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Sonntag, 13. Winner 1935
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Deutscher   Sender notwendig Ein bemerkenswerter Artikel des Genossen Netas
Im heutigenNärodni Osvodozeni" macht der tschechische Genoffe Abg. ReLaS daraus auf­merksam, daß die Errichtung eines deutschen   Sen­ders in der Tschechoslowakei   notwendig ist. Die demokratischen Staaten, schreibt er, müssen von den Diktaturen lernen, wie man die Propaganda­möglichkeiten ausnützen könne. Richt mehr so sehr von einer Krise der Demokratie sei zu sprechen, sondern eher von dem wirtschaftlichen Zusammen­bruch und der Krise der fasristischen Länder. Der Rundfunk sei bei«nS besonders wichtig, weil drei­einhalb Millionen deutscher   Mitbürger ständig der Beeinflussung durch den deutschen Rundfunk aus­gesetzt find. Die durchschnittliche TnaeSlänge der deutschen   Sendungen an beide« Prager   Sendern betragen nur 104 Minuten. In dieser knappe« Zeit müssen der Wetterbericht, die Rachrichten, daSI
UnterhaltungS. und BelrhrungSprogramm, die Börsenberichte, der LandwirtschastS-, Arbeiter- und Schulfunk dnrchgegeben werden. Es sei offensicht» lich, daß hiezu die Sendezeit zu kurz ist. So sei eS nur natürlich, daß die deutschen   Mitbürger die reichsdeulschen Sender hören. Man versündige sich an dem Gedanken der StaatStreue, der Demo­kratie und der republikanischen Gesinnung, wenn man die deutschen   Mitbürger der hakenkrrnzleri- schen Agitation im Rundfunk preisgebe. Es müsse auch überlegt werden, daß ein deutscher   Sender (ein größerer oder einige kleinere) wirtschaftlich stark aktiv fei« würde. Kein Mittel der modernen Propaganda sei geeignet, dem demokrattschen Ge­danken in Mitteleuropa   einen solchen Dienst zu er­weisen wie die Errichtung einer deutschen   Sende- station in der Tschechoftowakischen Republik.
Ausbau der Arbeitsvermittlung notwendig
Man schreibt uns aus Friedland i. B.: Schier unaufhaltsam geht die Kurve der Beschäftigungsmöglichkeit nach abwärts. So wur­den in den letzten Tagen gegen 70 Personen bei der Firma Anton Richters Söhne, Kammgarn­spinnerei A.-G. in M i l d e n a u, ganz ent­lassen. Der verbleibende Arbeiterstand dieser Firma kann nur dadurch beschäfttgt werden, daß ein Teil immer aus der Arbeit aussetzt. Weitere Entlassungen erfolgten bei der Firma Fg. Eisen- schiml, Textilveredlungsbetriebe in Fried­land, Kraus u. Hofmann, Feintuchfabrik in Friedland, Carl Dienert, Scheuertuchfabrik in Raspenau  , Fritsch u. Co., Weberei A.-G. in Ha in d o rf, sowie bei Ludwig Neumann, Gürtlerei in Neustadt a. T. Beachtenswert find weiter die vorgenommenen Beamtenent- laffungen bei der FirmaLanex", früher Jg. Klinger, Wollwarenfabriken in N e u st a d t a. T., und zwar deshalb, weil es sich bei den Entlassenen durchwegs um solche Personen handelt, die durch viele Jahre dem Betrieb« treu gedient und nun, da sie noch nicht pensionSreif sind, zum Bezüge der Arbeitslosenunterstützung verurteilt wurden. Eine Begründung der Entlassungen kann wohl nicht gut angegeben werden, zumal für diese zu ­
meist fremde Kräfte, angeblich auch aus der Wiener   Filiale, eingestellt wurden. Bei Neueinstellungen sowie bei notwendigen Entlassungen im allgemeinen zeigt sich immer wieder der Uebelstand, daß man bei diesen Ge­legenheiten nicht nur keine Rücksicht auf die so­zialen Verhältnisse eines jeden einzelnen Betrof­fenen nimmt, sondern dass bei solchen Massnahmen in den meisten Fällen der sozial schlechter Ge­stellte benachteiligt werde. Wie notwendig die Reorganisation der gan­zen öffentlichen Arbeitsvermittlung ist, mit wel­cher unter anderem auch die Pflichtanmeldung aller freien Arbeits- und Dienststellen eingeführt werden mühte, soll nachfolgendes Beispiel zeigen: Für den Monat November 1834 haben wir 6201 und für den Monat Dezember 1934 6350 Arbeitslose ausgewiesen. Im Dezember 1934 wurden bei allen Ge­meindeämtern des Bezirkes Erhebungen gepflo­gen, die ergaben, dass wir im Dezember 1934 eigentlich 8220 Arbeitslose hatten. Wenn man über den wahren Stand der Arbeitslosen und so- mft über die Wirtschaft ein zuverlässiges Bild haben will, dann muss die öffentliche Arbeitsver- mfttlung reorganisiert werden.
