Nr. 52

SamStag, S. März 1935

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Bürgerliche und sozialistische Revolution

Dramatisch, sich selbst in ihrem Pathos im-' mer wieder übertreffend, ihre eigenen Effekte ständig überbietend, vollzog sich die bürgerliche Revolution in Spanien . Zn ihrem Ausgang war sie von einem buchstäblichen Feuergeist beseelt, die Flammen der Empörung griffen auf die Klöster über, die Herzen entzündeten sich und den alten Mächten wurde ein höllisches Feuer gemacht. Spa­ nien stand in Flammen.' Der Antiklerikalismus, das legitime Kind des allmächtigen Katholizisnuw in Spanien , der nach Verweltlichung strebende Geist des revolutionären Bürgertums und Pro­letariats, sah in den Klostern Symbole der aus Unterdrückung beruhenden.Ordnung". Der Mensch entdeckte wieder ein Stück seiner selbst und das kann immer nur auf Kosten der Götter geschehen. Aber die spanische bürgerliche Revolution war noch kurzlebiger al« die bürgerlichen Revolu­tionen eS ohnehin sind. Ihr Pathos verflog rasch, Halbheiten, Feigheiten und Schwächen zeigten sich viel früher als in den vergangenen bürgerlichen Revolutionen, und schon nach drei Jahren war das Feuer erlöschen das der Herzen und das der Klöster. Mit einer großen Mehrheit ging die katho­lische BolkSaktion aus den Wahlen hervor. Der Höhepunkt der Revolution war erschreckend schnell erreicht, ein jäher Umschlag erfolgte, und nun ist daS Land in einen schrecklichen Katzenjammer ver­fallen. Ungeheurer Wandlungen sind die Massen in bewegten Tagen fähig, der phantastisch schnelle Wechsel der Szenerie hält uns in atemloser Span­nung. In Jahren läuft vor uns ein Kampf ab, der früher mehrere Jahrzehnte währte. War die fran­ zösische Revolution wegen ihrer Gründlichkeit die klassisch« politische Revolution des revolutionären Bürgertums, so ist die spanische Revolution klas­sisch in dem Sinne, daß sie ganz klar erkennen läßt, warum die bürgerlichen Revolutionen in unserer Gegenwart in der Gründlichkeit zugleich ihren Un­tergang erblicken, und in Halbheiten steckenblei­bend, anderen Kräften di« Führung überlassen müssen. Das Bürgertum sieht sich von vielen Sei­ten her bedroht, von der jungen Arbeiterschaft, von entscheidenden Teilen der Armee, von der radika­len Intelligenz, die bestrebt ist, ihre Vision von der neuen bürgerlichen Welt radikal zu verwirk­lichen, und nicht zuletzt von den stärkeren Wirt­schaftskräften der Well. Die heutigen verspäteten bürgerlichen Revolutionen vollziehen sich aus all diesen noch näher zu erörternden Gründen sehr viel anders als die früheren. Schon Deutschland be­schritt andere Wege als Frankreich und England zuvor. Marx und Engels glaubten seinerzeit sogar, daß daS deutsche Bürgertum überhaupt nicht in der Lag« sein werde, seine eigene Revolution zu machen, und daß dies nur die Aufgabe der Arbei­terklasse sein könne. Die bürgerliche Revolution vollzog sich in Deutschland trotzdem, aber in der Weise, daß das Bürgertum allmählich in seinen Staat hinein­wuchs und seine Interessen nur schrittweise durch­setzte. Allerdings ist das deutsche Bürgertum bis auf den heutigen Tag nicht von den Resten des Feudalismus befreit, was eine der Hauptursachen des nationalsozialistischen Sieges ist. AuS seiner

