Seite 4Donnerstag, 24. Jänner 1935Re.«»TagcsncuiglfcNenEin falscher PriesterMitglied der Diplomfälscher-Bande.Prag. Vor einigen Tagen wurde eine Gesellschaft von vier Betrügern verhaftet, welche gefälschte Diplome und Pässe verkaufte und auchsonst allerlei dunkle Geschäfte trieb. Nunmehrwird die Reihe der Verhafteten um einen Mannbereichert, dessen Gaunereien, wie„Telegraf"meldet, nicht leicht ein Seitenstück haben dürften.Es handelt sich um den jetzt 73 Jahre altenDoktor der Philosophie Emanuel Neumann, dereinst römisch-katholischer Pfarrer war, später zurtschechoslowakischen Nationalkirche übertrat, imJahre 1931 aber auch dort seines Priesteramtesentsetzt wurde. Neumann hat nämlich bei Feuerbestattungen geistliche Assistenz geleistet und dieGebühren für sich behalten, obwohl er sie hätte derKirchengemeinde abliefern sollen. Trotzdem tauchteer immer wieder bei Begräbnissen im Krematorium als Priester auf. Er bediente sich dabeieiner Liturgie, die seine eigene Erfindung warund ebenso unterschied sich seine Amtstracht von derKleidung der Geistlichen aller anderen Bekenntnisse. Infolgedessen scheint keine Religionsgemeinschaft es für notwendig besiinden zu haben, sichnäher für den sonderbaren Geistlichen zu interessieren. Die tschechoslowakische Kirche gab nachNeumanns Verhaftung eine Erklärung heraus, inwelcher sie die Verwunderung darüber ausspricht,daß die Krematoriumsverwaltung das TreibenNeumanns geduldet hat.Zwei weitere Mitglieder des Konsortiumsverlegten sich auf Jnseratenschwindel. Sie gründeten eine Firma, deren einziges Geschäft darin.bestand, daß sie Inserate vergab. Der eine der beiden Gesellschafter kassierte bei den Zeitungen dieProvision für die Inserate ein, während derandere sie schuldig blieb. Nicht ganz klar ist nochdie Beteiligung eines Mannes, der in der PragerUnterwelt den Beinamen„Der schöne Georg"trug und eines Architekten(mit selbstverliehenemTitel), dessen Spezialität die Fälschung von Einfuhrbewilligungen gewesen zu sein scheint.Untereinander haben sich die Mitglieder derBande keine Konkurrenz gemacht. Nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung hatte jedersein Spezialgebiet, so daß sie alle zusammen eineArt Trust bildeten, der alle Arten, Leute umsGeld zu bringen, nach Möglichkeit ausnützte.Der Mörder vo« Tacho«in Bayern verhaftetMünchen. In Waldsassen wurde der 34-jährige Karl S ch u e b l wegen eines Pahver»gehens verhaftet.’ Dabei wurde festgestellt, daßSchuebl der Täter ist, der in der vorigen Wochein St. Katharina bei Tachau in der Tschechoslowakei den Landwirt Josef Stelzner erschossenund dessen Frau und Tochter erschlagen hat.Schuebl befindet sich im Amtsgerichtsgefängnisin Waldsassen.Sowjetrusstsche InhumanitätLeningrad. Am Mittwoch begann hier einProzeß gegen sieben Eisenbahnbe-a m t e, denen vorgeworfen wird, anfangs Jänner an der Strecke Moskau—Leningrad ein großes Eisenbahnunglück verschuldetzu Hachen, das 27 Tote und 60 Verletzte, forderte.Der Prozeß dürfte voraussichtlich drei Tagedauern. Die Anklage verlangt die Todes-ftrafe gegen drei Beamte. In derAnklageschrift wird den Beamten vorgeworfen,durch Unvorsichtigkeit und Unkenntnis der technischen Vorschriften das Unglück herbeigeführtzu haben.Kältewelle i«Zehn jugoslawische SoldatenerfrorenBelgrad. In der Nähe von Podgorica(Montenegro) wurden am Dienstag die Leichenvon sieben jugoftawischen Soldaten aufgefunde»,die auf einer Uebung von einem Schneesturmüberrascht worden sind. Drei weitere Soldatenwerden noch vermißt. Man befürchtet, daß sieebenfalls erfroren sind.Rew Orleans. Die Kältewelle in den Vereinigten Staaten hat nunmehr auch auf die Südstaaten übergegriffen. Schnee