Vie politische Woche Die Ferialruhe, die nach den Plänen der Regierung bis Ende der kommenden Woche in Aussicht genommen war, hat durch den Anschlag der Grubenherren auf die Kladnoer Arbeiter eine plötzliche und sehr unerquickliche Unterbrechung erfahren. Die Herausforderung der Grubenherren war umso schlimmer, als sie unter Hintansetzung strikt gegebener Zusicherungen auf vorläufige Waffenruhe erfolgte und daher in allen Kreisen der Bevölkerung mit grosser Erbitterung ausge­nommen wurde. Die Bergarbeiterorganisationen, die mit dem Arbeitenministerium in ununterbro­chenem Kontatt stehen, aber auch die Regierung sind daran, die Maßnahmen vorzubereiten, die sich aus dem ganz unerhörten Borgehen der Gruben­herren ergeben. Die Situation kann als e r n st bezeichnet werden, wenn die Bergherren, die in­zwischen die vorbereitenden Anstalten zu den er­sten Entlassungen getroffen haben, nicht im letz­ten Moment Vernunft annehmen! Im übrigen hält der durch die Feiertage ver­ursachte kurze Stillstand im öffentlichen Leben noch inimer an. Er wurde von den Regierungs- Nellen dazu benützt, um die vielen Beschlüsse, die im Laufe des Monats Dezember gefasst wurden, zu verarbeiten und zu verdauen, vor allem aber um die grossen Arbeiten vorzu­bereiten. die sofort nach Aufnahme der Re- gierungs» und Parlamentsarbciten in Angriff ge­nommen werden sollen. Wir haben auf diese Ar­beiten, die vor allem auf wirtschaftlichem und so« zralem Gebiete liegen, wiederholt hingewiesen und wollen beute deshalb nur die brennendsten Fragen, die Arbeitsbeschaffung, Arbeits­zeitverkürzung und Sanierung der Selbstverwaltungskörper er­wähnen. Daneben läuft eine Menge anderer wich- tiger, vielfach umstrittener, aber auch stürmisch geltend gemachter Forderungen einher, deren Verhandlung und Entscheidung kaum wird auf die Dauer zurückgestellt werden können. Es wird also schon in der kommenden Woche, in der die politi- schen Arbeiten wieder ausgenommen werden, ar­beitsreiche und bewegte Tage geben, die auch die sozialistischen   Parteien wieder auf ihrem Platz finden werden. Die dringlichste Aufgabe, vor welche die Re­gierung augenblicklich gestellt ist, ist die Ar­beitsbeschaffung. Selbswerständlich darf sie sich absolut nicht auf den Bereich der öffent­lichen Arbeiten beschränken und lediglich als eine Sorge des Staates erklärt werden: Im Gegen­teil, hier fällt die primäre Aufgabe der Industrie zu, welche die guten Jahre reichlich frukttfiziert und deren Früchte ausgiebig eingeheimst hat und die nun endlich einmal wieder mit Hand anlegen muß, um den