Lage heraus war es aber gezwungen, mit den alten Mächten zu paktieren. Seine geringe revo­lutionäre Durchschlagskraft hat andererseits die Folg« gehabt, daß der preußische Militarismus neben dem Bürgertum stets eine bedeutende Macht war. die von jenem nicht immer wohltuend ge- spü-t wurde. Es ist nun ungeheuer interessant, daß sich heute in Spanien in mancher Hinsicht verblüf­fend ähnliche Dinge abspielen. Die Armee beginnt mehr und mehr auch in Spanien die Rolle eines Staates im Staate zu spielen.,Solange das Bür­gertum aber revolutionär kämpfte, stand an der Sp'tze des Kampfes das Proletariat, das sich jedoch nickst mit den bürgerlichen Zielen begnügen konnte; darum wurde der Block von Sozialisten und Repu­blikanern überraschend schnell gesprengt. Der größte Teil des Bürgertums ging mit dem Katho­lizismus, paktierte mit dem Feudalismus und den alten Mächten, um dem Ansturm derjenigen ge-c wachsen zu sein, die den revolutionären Prinzi­pien treugeblieben waren. JerrouS, seit 40 Jah­ren Borkämpfer der bürgerlichen Revolution, von HauS aus antiklerikal» Führer der größten bür­gerlichen Partei, geht mit Gil Nobles, dem Führer der Katholiken, ja, selbst mit Monarchisten» ver­zichtet auf entscheidende Prinzipien und entschließt sich gegen die in Opposition verharrende linke Gruppe deS Bürgertums, in erster Linse von der Intelligenz um A z a ü a, dem ehemaligen Mini­sterpräsidenten geführt, vorzugehen. Diese linken Republikaner waren mit den Sozialisten verbün­det. Kein Zufall, daß sie so radikal waren: sie haben sich an der Literatur des aufstrebenden Bür­gertums Deutschlands und Frankreichs berauscht, sie haben sich dieselbe Harmonie ersehnt, wie einst die anderen und wurden noch bitterer ent­täuscht. Der Staat wurde so ganz anders als sie dachten, schon im dritten Jahr der Republik war diese selbst diese noch! tödlich bedroht. Bürger nehmen Kurs auf Reaktion! Warum? Nun, ein großer Teil des spanischen Bürgertums, das nicht von der Literatur der anderen, sondern in erster Linie durch sein soziales und ökonomisches Bedürfnis in die Reihen der Gegner der alten Mächte getrieben wurde, und ökonomisch verwur­zelt war, hat die Wirklichkeit bester gekannt als die Intelligenz. Die wirklichen Unternehmer hatten mehr zu verlieren als die Intelligenz, und sie waren vielfach auch schon eng mit alten Mächten verbunden. Die Intelligenz klagt die Gruppe Ler- roux, klagt also den größten Teil des spanischen Bürgertums an, weil dieses mit den alten Mäch­ten pakttert und»die Revolution feige verrät". Sympathisch diese Töne! Aber klüger sind dennoch die anderen! Hat die deutsche Intelligenz, ein­schließlich Marx und Engels damals nicht ähnlich gesprochen? Ist eS nicht noch heut« die Auf- faffung des Sozialismus, daß die deutsch ? Bour­geoisie feige war und darum nicht ihre Revolu­tion zu Ende führte? Doch in Wirklichkeit erheischte das ihr wohlverstandenes Klaffenintereste. Bebtl sagte einmal, was muß ich für eine Dummheit ge­macht haben, wenn mich meine Gegirer so loben! Drehen wir das um: was für eine Klugheit muß daß deutsche Bürgertum begangen haben, wtnU wir heute darüber entsetzt sind!