st ürme undUeberschwemmungen verursachten großeSchäden, die man auf mehrere MillionenDollars beziffert. Die Kälte hat auch berestszahlreiche Menschenopfer gefordert.Ganze Viehherden sind der Kälte zum Opfer gefallen, viele Schiffe sind vom Sturm und ihrenAnkerplätzen losgerissen worden.SS Todesopferder amerikanischen FrostwelleNew Nork. Die starken Fröste in den Vereinigten Staaten haben 65 Opfer an Menschenleben gefordert. Auch in den südlichsten GegendenTürkinnen erstmalsParlamentswählerinnenParis. Nachrichten ans der Türkei zufolge haben türkische Frauen zum ersten Mal anden Parlamcntswahlen teilgenommen. Fünfzig Frauen kandidieren für die Volks-Partei» deren Führer der Präsident der Republik Kemal Atatürk ist. Zahlreiche Wählerinnenbegaben sich««verschleiert und ineuropäischer Kleidung zur Wahl.Bor den Wahllokalen riefen sie in feurigenR e d e n zur Wahl Ghazis auf. Die Abstimmungdauert drei Tage und ist i n d i r e k t. Die Wählerbezeichnen das Wahlkollegium, welchesin den nächsten Monaten die Nationalversammlung wählen wird.Alkohol und Tabakals UnglückbringerOsterode. In der S ch e u n e eines Land-Wittes in Osterodebrach Feuer aus, dem dasGebäude zum Opfer fiel. Bei Beginn der Löscharbeiten wurde ein« grausige Entdeckung gemacht.Am Eingang der brennenden Scheune sah man diev e r k o h l t e L e i ch e eines Mannes, beidem man eine leere Branntweinflasche und eine Tabakspfeife fand.Es handelt sich bei dem Toten um einen früherenrussischen Kriegsgefangenen, der in Deutschlandverblieb und sich in Osterode als Schuhmacherniedergelassen hatte. Im Rausch hatte er sich mitbrennender Pfeife in die Scheune gelegt und sodas Unglück verursacht.„Arbttterwohnungeu". An der Strecke Bo-denbach—Aussig kann man ein düster-graues Gebäude sehen, das einen recht ärmlichen Eindruckmacht. In großer Schrift steht an der Hausfrontzu lesen:„Arbeiterwohnungen". Manwüßte auch ohne diese Aufschrift, daß es sich umWohnungen handelt, die ein Fabriksunternehmen„großmütig" für seine Arbeiter gebaut hat. DieDürftigkeit der Anlage beweist es.— Diese Ar-beiterwohnungen haben alle das gleiche Gesicht,ob es sich etwa um die Werkswohnungen beidrei Erdteile«ist die Temperatur mehrere Grade unter denNullpunkt gesunken. In Texas sind infolge derKälte einige tausend Stück Rindvieh verendet.Tunis. Auch Tunis wird von einer Frostwelleheimgesucht. Es ist starker Schneefall eingetretenund an einigen Stellen liegt der Schnee 35 Zentimeter hoch.Innsbruck. Der 28. Jänner war in diesemWinter bisher der kälteste Tag in Tirol. Innsbruckverzeichnete eine Temperatur von minus 20 Grad;aus dem unteren Jnntal wurden bis zu m i n u s30 Grad gemeldet.Aber in der Eifel blüht der GinsterBitburg(Bezitt Trier). Aus Neuerburg ander luxemburgisch-deutschen Grenze wird bettchtet,daß dort an einem Waldrand in 350 Meter Höheinfolge des milden Wetters der Ginster in vollerBlüte steht. Die ältesten Bewohner des Ottes können sich an ein so seltenes Ereignis der Ginsterblüte im Jänner nicht ettnnern. Es handelt sich beidem blühenden Ginster nicht um den gewöhnlichenBesenginster, der in der ganzen Eifel zu findenist, sondern um eine seltenere Matt, den sogenannten Stachelginster. Im allgemeinen stelltsich die Blüte erst um die Pfingstzeit ein.Schächten oder Glasfabriken handell. Besiehtman diese„Wohnungen" näher, so entdeckt mannoch mehr Mängel als von außen: meistens fehlen alle sanitären Einrichsiingen. Die Gnade, diedie Kapitalisten solcherart ihren Arbeitern gewähren, besteht darin, daß das Leben der Kinder, die in diesen Höhlen aufwachsen müssen,ständig gefährdet wird.