durch die Krise ermatteten Produk­tionsprozess wieder flott zu machen. Aber gerade im privaten Wirtschaftsbereich hat es bisher an der nötigen Jnittative vollständig gefehlt, so daß man ruhig sagen kann, dass die Herren Wirt- schastsführer aufderganzen Li nieder­sagt haben. Im Bereich der öffentlichen Arbeiten kommt es vor allem auf die Aufbringung der erforder­lichen Mittel über den Rahmen des Budgets hinaus an. Was hier zu sagen ist, wurde mit ganz besonderer Eindringlichkeit in den Budgetexposees der sozialistischen   Minister dargelegt. Doch haben afle Bemühungen zur Be­reitstellung der notwendigen finanziellen Kredite bisher noch keine greifbaren Resultate gezeittgt. Diese Bemühungen sind aber durchaus noch nicht abgeschlossen. Unermüdlich sind die sozialistischen  Parteien daran, dafür zu sorgen, dass es im Wege von Verhandlungen mit den entscheidenden finan- zieflen und wirffchaftlichen Stellen doch zu einem baldigen und greifbaren Ergebnis kommt. Inzwischen hat das Ministerium für öffentliche Arbeiten alle Vorsorgen ffw den Fafl der Flüssigmachung finanzieller "Kredite gettoffen und hat für sämtliche Zweige seiner Verwaltung, und zwar überdaSnor- maleBudgethinauS, ganz konkrete, durch fertiggestellte Projekte fundierte Anträge vorbe­reitet, die eS ermöglichen, sofort nach Eintreten günstiger Witterungsverhältnisse reichliche Arbeitsmöglichkeiten flott zu mache n, wenn ihm die notwendigen Mittel an die Hand gegeben werden. Auch das Fürsorge­min i st e r i u m trifft parallel die notwendigen Vorsorgen auf dem Gebiet der produkttven Ar­beitslosenfürsorge, wobei es gleichzeitig bemüht ist, bis zur Inangriffnahme der großzügigen Ar­beiten für die von der Krise in Mitleidenschaft ge­zogenen Arbeiter gewisse ergänzende Hilfsmass­nahmen durchzuführen. Wie sich auS dem Vorstehenden ergibt, gab eS für die sozialistischen   Parteien keinerlei Ferien. Sie hatten aUe Hände voll zu tun» um die not­wendigen Vorsorgen für die geplanten.Regie­rungsarbeiten zu treffen.
Konkubinat als Entlassunssgrund Wien  . DaS Amtsblatt der Stadt Wien   ver­öffentlicht eine neue Dienstordnung der Wiener  Angestellten, durch die verschiedene Neuerungen eingeführt werden. So lässt die neue Dienstord- nung die Entlassung eines Gemeindeangestellten ohne Angabe des Grundes zu. Konkubinat stellt gleichfalls einen Ent- lassungögrund dar, desgleichen auch der Berauch, eine ander« Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die bei der Stadtgemeinde Wien   angestellten Frauen werden im Falle ihrer Verheiratung gegen Ab­findung entlasse».