Ehe wir in detaillierte Betrachtungen ein­treten, stellen wir zum befferen Verständnis zu­nächst ganz grob folgende Thesen auf: 1. In Spanien vollzieht sich die bürgerliche Revolution. 2. Sie vollzieht sich auf einer sehr hohen Stufe der kapitalistischen Entwicklung und ist da­her schon in ihren Anfängen halb und schwächlich. 3. Die bürgerlichen Kräfte fürchten die Bun­desgenoffen links von sich, und sind sehr schnell ge­zwungen, auf die alten Kräfte zurückzugreifen, deren Ueberwindung zugleich ihr Bestreben ist. 4. Während z. B. das Bürgertum in Frank­ reich aus eigenen Kräften eine neue Armee zu ent­wickeln in der Lage war, ist das spanische Bürger­tum nicht nur unfähig dazu, sondern muß oben­drein noch die bestehende Armee der alten Gesell­schaft zu Hilfe rufen und dafür freilich eine Pro- i Vision in Gestalt wichttger Programmpunkte zahlen. ö. Wenn Ärch im nationalen Maße sehr schwach und rückständig, so ist das Proletariat lokal jedoch ein bedeutender Faktor.(Asturien , Katalo­ nien usw.) und teilweise sehr modern organisiert. (Durch die Produktionsform.) Im revolutionären Kampf des Bürgertums ist«S einerseits eine un­entbehrliche Kraft, andererseits aber auch der Wi­derspruch zum Bürgertum und als solcher von eigener Gesetzmäßigkeit. 6. Dadurch, daß ein großer Teil der spani­ schen Industrie in ausländischen Händen liegt, ent-

Prag . Die Schwurgerichtsverhandlung vom Freitag«S ist die letzte dieser Schwurgerichts­periode betraf einen besonders tragischen Fall. Angeklagt war der 21jährige Drechsler Karl F. aus Dubi bei Kladno und die Anklage beschuldigt den jugendlichen Angeklagten, den eigenen Vater g e t.ö t e t zu haben» Auch die Anklage unterstellt aber dem Angeklagten kein« Mürdabsicht, sondern lautet nur auf das Verbrechen deS Tot­schlages. Der Angeklagte Karl tz. ist der Sohn de» Schlos­sers Anton F., der in den Kladnoer Betrieben der Poldjhütte angestellt war. Die Familie zählt« sechs Personen und das Familienleben wäre ganz geord­net gewesen, wenn nicht der Vater sich allwöchent­lich betrunken hätte, Ich hab« meinen Vater lieb gehabt, aber wenn er sich betrank, dann kannte er fich sticht., ,* Diese unter aufrichtigen Tränen abgegebene Er­klärung des, Angeklagten bietet den Schlüssel zu die­sem traurigen Fall. Das Beweisverfahren ergänzte das Bild. Der Vater verwandelte sich in ange­trunkenem Zustand wirllich in, einen gefährlichen Menschen. In dieser Verfassung provozierte er Streitigkeiten, mißhandelte und bedrohte seine Frau und seine Kinder und e» war nicht ratsam, ihm zu solchen Zeiten zu begegnen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Tra« gödi« zu beurteilen, die sich am 6. Jänner d. I. in der'Familie abspielte. Der Angeklagte kam von seiner Aicheitsschicht um 10 Uhr ahendS nach Haus?. Sein Vater., der in- der Frühschicht arbeitete, hatte den Nachmittag über stark getrunken und befand sich in der bekannten gefährlichen Verfastung. Als der Sohn heimkehrie, saß er beim Radio, das er trotz der späten Stunde laut ertönen ließ. Der An­geklagte machte den Vater aufmerksam, daß die Nachbarn sich durch die laute Rundfunkmusik gestört fühlen würden. DieS war auch schon das Signal zu einem heftigen Streit, der alsbald in maßloser Weise ausartete. Der-Väter schleuderte zu erst|

Kreditanstalt der Deutschen r. g. m. b. H., Prag . Durchführung aller - Geldgeschäfte. Verwaltungs-Kapital 800 Millionen Ai. Haftungs-Kapital 80 Millionen K6. 81 Rirderlaffungeu. spricht die Reife der spanischen Industrie nicht der Stärke des spanischen Bürgertums, Wohl aber der des spanischen Proletariats. 7. Weder die Diktatur Primo de Riveras war fascistisch, noch ist es das gegenwärtige Re­gime. Solcherlei Reaktionen haben sich wenn auch in anderen Formen nach allen bürgerlichen Revolutionen abgespielt. Der FascismuS wäre dann so alt wie die Reaktionen schlechthin sind und also nichts Neues. (Weitere Artikel folgen.) F. War.