— Man denkt, wenn mansolche„Siedlungen" erblickt, unwillkürlich an dieWohnungen, die die Gemeinde Wien untersozialdemokratischer Herrschaft gebaut hat. Anden Zustand gewöhnt, daß die Kapitalisten fürdie Arbeiter gerade das schlechteste für gut genughalten, hätte man kaum geglaubt, daß die sonnigen Wohnräume, daß die großen Wohnpalästefür Arbeiter besttmmt sind. Man hätte esauch kaum geglaubt, wenn es große Aufschttstenverkündet hätten.— Man merkt eben auch ohneAufschttsten, welch ein Unterschied Mischen dervon Sozialdemokraten und den von den Kapfta-listen betriebenen Arbeiter-Wohnkultur besteht.Staatliche SkikurS in Petzer. Der Lehrgangbeginnt Sonntag, den 27. Jänner, um 7 Uhrabends bei.Kohl, Zehgrund Nr. 75. Der beschränkten Zeit wegen müssen schon Sonntag Vorträge angesetzt werden(Vorteile einer Einheits-Skilehrweise, Zdarfly-Technik). Wer in Freiheitankommt, benützt den Renner-Autobus gegen Ermäßigung.Der Fremdenverkehr. Die Bewegung der dieStaatsgrenze überschreitenden Reisenden wirddurch die Grenzerhebung der Reisenden mit Reisepaß verläßlich erfaßt. Die Einreise von Ausländern hat sich im D e z e m b e r vorigen Jahres um27.1 Prozent gegenüber November erhöht. DieAusreise unserer Staatsbürger ins Ausland ist imDezember um 33.8 Prozent höher als im November. In die Republik kqmen im Dezember 112.457Ausländer, während in der gleichen Zeit 100.003fremde Staatsangehörige abreisten. In das Ausland gingen im Dezember 91.548 tschechoflowa-kische Staatsangehörige ab und 88.953 kehrtenzurück. In der Zeit vom Feber bis Dezember 1934kamen annähernd 1.5 Millionen Ausländer zuuns, 1,415.000 Ausländer reisten ab und bei unsverblieben von dieser ganzjährigen Frequenz ungefähr 93.000 Ausländer. In der gleichen Zettreisten in das Ausland beinahe eine MM«!tschechoslowakische Staatsangehöttge ab, ungefähr976.000 Personen kehrten zurück.Verbot von Postnachnahmesendungen und Postaufträgen a«S der Tschechoslowakei nach Deutschland.Mit fofottiger Gültigkeit ist es verboten, aus derTschechoslowakei nach Deutschland Postnachnahmesendungen und Postausträge zu senden.Blutige Rache. In der Gemeinde Koskovcebei Humanne drang ein gewisser StephanH r o m h in die Wohnung der 33jährigen Land-wittin Anna Jenkikova ein und gab siebenGewehrschüsse auf sie und deren TochterSusanne ab. Die Jenkikova mußte sofott insKrankenhaus gebracht iverden, wo ihr ein Armamputiert wurde und auch ihre Tochter erhielt schwere Verletzungen. Der Täterkonnte von der Gendarmerie verhaftet werden undgab beim Verhör an, die Tat aus Rache begangen zu haben.Schuschnigg und die tschechischen Arbeiter.Die Bundespolizeidirektion in Wien hat die Beschlagnahme des Vermögens der Arbeiterturnvereine„Omladina" im Hl. Bezirk und„S v o r n o st" im Xll. Bezirk angeordnet.(Diebeiden tschechischen Vereine waren im Zusammenhang mit den Feberereigniffen aufgelöst worden.)Abrüstung der— Pferde. Aus Londonwird gemeldet: In der neuen mechanisierten sechsten Jnfantette-Brigade, deren Bildung demnächstettolgen wird, wird es überhaupt keine Pferdemehr geben. Dies ist der erste derartige Fall ineinem größeren brittschen Truppenkörper. DieZugpferde werden durch leichte Traktoren, gewöhnliche Kraftwagen und Lasttraftwagen ersetzt werden. Zur Abwehr von Tanks wird die BrigadeSelbst-Ladegeschütze von 2 Zentimeter-Kaliber erhalten, deren Geschosse in einer Entfernung von500 Meter Panzerplatten von 14 MillimeterDurchmesser und in einer Entfernung von 150bis 200 Meter Panzerplatten von 25 MillimeterDurchmesser zu durchschlagen vermögen. Die 6.Infanterie-Brigade wird ein Brigade-Hauptquar-tter mit einer größeren Anzahl Kraftwagen, emMaschinengewehrbataillon mit 36 Maschinengewehren und 16 Tankabwehrgeschützen sowie