Freiheit und Vaterland Das Jägerndorfer.Volk", ein Tagblatt der Dhristlichsozialen deutschen   Vollspartei, beschäftigt sich wiederum mit unserer Stellungnahme zur Saar­abstimmung. Freilich sei für die Sozialdemokraten an der Saar   ein schmerzlicher Verlust zu erwarten, denn nach einer Rückgliederung hätten die sozial« demokrattschen und kommunistischen Organisattonen ihr« sichere Auflösung zu erwarten; aber man könne von der Sozialdemickratte nicht erwarten, dass sie über ihren engen Partei- und Klassenhorizont hin­aussehe. Die Christlichsozialen, durch die Hal- wng Jmbuschs und seiner Freunde keineswegs be­irrt, werfen also den saarländischen Sozialdemokra­ten vor, dass sie nicht Lust zum Selbstmord haben. Wie könnte man von den Fascistenfreunden denn gar erwarten, dass ste das nationale Motiv auch nur sehen wollen, von dem die Haltung der saarländischen So« zialdemokratte bestimmt ist. ES bleibt den Katho­liken unbenommen,.Kreuz und Heimsuchung" auf
Der alte Schmidt Man kennt die Geschichte vom sadistischen Professor zur Genüge. Manchmal wird sie über­trieben, oft beruht sie aber auf Wahrhett. Beson­ders Menschen, die später im Leben eine angesehene Stellung bekleiden, lieben es, ihr Martyrium in der Schule in den grauesten Farben zu malen, da­mit die unausgesprochene Pointe:«Na und trotzdem haben Sie soviel erreicht!", umso wir­kungsvoller ausfällt. Der«alte Schmidt" gehörte zu der Gruppe derOriginale", wiewohl wir nie so richttg lachen konnten über seine Eigenheiten. Dazu hatten wir viel zu großen Respekt vor ihm, seinem Wissen und seiner Persönlichkeit. Er war Mathematikprofeffor, Verfasser eines berühmten Lehrbuches und es ging ihm ein ge­fürchteter Ruf voraus. Schauergeschichten über seine Strenge und seine Prüfungsmethoden waren im Umlauf und wir saßen mit heimlichem Herz­klopfen und mäuschenstill in den Bänken der 4. Realschulklasse, als er zum ersten Mal hereintrat. Vom Sehen kannten wir ihn alle. Ein feiner Pro­fessorenkopf mit Augengläsern und graumelierten Haaren. Er trug jahraus, jahrein einen dunkel­grauen Anzug und wenn er zu besonderen Anläs­sen Schulfeiern, Akademien u. ä. im schwar­zen Gehrock erschien, so sah der alte Schmidt sehr komisch darin aus. Er fühlte jedoch die Lächerlich­kett seines Aufzuges und empfand sie auch eines Mathematikers unwürdig. Darum zog er kurz ent­schlossen in der nachfolgenden Lehrstunde den feier­lichen Schwalbenschwanz aus und seinen gewohn­ten, geliebten, abgeschabten und fleckglänzenden grauen Rock an, den er sich wohl in der Akten­tasche von zu Hause mitgebracht haben mußte.
sich zu nehmen, um durch die»Rückkehr ins Vater­land" demganzen Volk zu dienen",und sich dabei auf die Hoffnung zu stützen, dass sich das fascisttsche System ja auch einmal ändern werde. Es ist nicht an den voraussichtlichen Opfern des fascifttschen Re­gierungssystems, um der staatlichen Einheit willen ihre vollliche Freiheit zu opfern. Die Pflicht der Machthaber ist es, Methoden des Negierens anzu­wenden, die nicht die Vernichtung der Freiheit des Einzelnen und ganzer politischer Gruppierungen ja, noch mehr: di« Vernichtung der Kulwr und der moralischen Ansehens des ganzen Volles in sich schliessen. Und wenn die Subjekte der fascisttschen Politik nicht den Willen haben, sich zu wandeln das können sie bei Strafe ihres Unterganges nicht so ergibt sich daraus für freie Deutsch  « nicht die Pflicht, zu deren Objekten zu werden, sondern da» für zu sorgen, dass ihre freie Stimme auch für die geknechteten Brüder d«S eigenen Volkes weiter er­schalle und durch ihre männlich-ablehnende Haltung gegen daS System der Barbarei dessen Sturz her ­