einen Sestel und dann den Radioapparat gegen sei­nen Sohn, doch gelang eS der Mutter, die sich zwi­schen' die beiden warf, vorerst der Auseinander­setzung ein Ende zu machen, da der Sohn auf ihre flehentlichen Bitten dar Haus verließ und bei Nach­barn ein Nachtlager suchte, um dem tobenden Vater nicht in den Weg zu laufen» Eine böse Fügung führte gl«ichwohl die Kata­strophe herbei. Der Sohn hatte Hunger und be­nützte einen Augenblick, als sein' Vater sich auf den Hof begab, um sich sein Abendessen zu holen. Ge­rade als er sich eine Scheibe Brot abgeschnitten hatte, hörte er den Vater zurückkommen. Er steckte instinktiv alles ein, was er in den Händen hielt: ?ine Portion Hackfleisch, da- Stück Brot und das Brotmesser. Als der Vater nach, seiner Rückkehr den Angeklagten erblickte, kam es zu einem neuen schweren Auftritt. Der Sohn wollte sich zu­rückziehen, der Baier folgte ihm und die Ausein­andersetzung setzte sich im Hofe fort. Der Nachbar I i r o t k a wollte begütigend ein­greifen,«wer da war das Unheil schon unabwend­bar. Der angetrunkene Vater packte den Angeklag­ten im Genick und drückte ihm das Gesicht gegen den Drahtzaun, der den Hof einfriedet. Der An­geklagte wehrte sich und hieb blind um sich. In der Hand hielt er das Brotmesser. Der Nachbar Jirotka bekam dabei Stiche in den Schenkel ab, der Vater des Angeklagten aber wurde durch vier Stiche in Brust und Unterleib so schwer verletzt, daß er in kurzer Zeit verblutet«. Der Angeklagte machte den besten Eindruck und sämtliche Zeugen, einschließlich d«S verwundeten Nachbars , sagten entlastend aus. Entlastend lautete auch die Aussage der Mutter deS Angeklag­ten, die bestätigte, daß sie von ihrem Gatten, wenn ex betrunken war, regelmäßig mißhandelt wurde. Die Geschworenen verneinten die Schuldfra­gen auf Totschlag und leichte Körper­verletzung(am Nachbar Jirotta): mit elf bzw- zehn Stimmen. Der Vorsitzende OGR. No sek verkündete hierauf den F r e i s p»r u ch. rb.

Opfer des Attkohols De« Ortranfenen Datee in DvweHe eeftosHen

Seite Ballös Bon HermannWendel. Bor fünfzig Jahren, am 14. Feber 1885 starb, noch nicht dreiundfünfzigjährig, Jules Balles. Seine Beisetzung, zwei Tage später, wurde zur ersten gewaltigen Heerschau des revo- luttonären Paris seit Niederschlagung der Kom­mune. Zehntausende von Arbeitern schritten hin­ter entfalteten roten Fahnen im Zuge, Hundert­tausend säumten die Straßen zum Friedhof Ptzre Lachaise. Dem Sarge folgten, soweit sie noch un­ter den Lebenden weiften, fast alle Mitglieder der Kommune von 1871, darunter der Voltssänger I. B. Element, Jean Longuet , Schwie­gersohn von Marx, Eugine Pottier, der Dichter der.Internationale", Edouard V a i I» laut und Jules G u e s d e, auch Henri R o ch e- fort, Clemenceau sind viele andere. Aber daß eine Delegation in Paris wohnender deut­scher Sozialisten mit einem Riesenkranz aus roten Immortellen in den Reihen marschierte, erbitterte die Chauvinisten der»Patriotenliga"; da sie zu verschiedenen Malen den.deutschen" Kranz den Trägern mit Gewalt zu entreißen such­ten, setzte es in der Abwehr Hiebe und blutige Köpfe, und um ein Haar wäre die Straßenschlacht entbrannt. Dieses turbulente Begräbnis entsprach dem stürmischen Leben dessen, der am ll, Juni 1832 in Puy-en-Velay zur Welt kain, denn von den allerersten Jahren in der Wiege und am müt­terlichen Schürzenband abgesehen, war eS eine einzige Revolte. Nach Beendigung seiner Gymna­sialstudien nahm der ungebärdige Auvergnate zwar mehrfach einen Anlauf zu einer bürgerlichen Existenz; er war nacheinander Hilfslehrer in Caen . Gemeindesekretär in Paris , glänzend hono- rierter Wochenplauderer eines Boulevardblattes, aber er verstgnd«s nicht, sich einer Gesellschaft an­zupaffen, die er verachtete; er lag immer wieder