dreiInfanterie-Bataillone mit je vier Müttern von7.5 Zenttmeter und 52 leichten Maschinengewehren umfassen.Gesunken, ertrunken. Ein japanischer Dampfer ist in der Nähe von Horischima in einem schweren Sturm gekentert und gesunken. Elf Mannder Besatzung werden vermißt. Ein weitererjapanischer Dampfer gettet in einem Hafen aufder Insel Hokkaido in einen Taifun und sankebenfalls. Man befürchtet, daß neunPerso-n e n, die vermißt werden, den T o d in den Fluten gefunden haben.Abgrstürzt und ertrunken. Im japanischen Marineflughafen Saebo ist am Dienstagein Flugzeug abgestürzr. Alle d r e i I n s a s s e nertrank e n. Ein wetteres Flugzeug mußte notwassern. Seine Besatzung sandte rechtzeitig SOS-Rufe und konnte so errettet werden. Das Flugzeug versank.Vom Rundfunkempfehlenswertes aus den Programmen:Freitag:Prag, Sender L.: 10.05: Deutsche Nachttchten,10.15: Schallplatten, 11.05: Schulfunk, 12.10:Operettenmusik, 13.35:, Arbeitsmarst, 13.45: Wanderlieder auf Schallplatte«, 17: Konzert des Bläserquintetts, 18.20: Deutsche Sendung: Sporworschau,18.45: Arbeitersendung: Aktuelle zehnMinuten, 19.10: Orchestettonzett, 21: Konzert dertschechischen Philharmonie, 22.15: Tanzmusik. Sender S.: 14.24: Kttegelstein: Was haben wir inamerikanischen Schulen gesehen? 14.35: Altttalie-nische Lieder, 15: Deutsche Sendung: Die Geschichtevon^ Aucassin und Nicolette.— Brünn 13.40:Operettenmusik, 18.20: Spottberichte.— Mährisch-Ostrau 18: Deutsche Sendung: Salten: Schöne Seelen, Lustspiel.zwar durste man durchaus nicht erwatten, daßThomas Mann, was zu tun er auch express isvervis ablehnte, versuchen würde, anzugeben, wieRichard Wagner sich über unsere Zeit äußernwürde; aber etwas von Manns Ansicht über dieBedeutung Wagners und seines Werks für unsereZeit, für die neuen Generationen hatte man l ochzu hören gehofft. Wenn Mann sagt, daß jederZukunstswille Wagner für sich in Anspruch nehmen könne, so ist das zwar sicherlich ttchtig, hätteaber unseres Erachtens dennoch eines Kommentars bedurft. So müßig es wäre, darüber nachzudenken, wie Richard Wagner zum nationaltollgewordenen Haus Wahnftted und zu jenen Natio-nalisten stünde» die aus dem Revolutionär von1848, aus dem Flüchtling, dem Verbannten, demAntikapttalisten, dem Freihettsucher eine Attnationalsozialistischen Kunstgott zu machen versuchen, so fruchtbar könnte es doch sein, aus Willenund Werk Wagners Hessen Beziehungslosigkeit zuallem darzustellen, was, jenseits der national«sozialistischen Phrase, llnllarheit und Unwahrheit,nationalsozialistische Tat geworden ist. WollteThomas Mann an diesem Punkte seinen vor zweiJahren vollendeten und in seiner Att vollendetenEfley fortsetzen(etwa auch den philosemitischenAntisemiten Wagner näher erklären), ko wäre daseine Krönung seines Verdienstes um Wagner,eines Verdienstes, das auch bei diesem Vortrag znAnfang und zu Ende durch minutenlangen Beifallund während des Vortrags durch eine bewun-derungs- und verehrungsvolle Aufmerksamkeitschönsten Dank erhielt.UGThomas MannüberRichard WagnerRichard Wagner als die größte deuffche Kulturerscheinung des 19. Jahrhunderts mtt zugleichstärkster internationaler Wirkung reizt noch immerdie bedeutendsten Köpfe zur Betrachtung undDurchleuchtung^ Thomas Mann, der mit Rechtberühmteste unter den zeitgenössischen deuffche«Schriftstellern, sieht sich fett Jahrzehnten zu Wagner und seinem Werk mächtig hingezogen, und wieder geist- und herzbetonte Dank eines glücklichLiebenden wirst der Essay, den Thomas Mannvor Mei Jahren, etwa um die Wende von Deutschlands Geschick, niedeffchrieb. Da diese Liebe nichtblind und taub, sondern scharfäugig und hellhörigist(und darum so ungemein fruchtbar) und weilweiter