatte. Ruhige Erwartung in Frankreich  

Baris. Die breite französische   Oeffentlichkeit wie auch die politischen Kreise und die Presse ver­folgen die Begebenheiten im Saargebiet zwar mit Interesse, dabei aber mit absoluter Ruhe, ohne Newvosität und Voreingenommenheit. Lediglich die Börse ist mit der immer näher rückenden Entschei-| dung etwas vorsichtiger geworden.

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Unparteiisch registriert die Presse das Wach­Einheitsfront der Sozialisten, Kommu­nisten und Katholiken zugunsten des status quo sowie auch die sich mehrenden Uebergriffe und Ter­roratte der Nationalsozialisten, doch nimmt sie­soweit sie von der Sache überhaupt spricht einen

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Nr. 11

Um das letzte Stück deutscher   Freiheit

Entscheidung über die Saar  

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Eine Nation stürzt von der Höhe moderner Bezeichnend ist, daß niemand in Frankreich   Vor- Bivilisation in den Abgrund des Fascismus. Doch aussetzungen macht oder vorzeitige Folgerungen zu da bleibt ein Rest, ein Siebzigstel des ganzen Vol­ziehen versucht. Die verantwortlichen amtlichen tes, auf schmaler Felsplatte von dem Absturz be­und politischen Stellen sind augenblicklich bemüht, wahrt. Und der soll jetzt entscheiden, ob er da blei­bis zum letzten Augenblick mit peinlicher Genauig- ben will, isoliert von dem, was durch Jahrzehnte feit auf dem Standpunkt zu verharren, den bereits den Begriff Mutterland" umschloß, oder ob er mehrere französische   Regierungen nacheinander sich den Brüdern" anschließen, also Selbstmord festgelegt haben, daß nämlich die Saarfrage weder begehen, in den Abrgund nachspringen soll. Man als eine französische, noch als eine deutsche, son- sollte meinen, daß die Entscheidung unstrittig dern als eine internationale Frage anzusehen sei väre, daß von 100 Saarländern 99 das Leben in der einzig und allein der Völkerbund   eine meri- in Freiheit, in dem letzten Rest eines freien torische Entscheidung treffen könne. Deutschland  , der Heimkehr in den Abgrund der braunen Bandenherrschaft vorziehen würden. So wäre es, wenn die Menschen Phantasie genug hätten, sich vorzustellen, was drei Kilometer von ihnen entfernt geschieht, und wenn in solchen Ent­scheidungen der wägende Verstand der entschei dende Faktor wäre. So ist es aber nicht.

Eintägiges Kolportageverbot

Durch eine Verordnung des Präsidenten der Regierungskommission& nor wird für den Wahl­sonntag die Verbreitung sowie der Vertrieb sämt­licher periodischer und nichtperiodischer Druck­schriften, soweit sie im Saargebiet erscheinen, ver­boten, ebenso ihr Aushängen oder Auflegen an öffentlich zugänglichen Orten. Auch das Verteilen von Druckschriften jeder Art von Haus zu Haus, auf Straßen oder Plätzen, in Gaststätten oder an anderen öffentlichen Orten ist verboten. Zuwider handelnden droht haft nicht unter drei Tagen, bei mildernden Umständen eine Geldstrafe von nicht

sehr reservierten Standpunkt zu der Frage ein, nach welcher das Saargebiet nach der Abstimmung in zwei Teile geteilt werden soll, von denen der eine an Deutschland   angegliedert, der andere unter den Schutz des Völkerbundes gestellt werden würde. I unter 500 Franken.

Genf   entscheidet endgültig!

Gen f. Der Völkerbundrat, der Samstag um 12 Uhr zusammentrat, beriet einige mit der Saarabstimmung zusammenhängende Fragen. Es wurde beschlossen, das Mandat der drei­gliedrigen Saarkommission ohne Festschung des Datums zu belängern, also solange, als das Saarproblem nicht definitiv gelöst ist. Außerdem hat der Völkerbundrat auf Anregung der Saar  - Regierungskommission eine Resolution ausge­arbeitet, in welcher er sich an die Saarbevölkerung wendet und die im wesentlichen lautet:

Vor der Abstimmung appelliert der Völkerbundausschuß in feierlicher Weise an die Be­völkerung und ersucht sie, in Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Volksabstimmung Ruhe und Würde zu bewahren. Der Rat rechnet damit, das die Saarbevölkerung sich auch weiterhin so verhalten und in Ruhe die Entscheidung des Völkerbundes, die er ehe baldig st treffen wird, abwarten wird.