gleich auf der Straße, und der einzige Beruf, dem er zeitlebens treu blieb, war: Insurgent. Er rebel­lierte jederzeit. Er rebellierte als Kind gegen di« Zucht der Familie, als Schüler gegen den Stumpf­sinn des Unterrichts, als Student gegen den Staatsstreich Louis Bonapartes, als Republikaner gegen das Zweite Kaiserreich, ab» Bohemien gegen die satte Tugend und zahlungsfähige Moral, als Künstler gegen die erstarrte Ueberlieferung, als Kommunekämpfer gegen die.Ordnung" von B?r- sailles, als Flüchtling und Emigrant gegen Gott und die Welt. Diese Revolte war bei ihm indivi­duell bedingt, weil er unter der Tyrannei der El, tern, der Lehrer, der Spießer, der Reichen gelit­ten hatte, schqxfte sich sein Blick für die Leiden der anderen, und weil er von seinen dörflichen Alt­vordern her heißes, unverwäfferteS Bauernblut in den Adern hatte, lehnte er sich gegen die Despotie der Gesellschaft auf. Mit Recht durfte er unter sein Photo die bit­teren Verse schreiben: Jawohl, da» ist das Groll- und Gramgesicht, Das sie erschreckt: Salon und Stutzerwelt, Doch wenn das Boll die alten Ketten bricht, Vielleicht der Straße gut gefällt. Des armen Teufels Freund war ich seit je. Der Dunkel kennt und Frost und Hungerwachen. Wie war'» nur möglich, dieses mein Porttät Mit Sonnenlicht zu machen! Das Herz dessen, der In den langen Jahren des Kunstzigeunertums- das harte Brot des Elends hatte brechen müssen, hing leidenschaftlich an allen Unterdrückten, allen Getretenen, allen Zaungästen bei den prunkenden Gastmählern des Lebens, und von der Tiefe und Echtheit seiner Sehnsucht, es der Welt einmal mit Flintenschüssen zu sagen, wie miserabel gefügt sie sei, zeugte seine Teilnahme an d?r Kommuneregierung, derentwegen ihm die Kriegsgerichte ein Todesurteil in die Verbannung nach London nachsandten. Er nannte sich Sozialist, und war eS in seiner Art, als Freischärler, mit dem Widerwillen gegen daS Marschieren in Reih'