gerade die neuen Teutonen sofort ihreszwangsläufigen Mißverständnisses der Mann-»schen Wagner-Analyse sich freuten— Wagner istunter Deutschen ein Mißverständnis, sagt Nietzsche—- so liegt schon in der Tatsache, daß ThomasMann nun(vorgestern, in der Prager„Urania")seinen Essay im übervollen großen Saale las, ttnmehr als kulturpolitisches Bekenntnis des Manns,dessen Bücher in Hitlerdeutschland nicht verbotensind, der es aber freiwillig verließ.Thomas Mann sucht die Gestalt Wagners vorallem aus den zwei Wurzeln der Psychologie undder Mythik begreiflich zu machen und schildett dieEinzigartigkeit dieser Erscheinung in dem wun dervollen Bild, daß Wagners Musik, obwohl be-Irechnet, bedacht, hochintellestuell und hochkulturell!dennoch wie ein Geysir aus vorkulturellen Urzeiten hervorzubrechen scheint. Es fällt das imersten Augenblick gewagt erscheinende Wort vom„Dilettantismus" Wagners sowohl in den einzelnen Kunstgattungen als auch in seiner Idee vomGesamtkunstwett, das dann aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen aus Wildwüchsigkeit zumonumentaler Größe sich erhebt. Andere nannten dieses beispiellose Phänomen„unklassifizierbar", Thomas Mann sucht es als aus der vonWagner zu tiefst» gefühlten Not seines Jahrhunderts zu ergründen, durch Wagners Wesensgemsschaus Zartheit und Zähigkeit, aus Melancholie undUeberschwang, aus Deutschheit und Mondänität,aus einem ewigen zwangvollen Ausgleichssuchenzwischen Lebens-, Liebes- und GlückshungerWagners einerseits, aus seinem Drang zur Tat,zur Gestaltung, zur künstlerischen Erlösung anderseits. Viele Erkenntnisse von Wagners Schaffenund Wirkung gießt Thomas Mann in eine gedanklich und sprachlich neue Form, die allein schon,selbst künstlerisch vollendet, auch dort zum Aufhorchen zwingt, wo eS sich um schon durchdachteGefilde handelt. Man könnte sagen, daß ThomasMann da sich selber als ein Stück Wagner, ja alsfast aufgesogen vom Wagnerschen Gesamtkunstwerk erweist— so sehr glaubt man etwa den„Ring" wieder zu erleben, wenn Mann von ihmspricht; dazu kommt, daß Thomas Mann anetlichen Stellen in seiner Wagner-Erfülltheit zuglühen beginnt und sich dann wie ein Priester derWagnerschen Kunst dem Publikum mitzuteilenvermag. Und man spütt da, wie Thomas Mannes gelingt, durch sein Wott, durch seine Hingabe,durch seine grenzenlose Verehrung für WagnerWagnermüdigkeit zu brechen und gerade diejenigenzu ihm zu führen, die vielleicht nicht um Wagners,sondern um Manns willen zum Vortrag kamen.Eine untettrdische Verbindung ist da zwischenThomas Manns Ueberzeugungskraft und demZauberstab Wagners, des„Dilettanten", sagen wirdes Außer-Zünftigen, der gerade auch die Unmusikalischen auf seine Seite zu bringen verstandund vermag.Sehr vieles aus dem persönlichen LebenWagners hellt Mann auf, des Romantikers, des„unernsten" Menschen, dessen Art jeden möglichenRückschluß auf eäsarischen Machtwillen Lügenstraft; mü deutlichen Strichen rückt Mann vonjenen ab, die aus einzelnen reaktionären, großbürgerlichen Zügen Wagners auf dessen allgemeineRückwärtsgewandtheit schließen möchten; klarformt sich das Bild eines ganz auf Erneuerungund Befreiung gerichteten Künstlertums. WoThomas Mann steht und wo nach seiner Ueber-zeugung Richard Wagner steht, wird offenbar,wenn jener sagt, daß diesen heute wahrscheinlichder Schimpf„Kulturbolschewist" treffen würde,und wenn er daran ettnnert, daß Wagner, derHanswurst, Lichtgott und moderner Sozialrevolu«tionär in einem war, sein Theater einer klassenlosen Gesellschaft geschenkt wissen wollte.Und dennoch vermeinte man, in dem wundervollen Bau, den Thomas Mann über der Erschei-I nung Wagners aufrichtete, eine Lücke zu erkennen;