Die Entscheidung, durch welche die Macht befugnisse des dreigliedrigen Völkerbundans­schusses für die Saarfrage verlängert wurden, zeigt, daß der Völkerbund   in jedem Falle, wie immer auch die Abstimmung ausfallen möge, über die Durchführung des Saar­plebiszites verhandeln wird, auch wenn es sich nur um eine Interpretation" der am Sonn­tag durch die Saarbevölkerung getroffenen Entscheidung handeln sollte.

Der Pakt von Rom  

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Hitler: O weh, es ist kalt geworden!"

In Deutschland   gibt es Konzentrationslager. in den Konzentrationslagern Folterzellen, Steh färge, unerfindbare, immer von neuem unglaub­würdige und doch tausendfach bezeugte. Greuel. In Deutschland   gibt es Goebbels  , der den Gelehrten borschreibt, was sie zu erforschen, zu entdecken, zu beweisen, zu widerlegen haben, in Deutschland  gibt es Göring  , den Sadisten und Hanswurst. ewigen Inbegriff menschlicher Entartung. In Deutschland   gibt es einen mit göttlichen Ehren ausgestatteten Führer", der nicht deutsch   schrei ben kann und dessen Reden keinen vollsinnigen Menschen über die Persönlichkeit im unflaren las= sen, von der sie kommen. In Deutschland   herrschi Teuerung und Arbeitslosigkeit, es gibt keine Rechtssicherheit in Deutschland  , schlafen Millionen alinächtlich den Angsttraum der Verfolgten und Geheßten. Das wissen Zehntausende Saarländer  . Das ist den Andern immer wieder berichtet, be­wiesen, einwandfrei belegt worden. Werden sie die Folgerungen daraus ziehen? Wir Sudetendent­schen wissen aus eigener Erfahrung, daß es einc Sorte Menschen gibt, für die alles, was in Deutschland   geschicht. nicht existiert. Sollten die unheilbar Irrsinnigen, für die Hitler   ein Gott unt Deutschland   ein ideales Vaterland bleibt, nur be uns zu Lande, nur in den Reihen der SHF eri­stieren? Wo in der Republik   Deutsche wohnen, sitzen sie hart an der Grenze, haben ein paar Stunden, oft nur ein paar Schritte hinüber in das Land des braunen Schreckens. Aber unter Hun­derttausenden, denen deutscher   Anschauungsunter­richt erteilt wird, gibt es Behntausende, die nichts begreifen. Es wird an der Saar   nicht viel besser sein.

Die Phantasielosigkeit, die Dummheit der Menschen ist der eine Feind, mit dem die Frei­heitsfront an der Saar   zu kämpfen hatte. Es gibi eben Menschen, die an die Nilpferdpeitsche nicht eher glauben, als bis sie ihnen quer durch das eigene Gesicht gezogen wird, die das Einschlagen vor. Zähnen, Augen und Nieren folange für ein Greuelmärchen halten, als es nicht an ihnen prak­tiziert wurde. Es gibt Menschen, die sich das, was dicht neben ihnen dem Mitmenschen geschieht, nicht borstellen können, andere die zu dumm sind, sich ein Urteil zu bilden, wenn ein Beweis gegen eine Phrase steht.

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Aber nicht nur Dummheit und Phantasie­losigkeit treiben Tausende Saarländer   dazu. für ihren Selbstmord, für die Rückverwandlung ihres Landes in Saarabien", wie man vor 1914 sagte, zu plädieren. Die Deutsche Front, Hitlers Saar- Organisation, hat zwei Mittel ange= wandt, die den Demokraten nicht zur Verfügung standen: Korruption und Terror. Daß man an 50 Wähler aus Amerika   kommen ließ, damit sie an der Saar   abstimmen nicht weil man die 50 Stimmen braucht, sondern weil das Theater ziehtist ja das bezeichnendste Beispiel dafür, welchen Aufwand die Deutsche   Front ge= trieben hat. Millionen und Abermil­lionen Mark sind in den Saarkampf inve= stiert worden. Wenn Hitler   die Mehrheit bekommt. dann wird jede Stimme mit einem hohen Betrag bezahlt sein. Und jede ist im voraus mit Blut be­zahlt worden, freilich mit dem Blut der Gegner. Hunderte Demokraten sind verprügelt, schwer vers leht, mit dem Tode bedroht worden. Jeder ein­