beiführen zu helfen. Wir wählen nicht den jesui- ttschen Ausweg, zu sagen, dass die Freiheitskämvfer an der Saar in ihren Entscheidungen auf sich selbst gestellt sind, und sie vor sich selbst verantworten müs. sen: sie sind vor dem deutschen Voll für sie verant­wortlich. Dessen Bedürfnisse entscheiden allein, nichi aber die Bedürfnisse des fasristischen Reg-erungS- systemS, mit denen sich abzufinden der poutische Katholizismus im allgemeinen ja eine erstaunliche Fertigkeit aufbringt..Gegen Hitler   für Deutsch­ land  " lautet die Parole. An der Saar   aber genüg: eS nicht, den Mund zu spitzen, dort muh gepfiffen werden. In dem Kampfe, den die saarländischen Sozialdemokraten um ein fteieS Deutschland   führen, bekennen wir uns vorbehaltlos zu ihnen. Nicht nur als Sozialisten, sondern auch und vor allem alh Deuttche.' Sittlichkeitsskandal in Warnsdorf In Warnsdorf wurde ein großer Sitt­lichkeitsskandal aufgedeckt. Ein Arbeiter wird be­schuldigt, fett 1931 zu seiner jetzt sechzehn­jährigen Tochter unerlaubte Beziehungen unterhalten zu haben; der zwanzigjährige Bru­der des Mädchens wird des gleichen Verbrechens bezichttgt. Der Vater wurde verhaftet, gegen den Sohn wurde die Anzeige erstattet. Man vcrdäch- ttgt den Vater, auch seine vierundzwanzigjährigc Stieftochter mißbraucht zu haben. Die Sechzehnjährige hatte einen Geliebten, der ihr die Beziehungen w Vater und Bruder vorhielt, die öffentliches Geheimnis waren. Tas entrüstete Mädchen drohte, den Burschen wegen Verleumdung bei der Gendarmerie anzuzeigen. Dieser bekam es mit der Angst zu tun, lief zur Gendarmerie und ersuchte dort, man möge die durch ihn erfolgte Beleidigung deS Mädchens im Guten beilegen lassen. Die Gendarmerie ging der Sache nach und deckte den Skandal auf. Das Mädchen hat die Beziehungen zu seinem Vater bereits gestanden, bestreitet jedoch, mit dem Bru­der ein Verhältnis gehabt zu haben.
Ole Reichenberger Straßenreinigung verpachtet! Der.Freigeist" berichtet: Der unerhörte Schlag gegen die städtischen Straßenarbeiter ist vollbracht. Die Straßenrei- nigung der Stadt Reichenberg wird nun pachtweise an einen Privatunternehmer übergehen, der um 300.000 KL billiger arbeitet und trotzdem noch einen Gewinn erzielen will. Diesen Streich be­zahlen über 70 deutsche Arbeiter mit ihrer Exi­stenz, das bezahlen die Arbeiter durch erschwerte Arbettsbedingungen, das bezahlt die Oeffentlich- keit mit ihrer Gesundheit. So wollte eS diekern­deutsche" Mehrheit der Reichenberger Stadtver- tretung. Verantwortlich für den Entgang der 300.000 KL wollte der Bürgermeister jene ma­chen, die mit Nein zu sttmmen wagten. Trotz dieser an Nötigung grenzenden Haltung stellten sich 17 Vertreter gegen die Entkommunalisierung der städtischen Betriebe, sie werden dafür sicherlich die Verantwortung vor der Wählerschaft er­tragen. Bravo, Altstadt! Die Lokalorganisation der Partei in Altstadt b. Tetschen   hat in der letzten Zeit eine Werbeaktion durchgeführt und dabei 16 Mitglieder geworben. Tretet mit den Altstädtern in den Wettbewerb! Den neuen Kämp­fern gilt unser FreihcitSgrußl