und Glied und ohne die Ahnung einer Theorie. »Er legte sich nicht Rechenschaft ab", sagte Ale­xandre Zövaös in seiner kleinen packenden Studie über VallöS,.daß der Staats gegen den er seine Donnerkeile schleuderte, die Politik und die Moral, die er mit seinen Schmähungen brandmarkte, ein Klaffenstaat, eine Kläffenpolitik und«ine Klassen­moral waren und das natürliche Ergebnis einer bestimmten Wirtschaftsordnung darstellten". Zur Not begeisterte er sich für Proudhon, den Ideolo­gen des rebellischen Kleinbürgertums, und für B l a n q u i, den ewigen Verschwörer und Put­schisten. Aber da derart sein Sozialismus als reine Temperamentssache einigermaßen in der Luft hing, konnte eS nicht au-Sbleiben, daß Valles sich manchmal an Paradoxen berauschte und in Pur­zelbäumen überschlug. Sein Haß gegen die Ueber­lieferung stürzte nicht nur die Götzen, sondern auch die Götter von ihren Altären. Er predigte Auf­lehnung.gegen jede Aristokratie, selbst gegen die des Genies". Homer? JnS Blindenheim mit ihm! Möllere? Ein Tepp! Robespierre und Saint-Just ? Hanswurste der Demokratie! Nieder die Toten! Und falls bei der kommenden Abrechnung der Ent­erbten mit den lachenden Erben alle Museen» alle Bibliotheken, alle Gymnasien in Flammen auf­loderten, war eS nicht weiter schade drum. Während seines Londoner Exils vermied Ballis mit Bedacht eine Begegnung mit Karl Marx , für dessen Wesen, Wert und Werk er kei­nen Nerv hatte; er nannte ihn.verdächtig" und gab sogar die törichte Meinung derer wieder, die den Schöpfer des.Kapital" für einen verkappten Alldeutschen hielten. Aber ebensoweit schoß Fried­ rich Engels mit der Ungerechtigkeit überS Ziel hinaus, wenn er ValläS einen.elenden literari­schen Phrasenmacher" schalt, der«aus Mangel an Talent unter die Aeußersten gegangen" sei,,»uni in Tendenz zu machen und damit seine schlechten Belletristereien an den Mann zu bringen". Denn trotz seiner Schrullen, die manchmal nur auf die Verblüffung des Pfahlbürgers abzielten, war Val­les ein ganzer Kerl, mit dem Herzen auf dem'

rechten Flech, und ein Meister des geschriebenen Worts. Sein Stil ist voll Wucht und Schmiß, voll Farbe und Bewegung, seine Darstellungsart na­turalistisch, ehe es einen Naturalismus, impressio­nistisch, ehe es einen Impressionismus gab.»D i e Refraktäre" heißt seine berühmteste Skiz­zensammlung; Refraktäre waren in den Kriegen des ersten Napoleoy die Bauernburschen, dje sich, um der Aushebung zu entgehn, in die Wälder schlugen; Valles schildert die Refraktäre der Groß­stadt, die Außenseiter der Gesellschaft, die Deklas­sierten der Bohöme, deren trotziges und verzwei­feltes Leben er selbst geführt hatte. Sein Unsterb­lichstes aber gab er in dem dreibändigen Entwick­lungsroman»Jacques BingtraS", der mit einer Eindringlichkeit Und Anschaulichkeit sondergleichen die Etappen seines eigenen Erdenganges in Wahr­heit und Dichtung festhält; der erste Band umfaßt das Martyrium der Kindheit und Jugend im Elternhaus, der zweite die Jahre auf dem Pariser Pflaster in Süß und Sauer, der dritte die Kom­mune,»die große Konföderation der Leiden", die er ersehnt und erwartet hatte»seü der ersten Grausamkeit des Vaters, seit der ersten Ohrfeige des Paukers, feit dem ersten Tage ohne Brot und der ersten Nacht ohne Obdach". Aber wo immer Valles sein« revoluttonäre Löwenmähne schüttelte, ob am Redaktionspult des »Cri du Peuple", ob. auf der Rednertribüne der Vplksversammlung in jeden der Sätze, die er sprach, in jede der Zeilen, die er schrieb, floß sein heißes, rotes Herzblut. Für das ganze Wirken des­sen, der keine Unterwerfung, keine Anpassung, kein Zugeständnis kannte, gilt das Bekenntnis seines Aufrufs zu den Kammerwahlen von 1860:»Ich war immer der ANwqlt der Armen, ich treten als der Kandidat der Arbeit auf, ich werde der Abge­ordnete des Elends sein". Damals stimmten von fast 40.000 Wählern noch nicht 800 für ihn, aber am Tage seiner Beisetzung stattete daS arbeitende, das revolutionäre Paris Jules Ballis seinen Dank dafür ab, daß er stets sonder Zagen»auf der richtigen Sette der Barrikade".gestanden hatte.