Genau so, wie er das erste Mal die Klasse betreten hatte, so tat er dies nun vier Jahre hin­durch, da er unser Lehrer blieb: den Mantel um die Schultern gelegt, den schwarzen Hut schief und weltentrückt auf dem Kopf, die Hände in den Ho­sentaschen, den Blick wie abwesend immer vor sich und geradeaus gerichtet. Seeetzenl", sagte er dann mit einer gedehn­ten Sttmme, deren schläfriger Ton sich stets gleich blieb. Eine kurze Eintragung in das Klassenbuch und der Unterricht begann. Er begann damit, daß der alte Schmidt sich von seinem Stuhl erhob und nun langsam, aber unentwegt durch die Klaffe schritt. Ungefähr eine halbe Stunde. Wir waren derart verblüfft, daß wir uns nur anstteßen, ver­stohlen in uns hineinkicherten und gespannt den wetteren Verlauf der Dinge abwarteten. Es ge­schah aber nichts. Nach dieser halben Stunde be­gann Schmidt mit seinem Vortrag, in demselben Ton, wie erSeectzen" zu sagen pflegte. Er zer- dehnte jedes Wort. Hatte er das vorgeschriebene Pensum erledigt, schwieg er wieder, ohne seine Wanderung auch nur einen Augenblick zu unter« brechen. DaS also war der gefürchtete«alte Schmidt"?! Enttäuschung zeigte sich auf unseren Lausbuben­gesichtern und in den nächsten Stunden waren wir bereits merflich lauter und vertrieben uns die Zeit seines Spazierengehens mit allerlei Scher­zen. Papierkugeln flogen hin und her, kleine Tü­ten, deren Spitze mit Speichel tüchtig angefeuchtet worden waren, stiegen als niedliche Aeroplane zur Zimmerdecke und blieben wie lustige Gebilde der Tropfsteinhöhlen über dem Gewirr der unterdrück­ten Stimmen und Bewegungen hängen. Der alte Schmidt schien von all dem nichts zu merken. Ein alter Bär, ging er ruhelos auf und ab, kaute an seine» Fingernägel» und sagte manchmal:
«Ruuuhe..." Aber nicht etwa strafend oder gar erregt, sondern schläfrig, gedehnt, gutmütig und uninteressiert. Als der Lärm gar zu arg wurde, meinte er so von obenhin:«Da muh ich bald zu prüfen an­fangen." Stieg auf das Podium, nahm ein ab­gegriffenes Lederbüchlein aus der Hinteren Hosen­tasche und begann zu prüfen. Immer der Reihe [ nach und getreu dem Alphabet. Und wenn nicht der Schuldiener das rettende Klingelzeichen gege­ben hätte, so wären nur wenige demBlutbad" entronnen. Das ging alles so schnell und ruhig, daß einer mitnicht genügend" schon wieder in der Bank saß, ehe er sich erhoben hatte. Wie glück­lich war ich, daß mein Buchstabe erst weit rück­wärts kam. Biele Stoßgebete sttegen zu den hän­genden Tüten empor und Schwüre: Nur heute soll ich nicht drankommen l Nur dies eine Mal soll mich noch ein güttges Schicksal verschonen!, entrangen sich meinem angstgefolterten Herzen. Nach dieser Strafexpedition herrschte für lange Zeit Ruhe und der alte Schmidt konnte seine Wanderungen ungestört forffetzen. Wir hatten uns daran gewöhnt und wußten, daß er nicht zu der Kategorie jener hilflosen Opfer gehörte, deren Toben von der Klaffe nur mit einem Stnrmge- lächter quittiert wird und die die Zielscheibe un­serer Spässe waren.(Wir hatten deren in den Flegeljahren eine erschreckliche Menge...!). Mit der Zeit, als er uns dieserart Respett eingeflötzt hatte, hielt er uns philosophische Vorträge, zitierte die griechischen Weisen, schwärmte von Aristoteles  , Plato  , Einstein und nannte die Mathematik die erste, einzigste und vornehmste aller Wiffenschaf« ten.(DaS leuchtete denen von uns, die sich gleich mir hart mit den Formeln und Gleichungen her­umbalgen mußten, nicht so ganz ein. Umsomehr, da er durchblick«« liess, daß jeder große Geist ei»